TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Natur der Technik 11

Eigentlich kannte ich sie gar nicht. Sie ging in die Parallelklasse. Damals, als wir zwei Kinder auf dem Schulhof waren, zwei Gesichter, die sich nur wenig für einander interessierten. Nach dem Abschluss der Schule sind diese beiden Gesichter 20 Jahre lang hinter ihrer jeweils eigenen Milchglasgrenze verschwunden. Bis sie irgendwann, bei einer alltäglichen Besorgung, wieder dicht vor einander aufklarten und an der Kasse einer Apotheke bemerkten, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegnen. Seit dem wir in der gleichen Stadt wohnen, treffen wir uns also wieder, gelegentlich, und reden.
Ein Mensch, den ich mag. Sie erscheint auf den ersten Blick nicht übermäßig herzlich, aber wenn sie lacht, wächst ein kleiner Garten in ihrem Gesicht, mit Hasen, die darin herumhüpfen.
Sie arbeitet als Neurologin in leitender Position bei einer Einrichtung zur Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei gibt sie durchaus nicht den Typ evangelisches Mädchen mit Wonneaugen und Helfersyndrom. Sie hat selbst zwei Kinder von zwei Männern und neigt so viel ich weiß auch sonst nicht zur Traurigkeit. Wenn wir uns auf unsere besondere Weise treffen, denke ich immer daran, dass ihre Patienten, ihre Schützlinge, (sie nennt sie ABC-Schützen) besonders gut bei Ihr aufgehoben sein müssten.
Man merkt ihr den Beruf, den sie ausübt, überhaupt nicht an.
Das habe ich Ihr auch einmal gesagt, weil ich ihr ein Kompliment machen wollte.
Was ich denn damit meinte?
Ich sagte, na ja, man wisse doch, es sei doch ein ganz bestimmter Menschenschlag, den man in den sozialen Berufen fände, sie entspräche aber erstaunlicherweise überhaupt nicht diesem Bild, sie sei weder der Typ Krankenschwester noch die verständnisvolle Ordensmutti oder Sterbebegleiterin – also dieser Typ Frau, deren Munterkeit immer so ein bisschen aus der Sprinkleranlage platzt, immer ein Tic zu lebensfroh, immer ein Mü zu oft lachend und immer ein bisschen zu stark in den Augen glänzend, wenn sie davon reden, wie schön doch das Leben sei u.s.w., und der einen mit dieser Tapferkeit immer ein bisschen auf die Nerven fällt, und den man sich deshalb besser für das Ende aufhebt. Ich sagte, sie hätte schließlich seit Jahren täglich mit Leuten Umgang, die nicht ganz normal seien, oder deren Aktionsradius, vorsichtig ausgedrückt, relativ begrenzt oder doch so ganz anders geartet sei, aber ich hätte den Eindruck, dass es so gar nicht auf sie abfärbte.
Da ließ sie wieder ihre Hasen hüpfen. Was ich mir denn unter “abfärben” und “nicht normal” vorstellen würde?
Ich sagte, ich stelle mir darunter vor, dass ein bestimmter Umgang oder ein längerer Aufenthalt in einer speziellen Umgebung Einfluss auf einen Menschen hätte, ihn eben veränderte. So wie zum Beispiel ein Astronaut nach längerem Aufenthalt in der Schwerelosigkeit nicht mehr gehen könne. Man müsse ihn zunächst auf eine Trage legen, Abbau von Muskelmasse u.s.w.
Sie fragte mich, ob ich denn glaube, dass Ihr Umgang mit geistig behinderten Menschen mit einem Aufenthalt in der Schwerelosigkeit vergleichbar sei. Ich antwortete, dass ich nur ein sehr allgemeines Bild zum Thema abfärben bringen wollte.
Sie schwieg eine Weile und sagte dann, dass mein Bild vielleicht nicht ganz dumm sei, aber ich hätte es sozusagen auf den Kopf gestellt. Und deshalb sei es doch ziemlich falsch. Denn wenn die Schwerelosigkeit auf einen Astronauten abfärbte, dann müsse er ja nach seinem Aufenthalt selbst als schwerelos gelten oder wenigstens ein bisschen leichter sein. Aber wie ich ja wüsste, verhielte es sich genau umgekehrt. Wenn er auf der Erde gelandet sei, käme er sich selbst enorm schwer vor. Und tatsächlich könne er auch zunächst nicht laufen. Sie würde deshalb sagen, um wenigstens mein Bild zu retten, der Aufenthalt im Orbit hat ihn verändert, aber er hat nicht auf ihn abgefärbt. Zudem glaube sie, dass bei mir ein gewisser Klärungsbedarf bestünde in Hinblick auf gewisse Vorstellungen von “normal” oder “unnormal”. Das würde sie interessieren und sei zu besprechen.
(Hier hüpften ihre Hasen wieder.)
Ich mag diese Unterhaltungen. Und hier habe ich wieder mal Schwein gehabt. Wie leicht hätte sie mein verrutschtes Kompliment mir um die Ohren hauen können. Es hätte sie nur ein Hasen gekostet, mir nachzuweisen, wie beschränkt ich eigentlich selber sein müsse, so etwas zu sagen und dann auch noch als Kompliment zu bringen. Sie hätte mich demontieren können. Wenn ich heute so darüber nachdenke: Umgang, nicht normal. behindert abfärben… Sie hat es aber nicht getan. Sie hat mich nicht auseinandergenommen, sondern ein Gespräch entwickelt.
Ich habe vergessen zu erwähnen, dass unsere Unterhaltungen immer in ihrem Auto stattfinden. Das gehört auch zu den Besonderheiten unserer Verbindung. Ich bleibe dabei, dass sie bei ihrem Beruf so ganz normal wirkt, macht sie für mich zu einer außergewöhnlichen Frau. Wer sie nicht kennt, schätzt sie leichthin als einfach robuste Person ein. Abteilungsleiterin eines Maschinenbaukonzerns. Oder hält sie vielleicht für so eine Art weiblichen Geländewagen mit Allradgetriebe. Wer sie genauer kennt, so wie ich, empfindet mehr eine überraschend zarte Fahrerin, die ein großes Gerät steuert, das ein bisschen mehr als nur ihre eigenen Angelegenheiten transportiert.
In diesem buchstäblichen Sinne treffe ich sie tatsächlich auch immer in Ihrem Auto. (ein bescheidener kleiner Toyota. ) Es ergibt sich, weil wir beide hier in der Stadt auf beweglichen Feldern leben, die sich immer mal wieder überschneiden, und uns regelmäßig zusammenführen. Immer zufällig aber doch oft genug, so dass wir uns darauf verlassen können und uns nicht verabreden brauchen. Ich als Fußgänger. Sie als Autofahrerin. Dann hupt es. (Ich kenne dass Geräusch) Ich schaue mich um, sie zupft zweimal die Scheinwerfer und fährt dann irgendwo an den Rand, dorthin, wo man nicht parken darf. Aber wenigstens halten. Leicht angekippt, zwei Räder auf dem Bordstein, den Motor abgestellt, winkt sie mir zu. Ich komme dann zu ihr rüber, mache die Beifahrertür zu ihrem Leben auf, setze mich dazu, wir schauen gemeinsam geradeaus durch die Windschutzscheibe und reden. Wir sagen immer “für eine Zigarettenlänge”, obwohl wir beide nicht rauchen. Ein Ritual. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals direkt verabredet hätten, in irgendeinem Kaffee oder so.
Ich höre Ihr gern zu, obwohl ich sonst kein guter Zuhörer bin. Aber vielleicht kennt sie auch einfach meinen Schalter und weiß, wie sie mich neugierig macht. Aufmerksam hält.
Klärungsbedarf also. Was ich mir denn unter “nicht normal”. oder “anders geartet” oder “begrenztem Aktionsradius” vorstellte? Ich glaube, einen Braten zu riechen und entscheide mich ausnahmsweise für ein frontales Manöver. Ich weiß, dass Claudia – so heißt sie übrigens – eine ornamentale Gesprächsführung bevorzugt und beherrscht, sie ist klüger als ich. Sie hält sich ungern mit gedanklichem Kleinkram auf. Das würde sie intellektuell unterfordern. Deshalb glaube ich auch zu wissen, dass sie es mag, wenn man ihr so richtig was zumutet. Dann läuft sie zur Hochform auf und verwandelt sich in eine Akrobatin. Deshalb sage ich: Also Claudia, ich denke, wir beide wissen, dass es Menschen gibt, die eben so da sind, mit oder ohne Familie, gehen ihrer Arbeit nach oder sind arbeitslos, haben Liebeskummer oder auch nicht, sind manchmal glücklich oder auch nicht, fühlen sich zufrieden oder auch nicht – verfolgen Ziele, Pläne oder auch nicht – kurz: sie finden sich innerhalb bestimmter Freiheitsgrade, die sie mehr oder weniger selbst bestimmen, bei allen Abstufungen, die man sicher auch da machen kann, was Zufall, Schicksal, Umfeld, Prägung geistige oder körperlich Ausstattung und so weiter mit sich bringen. Diese Menschen bezeichne ich als normal. Und dann gibt es Menschen, die sich ihr Leben lang nicht selbst den Arsch abwischen können, Menschen, die auf Grund eines Sauerstoffmangels bei der Geburt einfach nur daliegen und sabbern, oder Menschen, die irgendwann vom Wickeltisch gefallen sind und seit dem vielleicht mit einer Fliegerkappe herumlaufen und komische Sachen sagen, ich meine, dir muss ich das nun wirklich nicht alles aufzählen…diese Menschen stehen außerhalb von gewissen Freiheitsgraden und ich würde sie deshalb als nicht normal oder wenigstens als sehr anders geartet bezeichnen. Soviel zu meiner Unterscheidung. Ganz ausdrücklich sei das keine Wertung, nur eine Unterscheidung. Sie könne statt normal oder unnormal auch orange oder ocker einsetzen.
Claudia sagt, während sie kurz den Knopf ihrer Wischeranlage gedrückt hält und mit einem hohlen Summen das Wasser durch die kleine Düse gegen die Frontscheibe spritzt:
„Du hast Recht. Das Leben ist bunt.“
Ich warte, aber da kommt nichts mehr von ihr. Und nun bin ich doch ein wenig verunsichert. Ich hatte mir ja einiges zusammengelegt, um sie herauszufordern. Also muss ich offenbar noch schärfere Geschütze auffahren. Ich sage: „Täusche ich mich oder habe ich da auch Recht – ich glaube, dass man vor 15 oder 20 Jahren mehr Chromosomenfehler auf der Straße gesehen hat, du weißt: Mongoloide. Ich habe das Gefühl, das hat irgendwie abgenommen.“
Claudia sagt wieder: „Du hast Recht.“ Und sie sagt weiter: „Jeder weiß: Es werden bei uns jetzt weniger Kinder geboren aber es werden überproportional noch weniger Behinderte zur Welt gebracht, da die Zahl der Voruntersuchungen stark zugenommen hat. Die meißten Frauen entscheiden sich eher für eine Abtreibung als für ein behindertes Kind.“
Claudia hat mir nun zum zweiten Mal Recht gegeben und mir wird langsam mulmig. Sie hat jetzt sogar zum zweiten Mal das Wort „behindert“ benutzt. Sie sagt weiter: „Vor meinem zweiten Kind habe ich es auch machen lassen, falls Dir diese Frage gerade durch den Kopf ging.“
Das bewundere ich an ihr. Sie kann über sich selbst sprechen wie eine Wissenschaftlerin. Aber sie wirkt dabei nie kalt oder distanziert. Sie bleibt immer mit einem allgemeinen Interesse verbunden. Wenn sie etwas sagt, spricht sie nie über ein Thema, sondern sie spricht aus einem Thema heraus, in dem sie sich selbst mit einrechnet. Ihre Klarheit. Ja, ich könnte sie mir wirklich auch als Astronautin vorstellen, wie sie im blauen Overroll mit schwebenden Haaren durch unaufgeräumte Segmente gleitet, in eine wacklige Kamera lächelt und gleich anschließend auf einem Monitor ihren eigenen Puls überprüft.
Draußen hat es leicht zu regnen begonnen. Ich höre feine Nadeln auf dem Autodach. Die Menschen beginnen schneller zu gehen. Ich möchte das Gespräch auf ein helleres Gebiet lenken, weiß aber nicht wie. Mir fällt ein gemeinsamer Schulkammerad ein, der 3 Jahre gehänselt wurde, weil er ein großes Feuermal auf dem Arm trug, das exakt wie ein männliches Geschlechtsteil aussah. Eines Tages kam er mit einem Gibsarm in den Unterricht. Nach vier Wochen war der Gips weg und das Feuermal auch. Nach einem halben Jahr hat er die Schule gewechselt. Hänseln ist ein sehr weiches Wort. Ich könnte sie fragen, ob sie sich vielleicht an ihn erinnert. Aber stattdessen sage ich:
„Würdest du mir nun auch darin zustimmen, dass wir im Moment in so einer Art Zeitintervall der Normalisierung leben? In einer Zone des Abgleichs, in der Unregelmäßigkeiten zu Gunsten einer großen Gleichmäßigkeit oder Regelmäßigkeit verschwinden?“
Nein, da könne sie mir nicht zustimmen, es wäre aber möglich, dass gewisse Momente, Besonderheiten, Regungen oder Merkmale sich von uns ablösen, und außerhalb von uns selbst in gleicher Intensität in anderen Zuständen kristallisieren, wo sie eine andere Form oder Farbe annehmen.
Claudia kann listig sein. Ich kenne das schon. Dass sie mir vorhin so einfach Recht gab, macht mich plötzlich misstrauisch. Unser Gespräch kommt mir jetzt wie ein Schachspiel vor.
Sie kurbelt das Fenster herunter, um frische Luft ins Auto zu lassen. Dann greift sie nach hinten, neben den Kindersitz in eine Tasche und holt etwas hervor, das in dem schlecht definierten Licht des Innenraums wie ein Stück steifer blauer Samt aussieht. Sie hält es in die Nähe des Fensters auf ihrer Seite hoch und sagt: „Guck mal.“
Ich sehe: ein Stück irgendwie steifer blauer Samt. Ich sage: „Sieht aus wie ein Stück steifer blauer Samt. Oder Velour.“
Claudia die Astronautin. Die Materialforscherin.
Sie sagt: „Du musst es Dir genauer ansehen. Nimm es in die Hand.“ –
Sie reicht es mir herüber. Ich nehme es in die Hand. Und als meine Finger es zum ersten Mal berühren, erschrecke ich. Denn ich bemerke nun, dass es ein sehr glattes Material ist, eine Art Papier. Aber dass es sich so glatt anfühlt, ist beinahe ein haptischer Schock, weil es den optischen Samt-Eindruck so aprupt korriguiert. Das Gehirn wehrt sich gegen diesen Wiederspruch.
Kein Samt, sondern eine Art Papier mit einer glatten, beinahe gläsernen Oberfläche, wie Folie.
„Sieh es Dir genau an – sagt sie. Du musst es näher betrachten.” Tatsächlich sehe ich es jetzt: Was aus mittlerer Distanz wie eine samtige Struktur des Materials erschien und die Wahrnehmung in eine eindeutige Richtung lenkte, erweist sich aus 10 cm Nähe als beinahe mikrofeines Raster. Kräuselungen aus abertausenden winzigsten Linien in blassem Graublau. Feiner noch als auf einer Banknote. Regelmäßig aber doch nie ganz symmetrisch.
Ich habe so etwas noch nie gesehen. „Was ist das?“ – frage ich.
„Das ist ein Mensch.“ – sagt Claudia.
Immer noch verblüfft über die merkwürdige Doppelexistenz dieses Materials, vom Augenschein her Samt, in der Berührung eher glasig, sage ich – „Das ist doch…. was meinst du mit Mensch?“
„Genau genommen ist es ein Stück von einem Menschen – antwortet sie. Noch genauer: Es sind 24 Tage. Felix. Er ist Autist. Er wohnt bei uns in der Gemeinschaft. Er hat es gemacht. Du weißt, was ein Autist ist?“
Ich sage, – „ja ich denke schon, hab davon gehört,“ – und habe das Gefühl, dass der Stoff in meiner Hand sich erwärmt. Ich spüre plötzlich das Bedürfnis daran zu riechen, aber ich lasse es, weil ich Angst davor habe.
Claudia erzählt weiter: „Was Du da in der Hand hältst, sind 24 Tage Felix. Er lebt bei uns seit 5 Jahren. Voll betreut. Rund um die Uhr. Vor 2 Jahren hat er damit begonnen. Er macht es seit dem Tag für Tag. Stunde um Stunde. Minute um Minute. Linie für Linie. Strich um Strich. Faser für Faser. Sein sehr feines Leben. Hyperfein. Ich denke manchmal, er hat vor 2 Jahren damit begonnen, zu existieren.
„Ich weiß immer noch nicht, ob ich das verstehe, Claudia, du meinst…“
„Er benutzt eine starke Lupe und eine Feder, die vorn in einer Mikrofaser ausläuft.“ Das Papier habe ich ihm besorgt, und das ist das Ergebnis.“
„Soll das heißen, er erzeugt diese Struktur, dieses…Material?“
„Nein, er erzeugt es nicht. Er ist das Muster. Er lebt diese Struktur. Jeden Tag. Stunde um Stunde.
Während ich mir nun diese Folie, dieses Stück Samt, dieses gläserne Papier, seine Strukturen, anschaue, sagt sie noch:
“Motorisch ist es eigentlich unmöglich. Er arbeitet sehr langsam. 2 Quadratzentimeter sind ungefähr 1 Tag.“
„Was macht er noch?“ – frage ich.
„Essen. Schlafen. Klo. Manchmal müssen wir ihn loseisen und mit ihm spazieren gehen. Damit er bewegt wird. Das ist nicht einfach.
Eine Qälerei. Er möchte nicht spazieren. Er möchte das hier machen. Es hilft ihm. Und uns. Er hat weniger autoagressive Momente, er isst besser, er schläft ruhiger. Aber wenn er dieses Papier, diesen Samt macht, ist er… „
„… bei sich?“
„Nein – er ist dort. In dem Material. Es nimmt ihn auf.“
Das Stück Felix in meiner Hand beginnt mir schwer zu werden. Zugleich vermittelt es ein Gefühl, als hielte ich mich an ihm fest. Ließe ich es jetzt los, bliebe es unbeweglich an seiner Stelle, während ich selbst über dem Beifahrersitz schwebte, als säße ich in einem nach unten sausenden Fahrstuhl. Ein flaues Gefühl in meinem Bauch.
Ich frage: „Ist er dort, also hier – glücklich?“
„Du kannst es so nennen. Vielleicht hälst Du 24 Tage Glück in der Hand. Vielleicht gibt es aber auch genauso viele Quadratzentimeter Traurigkeit oder Langeweile. Aber du weißt nicht wo.“
Nach einer kurzen Pause sagt sie dann: „Felix wird Minute um Minute zu einem Stück blauen Samt.“ Ich höre jetzt ein wenig Stolz in ihrer Stimme, und sehe wie dieses Papier, diese 24 Tage Glück, diese tausenden von Mikrobewegungen, diese unheimlich konzentrierte Lebenszeitmotorik in meiner Hand zu zittern beginnt… Ich frage:
„Ist dieses Material, dieses Leben – kompliziert oder einfach?“
Claudia korrigiert mich: „Du stellst die falschen Fragen.“
Es verwandelt sich. Es verändert seinen Stoff.“
An dieser Stelle unterbricht mich mein Produzent.
„Hör mal – das ist ganz nett. Wirklich ungewöhnlich. Und ich glaube, für eine Episode ganz geeignet. Berührend. Das heben wir uns auf. Es ist sehr menschlich. Poetisch. — Felix wird ein Stück hellblauer Samt – das ist sogar raffiniert, denn es hat einen ganz realistischen Kick ins Unwahrscheinliche. Beinahe phantastische. Und könnte genau deshalb stimmen. Und so wie du es vorgelesen hast, klingt es sogar glaubwürdig. Ich weiß allerdings nicht, ob diese Sache so spannend für eine abendfüllende Episode ist. Scheint mir eher ein Stoff für eine Shortstory. Soll der Vorlauf aus dem Off eingesprochen werden, während die Kamera so ein bißchen durch die Stadt flaniert? Das mit dem Papier könnte man arrangieren in der Postproduktion, keine Frage, aber bis jetzt sehe ich nur einen Mann und eine Frau, die im Auto sitzen und sich unterhalten. Und ich sage Dir noch etwas: Du musst aufpassen, dass diese Freundin jetzt nicht unsymphatisch wird. Sie befindet sich hart an einer Grenze, wo sie eventuell beginnt, darüber nachzudenken, eine Ausstellung zu organisieren oder schlimmer noch, diese Sachen zu verkaufen. Ich meine, sie ist ein kluges Kerlchen sozusagen, und das mit dem Spezialpapier und der Feder war ihre Idee, oder? Nein, ich unterstelle Ihr wirklich gar nichts. Sie hat einen tollen Charakter. Und genauso wie du würde ich sie mögen. Und mir gefällt auch ihr Lachen, ihre Energie, und ihren kleinen Toyota. Aber ich denke, wir sollten da jetzt aufpassen…(Mein Produzent wurde nun sehr erregt) Und weil wir gerade dabei sind, habe ich jetzt große Lust, ehrlich zu dir zu sein. Warum soll ich es Dir nicht sagen: Mir gefällt diese Geschichte eigentlich überhaupt nicht, Sie gehört zu dieser Sorte von Geschichten…also von Leuten, die glauben, jede aufgeraute Niesche der Realität mit ihrem bißchen Phantasie hochstopfen zu müssen oder – schlimmer noch – mit allem, was irgendwie an ihrem kulinarischen Menschheitsgaumen kitzelt, ihren poetisierenden Ablasshandel zu treiben. Das ist eine schlechte Angewohnheit, wenn man seinen Originalitätstsschluckauf nicht in den Griff bekommt. Es mag sein, dass dieser Felix irgendwo lebt, oder diese Einrichtung, diese Frau, dieses Gespräch, dieser Nachmittag, dieses Auto und dieses Stück Samt, das eigentlich Papier bleibt. Aber genau deshalb sage ich Dir jetzt: Lass Ihnen dieses Leben! Nimm es ihnen nicht ab! Nimm es Ihnen nicht ab mit deiner schmalen Originalität, mit deinem Hang zum Geschichtchen, um es dann in kleiner Münze unter all die Fussgänger zu streuen, damit sie auf ihrer wertvollen Durchschnittlichkeit nicht ausrutschen…. Ich sage wertvoll und meine es überhaupt nicht abwertend! Plötzlich schrie er mich an: „WAS WEISST DU ÜBER EINEN AUTISTEN? WAS WEISST DU ÜBER EIN LEBEN, DAS NICHT DEINES IST?
So aufgebracht hatte ich meinen Produzenten noch nie erlebt. Und vor allem: So kannte ich ihn gar nicht. Seine letzten Fragen wären absolut tödlich für sein Geschäft. Geradezu unlogisch. Schließlich leben wir von Geschichten über Menschen. Im Übrigen müsste dann jede Art der Phantasie und der Erfindung untersagt sein. Tasächlich war der Plot schon weiter gediehen. Und tatsächlich, mein Produzent hatte eine gute Nase, sollte er sich ähnlich entwickeln, wie er vermutete. Die Frau sollte sich vornehmen, die Öffentlichkeit auf dieses Stück Samt zu lenken, das Stück 24 Tage Felix, das eigentlich Papier war. Und ich wollte sie auch eine Ausstellung organisieren lassen, jedoch nicht um irgendeiner eitlen Populariät willen, sondern ganz einfach, um Öffentlichkeit auf das gesamte Projekt zu lenken, auf die Einrichtung und schließlich ganz allgemein auf die Art und Weise des Umgangs der Gesellschaft mit behinderten Menschen. Auch wegen der allerorts um sich greifenden Geldknappheit, dem latent wachsendem Effizienzdenken im zwischenmenschlichen Bereich.
Aber schließlich und zu guter Letzt hatte auch ich geglaubt, dass diese Geschichte, obschon relativ komplex, so zu erzählen war, dass sie einerseits ein 20 Uhr 15 – Publikum erreichte und andererseits eine wirkliche Problematik aufblendete. Zudem hatte die Story das Zeug dazu, ganz nebenbei etwas über unser aller Leben zu berichten. 24 Tage Glück in einem Stück Samt, dass eigentlich Papier war. Da gab es nun wirklich Schlimmeres. Dabei wollte ich den Stoff sehr humorvoll entfalten, also auf gar keinen Fall mit diesem Betroffenheitsgestus, der sich bei solchen Themen meistens einschleicht, sondern mit Witz, mit Leichtigkeit…
Mein Produzent, der sich während seiner letzten sehr erregten Worte aus seinem Echtlederkandinsky erhoben hatte, stand jetzt mit dem Gesicht zum Fenster und murmelte, als hätte er meine letzten Gedanken gelesen:
„Die große Witzigkeit…“- Er brachte den Satz nicht zu Ende. „Wie bitte?“– fragte ich. Dann, nach dem er ungefähr 10 Sekunden geschwiegen hatte, sagte er: „Es ist vielleicht doch ganz gut. Doch – es berührt. Es ist sehr menschlich. Wir nehmen Iris Berben, lassen Felix in Rot machen, dann haben wir Weihnachts-Samt und werfen es nächsten Dezember ins Programm. Erzähl mir, wie die Geschichte weitergeht.“

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