TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Teil 3. Entropie – Kreativpotential der Natur. Interview mit Prof. T.S.W. Salomon

Zum 1. Teil

Zum 2. Teil

TSWS:
Bevor wir in den Teil III unseres GESPRÄCHS einsteigen, möchte ich kurz einige Anmerkungen machen, die Sie, meinen Gesprächspartner TIM BOSON und seine Rolle betreffen….

Tim Boson:
Oh je, was kommt jetzt?

TSWS:
Tim Boson ist ein Glücksfall für mich und dieses Gespräch; er ist kein Raumfahrtspezialist, wodurch ein Expertentalk von vorneherein verhindert, fachchinesisch vermieden wird. Er war es, der die Idee hatte, für meine »NASA-STORY« die Form eines Zwiegesprächs zu wählen. Da es sich dabei um eine sehr persönliche Geschichte handelt, die zu meiner beruflichen Biographie einen beachtlichen Beitrag leistet, sind unserer beider Rollen von vorneherein zwar unterschiedlich angelegt und naturgemäß von unterschiedlichem Gewicht, aber total aufeinander angewiesen
Mein Part im Gespräch ist strikt an meiner Story orientiert und durch sie begrenzt; er verlangt Disziplin beim Inhalt und bei der Textgestaltung, konzise Darstellung der Fakten, Theorien und Ereignisse. Tim Bosons Part ist m. E. viel schwieriger. Er muss zuhören und durch seine spontanen Reaktionen dem Fluss & der Dynamik meiner Story Lebendigkeit & Spannung verleihen können. Ebenso wie Tim Boson bin ich gewissermaßen an die »Partitur der Story« gebunden und ´Dirigent`‚ Tim Boson aber Intendant, Produzent, Dramaturg und Souffleur in einem. Das erfordert spezielle organisatorische Talente, unverkrampfte Neugierde, vor allem breit gestreute Interessen, kontrollierte Phantasie, eine stets wache Intelligenz. Nicht zu vergessen: ein verlässliches Bauchgefühl für die jegliche Emotion beeinflussende sprachmelodische Agogik meiner Geschichte!

Tim Boson:
Genau das wollte ich aber jetzt hören, noch mal Glück gehabt, TSWS!

TSWS:
Der ganz persönliche Bezug meiner Story ist für Tim Boson zunächst einmal zweitrangig, muss es wohl sein …

Tim Boson:
Hallo, TSWS, das stimmt für die Systematik des Gesprächs, aber vom Inhalt her nicht so ganz…

TSWS:
… da für ihn die wahren gesellschaftlichen Aspekte der Story – ungeachtet aller Verpflichtungen zur Disziplin – ausschlaggebend sein sollten. Denn der gewaltige Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes auf die Art & Weise der bemannten Raumfahrt, abhängig von der aktuellen politischen & wirtschaftlichen Großwetterlage, erscheint zwar dominierend, Aber eigentlich ist er es nicht! Bemannte Raumfahrt ist nämlich eine uralte Utopie vornehmlich der altgriechischen Geistesgeschichte. Sie geht bis auf die Mythen Hesiods zurück und die beiden antiken Tragiker Euripides und Ovid, konkret aber auf Parmenides, den vielleicht Bedeutendsten aller Vorsokratiker.

TSWS:

Ja. Diese kosmische Katastrophe verweist schon früh auf den festen Kern der Utopie, nämlich letztlich die Rettung der Menschheit nur durch die Flucht aus eben unserem Sonnensystem in der fernen, fernen Zukunft.

TSWS:

Ihre Biografie ´durchströmt` (so nennen Sie es ja) Tätigkeiten – als Techniker, Theaterdramaturg, Werbe- und Wirtschaftskommunikator, Autor, Kunstkritiker, Naturphilosoph, Informations-forscher, System-Analytiker…

Tim Boson:

… allerdings haben meine Interessen bisher eine Art Borderline-Forschung (kein Syndrom) verfolgt. Die Welt direkt von der Klinge (Schneide) der Blut-Hirn-Schranke aus zu beforschen ist nicht immer ganz unkompliziert, weil Forschung sich normalerweise (vielleicht auch notwendigerweise) immer für eine Spezialität entscheiden muss. Aber auch Ihr, TSWS, sehr sehr breit gefächertes Spektrum (Nichtgleichgewichtsthermodynamik, Mathematik, Raumfahrt, Schostakowitsch, Slevoigt, David Hume, John Maynard Keynes, Giuseppe Verdi, John von Neumann, Wagner, Bosch, William Turner, Themistokles, Schrödinger etc etc etc…) zeigt ja, dass unsere Kultur der Separierungen und Spezialisierungen nicht unbedingt für die Zukunft der Weisheit letzter Schluss zu sein hat. (Falls aber jemand Ansprechbares mitliest – ich suche immernoch nach einem ernstzunehmendem Forschungs-Stipendium oder ein Sponsoring zur permeablen, also philosphisch-sprachlich-kosmologisch ausgelegten interwissenschaftlichen Informations-Forschung mit Schwerpunkt Muster-Erkennung, Meta-Kognition, Inter-Physik und lingualen Prozess-Formodulation: (tiboso@gmx.de)
Aber vor allem bin ich neugierig. Und wenn ich etwas ganz genau wissen will, dann frage ich. Am liebsten Leute, die sich wirklich gut auskennen und gehe ihnen so lange als Säge auf die Nerven, bis sie sich zu einem Gespräch bereit erklären….

TSWS:

Na, so ganz stimmt das nicht: Schließlich haben Sie mich zu unserem Gespräch relativ höflich überredet, und dennoch spielen Sie für meinen Geschmack zu häufig die ‚Nervensäge’. Ich glaube sogar, die Ursache dafür zu ahnen. Das Thema unseres Gesprächs scheint nämlich auf wissenschaftlich-technische Spitzenleistungen in den USA, industrielle Kreativität und Effizienz und machtpolitischen Einfluss sowie deren gegenseitige Interdependenzen fokussiert. Klar, es handelt sich dabei auch um den Kern meiner Story. Und von da her versuche ich ja auch, darüber nicht nur die Experten in bemannter Raumfahrt und den Grundlagen der Thermodynamik, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit anzusprechen und zu informieren. Aber dann sollte es den Leser nicht wundern, dass Sie, Tim Boson, in unserem ständigen privaten Gedankenaustausch mit Fug & Recht auf wichtige Vorgänger Wernher von Brauns verweisen.

Tim Boson:

Und das will ich auch hier tun: So zunächst auf den russischen Lehrer Konstantin E. Ziolkowski (*1857 – 1935), dem Schöpfer der Raketengrundgleichung (1903), der auch erstmals die Idee eines Flüssigkeitsraketentriebwerk publizierte. Nicht zu vergessen den Lehrer von Brauns, den legendären Hermann J. Oberth (*1894 – †1989). Er war es, der den mathematischen Weg wies, wie wir Menschen technisch die Schwerkraft überwinden und damit die Vision mit Initiative und Tatkraft verbinden können, um sukzessive z. B. von riesigen autonomen Raumstationen auf Erdumlaufbahnen aus ins außerplanetarische Weltall aufzubrechen. Auch er hat Physik und(!) Medizin studiert.
Ich möchte aber noch kurz etwas sagen: Mir wurde im Laufe unseres Gesprächs auch immer klarer, dass „Heimat“ – zum Beispiel unsere Erde, sich möglicherweise erst dann selbst-gelingend im Sinne von Menschheitlichkeit herstellen kann, wenn diese Heimat durch ein externalisiertes Ziel sich formuliert oder reflektiert, das außerhalb der Heimat liegt. Eigentlich würde man so etwas Utopie nennen, aber hier für mich würde ich es eher als einen tastenden, iterierenden, gewussten, aber unvermeidlichen, sich annähernden WEG bezeichnen. Wenn Heimat sich also als Hafen begreift, aus dem man auslaufen kann – und nicht als Gefängnis. (Das Geheimnis von „gelingender Heimat“ scheint mir langfristig nur in einem solchen externalisierenden Reflexionsvorgang zur Verläss-lichkeit. zu liegen. Oder anders gesagt: Nur eine Heimat, die sich auch als verlassensfähige (zu – ver-lässige) Heimat reflektiert, ist erst vollständig formuliert und verstanden. Denn für Reisende, auch wenn sie nicht vorhaben zurückzukehren, bleibt es wichtig, dass sie immer wissen, dass mit der Heimat “alles in Ordnung” ist. So etwas nimmt auch die Zurückbleibenden in der Heimat in die Pflicht. (Das mag jetzt sophisticated klingen, aber als ehemaliger DDR-Bewohner weiß ich zum Beispiel, dass viele Menschen ihre “DDR-Heimat” einfach nicht mochten, weil sie darin eingesperrt wurden. Das hat schließlich auch mit zum Untergang, zur inneren Verwahrlosung und zum moralischen wie ökonomischen Bankrott beigetragen. Eine Heimat ohne Hafen ist keine gute Heimat) Gut, das war nur ein kurzer Einschub meinerseits, ich teile Ihre Bedenken, unser eigentliches Gesprächsthema mit allzu ausschweifenden Spekulationen über die ferne Zukunft zu sehr aus dem Blick zu verlieren.
Aber ich darf doch kurz einmal erwähnen, dass auch Sie Träger der Herrmann Oberth-Medailie in Gold sind – eine Auszeichnung, die nur wenige Luft-und Raumfahrt-Verdiente erhalten haben. (Eugen Sänger, Ernst Messerschmidt, der Astronaut Reinhard Furrer..) Die Urkunde dazu weist hin auf ihr Nasa-Engagement betr. ihre „fruchtbare Tätigkeit im Bereich grundlegender thermodynamischer Forschung. Hierzu ist die so genannte ‚Münchner Methode’ zur Berechnung von Raketenmotoren vom Typ der Space-Shuttle Main Engines ebenso zu rechnen wie die ‚Alternative Mathematische Theorie von Nichtgleichgewichtsphänomenen’.“

TSWS:

Ich gebe gern zu: Auf diese Medaillie bin ich sehr stolz.
Wie machen wir jetzt weiter?
Ich für meinen Teil könnte mir vorstellen, diesen Einschub beim Übergang von Teil II zu Teil III unseres Gesprächs mit einigen Aperçus zur Idee der bemannten Raumfahrt zu ergänzen, wie sie aus der nahen Vergangenheit in Literatur und Film in prägender Erinnerung geblieben sind.

Tim Boson:

Zumal in diesem Kontext auch an einige Frauen namentlich erinnert werden sollte, so die erste Astronautin der Raumfahrtgeschichte, Friede Velten, die – nach einer Science-Fiction-Erzählung von Thea von Harbou – 1928 auf dem Mond landete. Harbous damaliger Ehemann Fritz Lang hat ihr 1929 in einem der berühmtesten Stummfilme überhaupt – „Frau im Mond“ – ein unvergessenes Denkmal gesetzt.
Dieser historische Hinweis erscheint angebracht, um sicherzustellen, dass Ihre Story einen Anteil in korrekter Proportion innerhalb der kulturellen Bedeutung der ganzen Geschichte bemannter Raumfahrt behält ‒ von den Herrschaftszeiten des Zeus und seiner Sippschaft über frühe literarische Versuche sowie die wichtigen Manifestationen der Filmkunst. Schlussendlich nicht zu vergessen die vergangenen und geplanten Missionen zum Mond bzw. Mars bis zum Wunschdenken, wie sie in besagter Vision zum Ausdruck kommt.

Vielleicht sogar raumfahrende Katzen. (Miez! Miez! Mietz!) Hier der Kater “Johnethy” aus dem Angst-Klassiker “Alien” (1979) (Muss ja nicht jede Reise so einen beschwerlichen Verlauf nehmen..wie in diesem Film. Es gibt mehr Gutes da draussen.)
*

Wie nahe solche Phantasmagorien den heutigen Vorstellungen sind, belegen Meldungen der Süddeutschen Zeitung vom 26./27. Oktober 2010 über bemannte Flüge zum Mars. Demnach empfehlen namhafte ‚Experten’, wie der ‚zweite Mann auf dem Mond Buzz Aldrin oder Joe Gavin (director, Lunar Module Program, Grumman Aerospace Corporation) sowie zahlreiche namentlich genannte Physiker, Marsmissionen als ´Reisen ohne Rückkehr zur Erde` durchzuführen. „Alle sind überzeugt, dass es an Freiwilligen für die Marsreise ohne Rückflug keinen Mangel gäbe“! Paul Davies, Kosmologe von der Arizona State University schätzt die „One-way-Version“ als die richtige Entscheidung, um die geschätzten Missionskosten von 500 Mrd. Euro auf 100 Mrd. Euro zu senken. Aber eine solche Fokussierung auf die Kosten ist dilettantisch: Ohne die Mitwirkung von humanoider Roboter, die anspruchsvolle zentrale Aufgaben an Bord und auf dem Mars weitgehend autonom bewerkstelligen, wird eine solch lange Reise nicht bewältigt werden können; immerhin bräuchten die Funksignale für die Kommunikation der „Mars-Kolonisten“ mit der Erde per E-Mail 20 Minuten für jede Wegstrecke. Solcherart hochentwickelte ‚Humanoiden’ einsetzen zu können wird dauern und sehr teuer werden. Der derzeitige Entwicklungsstand lässt sich vielleicht aus der folgenden Abbildung erahnen. Derzeit kann er schon selbständig Kaffeekochen:

TSWS:

Ich danke Ihnen für diesen konkreten Hinweis auf die zweifellos wichtigste Utopie der Menschheit; er kam zur rechten Zeit. Bei den zukünftigen Versuchen einer solchen Realisierung geht es selbstverständlich um Männer & Frauen und mit Sicherheit auch um deren Biographien. Letztere sind es, die offenbar phantasiebegabte Menschen in ´Science-Fiction-Romanen & -Filmen` faszinieren.

Tim Boson:

Beispielhaft ist Jules Vernes frühes Werk „De la Terre à la Lune (1865) des Science-Fiction-Genres, das die ‚Mondfahrt’ der Amerikaner (bemannt) und der Russen (unbemannt) um etwa hundert Jahre vorwegnimmt. Nicht zu vergessen einen der Väter der modernen Science Fiction: Kurd Laßwitz. Sein bekanntestes ‚Raumfahrt-Buch „Auf zwei Planeten“ erschien 1897, in einer Zeit, da es noch ganz wenige Autos gab, von Flugzeugen ganz zu schweigen. Auch der Gebrauch von Telefon oder Telegraph steckte noch in den Anfängen. In einer Buchkritik aus 2002 steht der wichtige Hinweis: „Der Autor hat es fertiggebracht, mehrere Generationen junger Menschen für Technik und Raumfahrt so zu begeistern, daß sie ihr Leben entsprechend einrichteten. Werner von Braun zählt dazu, der das Buch mehrfach zitierte“. Ähnliches gilt aber auch für des Laßwitz-Schülers Hans Dominik frühe Kurzgeschichten wie „Die Reise zum Mars“ (1908). Seine Science-Fiction-Romane ab den 1920er Jahren waren bis zu seinem „Flug in den Weltenraum“ (1939) vom damaligen Zeitgeist in Deutschland geprägt. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen meist deutsche Ingenieure oder Naturwissenschaftler, die ihre Erfindungen und Entdeckungen gegen gierige Konzerne und feindliche Nationen verteidigen müssen. Dominik gegenüber war Thea von Harbou-Lang filmisch mit der Vermarktung ihrer je zum Drehbuch herangezogenen Romane viel erfolgreicher. Und was Fritz Lang angeht: Trotz meist vernichtender zeitgenössischer Kritiken ihres Drehbuchs wurde sein berühmtester Film ´Metropolis` nach der Jahrtausendwende als erster Film überhaupt ins Weltkultur-Erbe der UNESCO aufgenommen.

TSWS:

Der Wind hatte sich damals gedreht, die ‚Gutmenschen’ hatten den ‚Mainstream’ erreicht: Frau von Harbous schlichte Sozialethik, die ihr Ex-Mann noch für den Flop von ´Metropolis` verantwortlich gemacht hatte, wird heute mit dem politischen Anspruch, „das Herz vermittle zwischen Hand und Hirn“ zitiert und oft gegenüber technischen Innovationen verteidigt.

Tim Boson:

Diese funktionelle Denkweise führt vielleicht in die Irre. Herz ist wohl als Begleitgeräusch (-und Person/in) eminent wichtig. Allerdings lässt das Zitat auch eine ganz andere Interpretation zu, die mir, und ich denke auch Ihnen, sehr zusagt: Es ist immer das “HERZ” – das vielleicht nicht immer zwischen Hirn und Hand vermittelt, aber es ist das “HERZ”, das Menschen wie von Braun haben müssen, um sich “ein Herz zu fassen”, für Ihre Vision in Führung zu gehen, um den Mut aufzubringen, von dem des Perikles berühmte Gefallenen-Rede so eindrucksvoll als wichtigste Prämisse für singuläre Taten handelt.

TSWS:

Diese Interpretation führt offenbar auch zum entscheidenden psychologischen Hintergrund jener Utopie einer bemannten Raumfahrt, wie sie 1968 mit dem einflussreichsten Film dieses Genres – Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey – dem Publikum eindrucksvoll als Möglichkeit in der Zukunft vorgeführt wird. „Über kaum einen anderen Film ist wohl soviel gesagt, geschrieben, diskutiert, spekuliert und debattiert worden.“ Er ist eine Art ´Weltraumoper`, bietet aber m. E. auch ein klassisches Beispiel für Ironic Science: Technologisch gesehen ist der im Film präsentierte Stand der Technik optisch angelehnt an das im Jahr 1961 von der US Air Force begonnene »Projekt Dyna Soar X-20«. Letzteres war als Nachfolgeprojekt für die Versuche mit dem Hochgeschwindig-keitsflugzeug X-15 konzipiert.

Geplant war zuerst eine Beschleunigung des deltaförmigen 4.5 t schweren Raumgleiters mittels einer Rakete vom Typ Titan 1 bis auf fast Orbitalgeschwindigkeit. Damit sollten Wiedereintrittsversuche und die Erprobung neuer Materialien wie Molybdän für nicht-ablative Hitzeschutzschilde gemacht werden. Doch schon 1963 wurde das mit Recht als ‚Technologiegenerator ersten Ranges’ eingestufte Projekt wegen angeblich zu hoher Kosten wieder eingestellt. Zum Glück für Kubrick, der jetzt die ‚Lösung’ der technologischen Herausforderung der Öffentlichkeit mit künstlerischen Mitteln als erster dem Publikum vor Augen führen konnte. Dass es sich dabei nach wie vor weitgehend um pure Illusionen handelte, ist sicher den meisten Betrachtern zwar klar. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass gerade Kubricks ‚Odyssee’ durch seinen Einfluss auf die Sehgewohnheiten & Erwartungshaltungen der Amerikaner kurz vor der Mondlandung im Juli 1969 entscheidenden Vorschub für ganz neue Möglichkeiten der Massenpsychologie geleistet hat. Der Film-Genre-Begriff Mockumentary stammt wohl von daher; er bezeichnet einen fiktionalen Dokumentarfilm, der z. B. einen echten Dokumentarfilm parodiert. Bekanntes Beispiel ist die französische Mockumentary «Opération lune» aus 2002.

Tim Boson:

Belassen wir es dabei, es würde wieder nur Spekulationen anwärmen und uns hier möglicherweise von unserem eigentlichen Gesprächsthema zu weit weg führen.

TSWS:

Mir soll’s recht sein, zumal es unserem GESPRÄCH hier tatsächlich mehr nutzt, noch einmal kurz auf das o. a. Dyna Soar X-20 – Project zurückzukommen. Als Entwurf stammt es von Ex-Generalmajor Dr.-Ing. h. c. Walter Dornberger, dem ehemaligen militärischen Chef der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Er hat den Raumgleiter bereits vor 1945 konzipiert. Später wurde er von der US-Firma Bell mit Dornberger als ‚Supervisor’ gebaut; erste Astronauten wurden dafür bereits ausgebildet. Kurz: Sie müssen den ‚Flieger’ einmal gesehen haben:

General Dornbergers Raumgleiter für das »Dyna-Soar«-Projekt.

Tim Boson:

Danke für diese historische Aufnahme. Wegen der immer noch latent unkalkulierbaren Gefahren beim Wiedereintritt, ohne dass die Möglichkeit einer grundlegenden technologischen Bewältigung des Wiedereintrittsproblems in Sicht wäre, sollte dieses STS-Project in fünf Jahren eingestellt werden. War auch unter diesem Gesichtspunkt die ‚Sparmaßnahme 1963’ doch ein sehr teuerer Fehler?

TSWS:

Eindeutig ja! Für die Filmkunst war sie indes ein einmaliger Triumph: Seit Stanley Kubricks Kunstwerk haben Abermillionen Menschen ‚genaue Vorstellungen’ von bemannter Raumfahrt, welche mit flugzeugartigem Orbiter bei Horizontalstart und entsprechender Landung stattfindet. Das Hyper-X Programm hat diese ‚Technik’ entscheidend beeinflusst. Weniger witzig: Innovative oder wenigstens effektive Fortschritte für Raumfahrtzwecke insbesondere im Hochtemperaturbereich des Wärmeschutzes gibt es anscheinend seit 50 Jahren nicht. Dennoch ist m. E. der pädagogische Effekt des X-Programms samt Kubrick-Film nach wie vor eminent wichtig für die Phantasien künftiger kreativer Eliten.

Tim Boson:

Gibt es dafür ernstzunehmende Belege, welche die Entwicklungsrichtung anzeigen?

TSWS:

Erstaunlicherweise ja. Und prominenter bzw. repräsentativer geht es nicht: Der ab 1973 für die deutschen Raumfahrtprogramme verantwortliche höchste Beamte Wolfgang Finke erklärte ein Jahr nach der Challenger-Katastrophe voller Optimismus: „Twenty, thirty years from now, American and Soviet manned space operations will be routine. Circling the globe within 90 minutes will be normal for them, etc. …” In seiner weitaus interessanteren Langzeitprognose zeigt sich Dr. Finke weitaus reservierter: „There are some people today who dream that within fifty years space technology could be developed to the point that a settlement of the solar system would come into our reach. This one may believe or may not believe. I prefer not to, but this is not the point. Rather, the point is that even fifty years from now, just as today, the vast majority of all so-called space operations will, in fact, be earth-related operations. And if it ever has been true that those who govern the waves govern the world, it will be much truer that those who operate in space will dominate the Earth”. An dieser ‚imperialistischen’ Perspektive hat sich m. E. bis heute nichts geändert; eher ist aus Mangel an entscheidendem technologischen Fortschritt die Aussicht auf „eine Besiedelung des Sonnensystems“ derzeit unwahrscheinlicher geworden. Ich werde damit sicher nichts mehr zu tun haben. Aber wer weiß: Näher als die Utopie sitzt bei den Großmächten oft der Machtwahn. Finkes Ahnungen von „earth-related operations“ zur Weltraumkontrolle sind bereits Realität: Am 9. Dezember 2010 meldete die SZ: „Nach 220 Tagen [auf einer Erdumlaufbahn] im All ist die streng geheime [unbemannte] Raumfähre [X-37B] vergangene Woche erstmals wieder auf der Erde gelandet“. Die Mission von X-37B wird von Sicherheitsexperten wohl rechtens als tendenziell hochbrisant eingeschätzt; ein Einstieg in einen neuen Rüstungswettlauf im All wird bereits diskutiert: „Theresa Hitchens, Direktorin des UN-Institute for Disarmament in Genf, sagt, die zentrale Frage sei, ob man das Raumschiff X-37B als Trägerplattform für Waffen verwenden könne“. Gegenwärtig am wahrscheinlichsten ist indes, dass „das Raumschiff zur Spionage dienen und das Netz militärischer Aufklärungssatelliten ergänzen soll“.

Tim Boson:

Ich bin bis jetzt davon ausgegangen, dass die bemannte Raumfahrt mit der Beendigung der Space-Shuttle-Missionen Mitte des Jahrzehntes eine Pause einlegt.

TSWS:

So sieht es wohl auch aus. Aber die ‚Beendigung’ bezieht sich wohl vor allem auf die ‚Missionen’ und zwar vor allem auf jene, die unter dem Etikett ‚wissenschaftlich’ für teueres Geld seit Jahren gefördert wurden. Deren Erfolg über viele Jahre war insgesamt enttäuschend. In Deutschland brachten sie einige Lehrstühle für ausgemusterte Wissenschaftsastronauten, aber die große Illusion über neue Möglichkeiten der Herstellung von Werkstoffen & Medikamenten unter Weltraumbedingen blieb pure Illusion. Unter dieser ernüchternden Perspektive hatten plötzlich die US-Militärstrategen wieder alle Vorteile für sich: Sie können jetzt den Vorteil unmittelbar militärisch nutzen, der aus dem in 40 Jahren erwachsenen technologischen Vorsprung in der ‚zivilen’ Trägertechnologie resultiert. Und ich befürchte, dass sich Dr. Finkes Langzeitprognose schneller erfüllen wird, als er sie sich vorstellen konnte. Ich will hier nicht weiter spekulieren!

Tim Boson:

Es ist offenkundig doch so, dass Ihre Biographie als Hintergrund Ihrer Story auch für unser Gespräch von Einfluss und Bedeutung ist. Als die Anfrage der NASA-Mitarbeiter Sie Anfang 1983 erreichte, waren Sie fast 50 Jahre alt, verfügten offenbar über gewisse neue Erkenntnisse und Erfahrungen, die möglicherweise für die Amerikaner von erheblichem Interesse waren. Vom Ende der Story her gedacht: Muss diese Ausnahmekonstellation nicht auch für Sie gewisse Motive, gar Anreize geliefert haben, um dann wiederum – ganz unerwartet – Ihren späteren Lebens- und Berufsweg bis heute zu beeinflussen?

TSWS:

Ich muss Ihnen zustimmen: Ohne meine Erfahrungen in den USA hätte ich vorrangig wohl nie einige beeindruckende Amerikaner in den USA, aber auch als Gastprofessoren an unserem Institut kennen gelernt, die meine ‚späte’ Entwicklung zum wissenschaftlichen Schriftsteller nachweislich beeinflusst haben. Und ich denke, auch meine Assistenten & Doktoranden & interessierten Studenten haben davon stark profitiert.

GESPRÄCH TEIL III ZWISCHEN Tim Boson & TSWS!

“Errors are the Portals of Discovery.”
– James Joyce, Ulysses –

Tim Boson:

Bei der von Ihnen geschilderten gewaltigen Dimension in Raum, Zeit und dem Einsatz intellektueller und materieller Ressourcen in

extensivem Maß für die bemannte Raumfahrt erhebt sich jetzt doch die Frage, was Sie an einem offenbar neuralgischen Punkt des STS-Projekts als einzigen Europäer ins Spiel gebracht hat? Nach Ihren bisherigen Teil II unseres Gesprächs ging es um eine Art inoffizielles ‚Hilfsersuchen’ einiger Mitarbeiter des MSFC, welches das MSFC per Vermittlung durch Dr. A. E., einem früheren deutschen Kollegen, Ihnen im Februar 1983 ankündigte. Dieser Zeitpunkt erscheint mir wichtig, weil er bereits mehrere Shuttle-Flüge der ersten SSME-Generation betraf – beginnend mit STS-6 am 4. April 1983. Wann, wie und warum kam Ihre Mitarbeit zustande; nach welchem modus operandi wurde sie ausgeübt und letztlich abgewickelt?

TSWS:

Die Kontaktaufnahme mit A. E. machte mich neugierig; sie war unverbindlich, und so geschah zunächst gar nichts. Dann, es war wohl nach Trimesterende Anfang Juli, informierte mich A. E., dass zwei oder drei Herren der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA mich in besagter Angelegenheit besuchen würden. Das Treffen wurde für den 15. August 1983 im Institut für Thermodynamik der Bundeswehruniversität München (UniBwM) vereinbart. Das war dann am Vormittag der Fall.

Es ist nicht ganz einfach, den Gesprächsablauf einigermaßen konzise wiederzugeben, zumal ich mir die geschilderte Sachlage im Fall der NASA nie hätte vorstellen können. Wir saßen da stundenlang in einem Raum, bei Hamburger & Cola light, beginnend mit small talk. Ich sollte mir fast ganz ohne Unterlagen ein Bild über die Situation zur SSME machen, also zu einer Maschine, die sowohl mechatronisch als auch thermodynamisch in Konstruktion & Regelung wohl zu den komplexesten Maschinen der Welt gezählt werden muss. Um sich eine erste Vorstellung zu machen: Nach Zündung der SSMEs werden innerhalb von drei Sekunden 90 Prozent des maximalen Schubs aufgebaut. Zu diesem Zeitpunkt erfolgt ebenfalls die Zündung der Feststofftriebwerke. Das bedeutet für das Transportsystem, dass innerhalb kürzester Zeit Temperaturunterschiede von minus 200°C (verflüssigtes LH-LOX-Gemisch) bis zu (angeblich) plus 2600°C (Verbrennungsgasgemisch) bei Brennkammerdrücken um 200 bar in Schub transformiert werden…alles, was ich hörte, war für mich nicht nachvollziehbar, und ich bat – vergeblich – um schriftlich Belege. Warum „vergeblich“? Es ist mir erst viel später klar geworden, wie eng der tatsächliche Entscheidungsspielraum der MSFC-Verantwortlichen für Entwurf, Bau und Test der SSME im Rahmen der konkreten NASA-Missionsplanungen des STS-Project tatsächlich gewesen ist.

Tim Boson:

Über welchen Zeitraum sprechen Sie gerade?

TSWS:
Die Antwort kann sich nur auf jenen Zeitraum beziehen – d. h. zwischen 1975 und 1986 – in welchem jede Shuttle-Mission hauptsächlich durch die potentiell desolate Situation bei den SSMEs aktuell gefährdet schien. Man kann diese eher vage klingende Zustandsbeschreibung immerhin noch durch den Hinweis spezifizieren, dass die Risiken eines Schadens mit schlimmen Folgen von den NASA-Ingenieuren völlig anders eingeschätzt wurden als vom NASA-Management. Die Schätzungen evtl. Verluste von Raumfähren & Menschen lagen grob zwischen 1 in 100 (Starts) beim technischen Personal und zwischen 1 in 100.000 beim Management! Was die Gründe für solche ‚Erwartungen’ waren, darüber wollten meine Gesprächspartner in punkto thermodynamische Grundlagen Etwas von mir erfahren. Das klingt nun nebulös und schwammig. Tatsächlich ging es aber insofern schnell zur Sache, als klar wurde, dass man von mir tragfähige Antworten auf Fragen erwartete, die sich konkret in zwei Publikationen von Mr. P. R. J. stellten:

(1) ›Entropiemaximierung für Gleichgewichtsprozesse unter Bezug auf Verbrennungsphänomene in Raketenmotoren.‹ Techn. Memorandum. Lockheed Missiles & Space Comp. Huntsville, Al. Oktober 1969.

(2) Untersuchung von Gleichgewichtskonzepten – Final Report: NASA-Contract 8-34946-MSFC with Continuum Inc. Huntsville, Al. Oktober 1982.

Tim Boson:

Haben Sie sich eigentlich die o. a. monströsen Wahrscheinlichkeitswerte aus den Fingern gezogen? Und im Übrigen: Die Publikationsdaten beider Reports lassen keinen unmittelbaren Bezug auf den von Ihnen angegebenen Zeitraum erkennen. Braucht es dafür eine plausible Erklärung?

TSWS:

…. aus den Fingern gezogen? Keineswegs: Es gibt NASA-Studien, basierend auf Interviews mit dem Management & den Ingenieuren am MSFC und Interviews mit Ingenieuren der Rocketdyne. NASA-Offizielle sind flexibel; oft reden sie sich den hohen Grad von Missionserfolgen einfach zu Recht, manchmal ‚wissenschaftlich’ aus der Differenz der unterschiedlichen Philosophien für Raumfahrtprogramme bemannter & unbemannter Missionen, d. h. „Numerical probability usage vs. engineering judgement.“ Um hier einmal eine Quelle zu nennen: Das Zitat findet man in »Space Shuttle Data for Planetary Mission RTG Safety Analysis, NASA JSC, February 15, 1985«.

Im Übrigen treffen Sie mit Ihrer zweiten Frage des Pudels Kern – buchstäblich! Erst als ich erkennen ließ, dass ich bei den kargen Informationen keine Möglichkeit sähe, etwas zu ihren Problemen zu sagen, rückten die Herren mit einer Geschichte heraus, die – wie sich erst im Jahr darauf herausstellte – immer noch ziemlich unvollständig, indes abenteuerlich genug war.

Tim Boson:

Das überrascht mich eigentlich nicht. Schließlich klingt es wenig wahrscheinlich, dass ausgerechnet die NASA allein wegen einer STS-relevanten thermodynamischen Grundsatzfrage ihre Leute nach München schickt, um einen deutschen Professor zu konsultieren. Gibt es ein Geheimnis, eine Verschwörungstheorie?

TSWS:

Die nackten Tatsachen, die relevant sind, lassen sich in aller Kürze zusammenfassen. Das ist auch der Sache angemessen, da ich im Detail nie erfahren habe, warum zwischen den ›Fachinformationen (technical briefs 1969)‹ der Lockheed Missiles & Space Company und deren ›Abschlussprüfung (final report 1982)‹ durch die Continuum Inc. ebenfalls Huntsville, Ala. eine zeitliche Lücke von 12 Jahren klafft. Ergo:

(1) Im Oktober 1969 lag das Lockheed-Gutachten von Mr. P. R. J. der MSFC-Führungscrew vor.

(2) Ab 1970 verließ W. von Braun nach zehnjähriger Tätigkeit das MSFC, um für zwei Jahre an der NASA-Zentrale in Washington D. C. die Stelle als stellvertretender Direktor anzutreten.

(3) Am 14. August 1972 wurde der endgültige Vertrag mit der Firma Rocketdyne über den Bau und die Erprobung der SSME unterzeichnet; er hatte eine Laufzeit von 40 Monaten und einen Wert von über 200 Mio. USD. Verbunden war das Ganze auch damit, dass die NASA „zur Überwachung und Steuerung des Entwicklungs- und Herstellungsprozesses der SSME die ›Design Verification Specification (DVS)‹ etablierte – verknüpft mit Design-Überprüfungen, Triebwerktests & formalen Darstellungen“ (http://www.mainengine.de/ssme/ssme_entwicklg.html).

(4) Ab 1974 begannen Brenntests der Triebwerkskomponenten und ganzer Triebwerke, z. B. am Stennis Space Center, Mississippi in der Nähe von St. Louis am in der Nähe von St. Louis.

SSME-Test on A-1 in Stennis Space Center • The STS-1 Crew (Commander John W. Young & Pilot Robert L. Crippen) 810412

(5) Der wichtigste Kontrollpunkt der DVS war selbstverständlich der Erstflug des Space Shuttles. Dazu war die rechtzeitige Verfügbarkeit von komplett ausgetesteten Main Engines Voraussetzung. Die erste SSME wurde am 25. März 1975 an die NASA ausgeliefert. Weitere folgten, und sechs Jahre später erfolgte der Erstflug.

In summa: Dreizehn Jahre nach Beginn der Entwicklungsarbeiten fand der Erstflug der neu entwickelten Haupttriebwerke der US-Raumfähren am 12. April 1981, 7 Uhr Ortszeit statt. Anlass war der erste Weltraumflug der Raumfähre Columbia; sie startete vom ›Kennedy-Raumflug-Zentrum in Cape Canaveral, Florida‹ aus – mit den Astronauten John Young und Robert Crippen an Bord.

Tim Boson:

Die fünf Meilensteine markieren eine Zeitspanne, innerhalb der die beiden o. a. in Rede stehenden Gutachten von Mr. P. R. J. – letztlich der Auslöser unseres gesprächs – der NASA vorlagen.

Aber nicht nur das: Die NASA-Abordnung besuchte Sie drei Jahre nach Ablauf der Zeitspanne, also nachdem bereits erste Weltraum-Missionen erfolgt waren. Wieso waren da diese Gutachten überhaupt noch relevant? Das kann doch kein Zufall sein?

TSWS:

Natürlich nicht. Um das folgende Gedächtnisprotokoll zu verstehen, sollte man alle fünf objektiven Items des o. a. ‚Milestone-Schedule’ um das Datum eines eher ‚local event’ ergänzen. Von Brauns Nachfolger als zweiter Zentrumsdirektor wurde Dr. Eberhard Rees (*1908 ‒ † 1998), einer der eng-ster Mitarbeiter aus Peenemünder Tagen. Ein anderer Mitarbeiter & Biograph Wernher von Brauns, Dr. Ernst Stuhlinger, äußerte sich lt. dem MSFC-History Office zur Zusammenarbeit der Beiden in den Jahren der Apollo-Ära wie folgt: “Wernher and Eberhard were a great team. Wernher was the outgoing one. Eberhard the practical one … Eberhard retired in 1973″. Trotz dieser geringen Amtszeit hinterließ Rees unübersehbare Spuren: Er initiierte das später als Hubble-Weltraumteleskop bekannt gewordene astronomische Wunderwerk, dann die erste Raumstation der Amerikaner, Skylab, außerdem das Mondauto LRV und – last but not least – den Umbau des MSFC vom bis dato Mekka der Raketenschmieden zum Wissenschaftszentrum. Diese beeindruckenden Fakten deuten bereits darauf hin, dass sich spätestens ab 1973 am MFC der Wind gedreht hatte. Neue Ziele winkten am MSFC, und das STS-Projekt lief in der Großindustrie entsprechend den vertraglich vereinbarten Abmachungen sowie nach den Spielregeln, wie sie in der ›Design Verification Specification (DVS)‹ der NASA kodifiziert waren.

Nachdem 1974 die umfangreichen Testprogramme der SSME und ihrer Komponenten anliefen, traten bald und erwartungsgemäß beträchtliche Probleme auf. Sie resultierten einerseits aus den SSME-Problemen selbst, andererseits aber auch infolge von Schwierigkeiten mit den (meist aus früheren Raketenversuchen herrührenden) alten Versuchsständen. Der Erstlauf eines SSMEs fand im Oktober 1975 statt. Während der Erprobung kam es zu zahlreichen Komplikationen. Bei einem Test explodierte sogar ein Triebwerk und zerstörte den Teststand.

Tim Boson:

So traurig es ist, aber deshalb flogen die Herren doch nicht nach München! Vielleicht berichten Sie unseren Lesern einfach die für den Besuch maßgebliche Faktenlage, wie sie Ihnen vorgetragen wurde – unabhängig davon, inwieweit sie damals zutraf oder auch nicht.

TSWS:

Ihre Ungeduld verstehe ich, dennoch kann & will ich ihr aber noch nicht folgen, weil die Gefahr nicht auszuschließen ist, dass ein total falscher Eindruck entsteht. Ich will dafür einen Kronzeugen aufrufen, dessen Kompetenz & Prominenz wohl nicht zu toppen sein dürfte: den weltberühmten US-Physiker Richard P. Feynman, Nobelpreisträger 1965 für Quanten-Elektrodynamik. Er spielte noch kurz vor seinem Tod eine herausragende Rolle in der ›Presidential Rogers Commission‹, welche das Challenger-Disaster untersuchte….

Tim Boson: Das müssen wir kurz einschieben: Das Challenger-Desaster hatte technisch nichts mit den SSME zu tun, sondern mit den Feststoffboostern, aber Sie wollen hier auf etwas grundsätzliches hinaus. Bitte fahren Sie fort:

TSWS:

Ja… Feynman kam zum Schluss, dass das NASA -Management die Zuverlässigkeit der STS-Technologie völlig falsch eingeschätzt hatte. Er verwendete den vernichtenden Ausdruck „phantastically unrealistic“. Im Anhang zum Abschlussbericht der nach Präsident Nixons Außenminister William Pierce Rogers benannten US-Untersuchungskommission wiederholte er eindringlich seine oft geäußerte Warnung: “For a successful technology, reality must take precedence over public relations, for nature cannot be fooled.”[

Feynman liefert aber auch einen grundlegenden Ansatz zur Sicherheitsproblematik bei Hochgeschwindigkeitsflugsystemen. In seinem Aufsatz „Personal observation on the reliability of the Shuttle” diskutiert er zwei unterschiedliche Arten des Designs von zivilen & militärischen Flugsystemen – bemannt oder unbemannt. Für Flugtriebwerke von Kampfbombern oder Passagierflugzeugen z. B. der AIRBUS S.A.S. gilt nach Feynman: „The usual way that such engines are designed may be called the component system, or ´bottom-up design`.” Aber er dachte weiter, an prinzipiell andere Optionen des Design, an die Alternative zum ´bottom-up design`, ergo dem ´top-down design`, „we might say“. Aber er nannte dafür keine vertrauten Beispiele, dafür beging er einen Kardinalfehler, der beinahe seine ganze Untersuchung, vor allem seine harsche Kritik an den NASA-Managern hinfällig machte: Die SSME ist für ihn ein neues Aggregat, d. h. ohne erprobte Vorläufer, und er erklärt es unumwunden, indes total unbegründet zu einem Paradebeispiel für ´top-down design`!

Aus dieser ‚freien Erfindung’ wird schlagartig der Stellenwert der Gutachten von Mr. P. R. J. festgelegt. Sie sollten dazu dienen, wenigstens für die SSME ´top-down design` auf eine verlässliche physikalische Grundlage zu stellen. Darin lag objektiv ihre wahre Bedeutung! Die Gutachten beziehen sich aber auf eine ´Glockendüsen` -Technologie. Für die ´Aerospike-Nozzle`, die keineswegs eine neue Entwicklung war (s. o.) gelten sie aus geometrischphysikalischen Gründen nicht, ein Sachverhalt, der ganz im Sinn von Feynmans Aufsatz erklären würde, warum Wernher von Braun diese anspruchsvolle Technologie vom SSME-Design-Competition kategorisch ausschloss.

Tim Boson:

Beeindruckend. Aber es ist vielleicht hier angebracht, dem Leser griffige Beispiele aus dem täglichen Umfeld zu nennen, die er mit ´bottom-up design` bzw. ´top-down design` konkret in Verbindung bringen kann. Dabei ist es sicher einfacher, hier negative Beispiele zu finden. So denke ich, aus einem normalen PKW einen innovativen Rennwagen zu entwickeln, ist sicher kein seriöses Beispiel für eine der beiden Optionen, denn das wäre von vorneherein eine technisch und wirtschaftlich unsinnige Aufgabe. Schon gar nicht lässt sich ‚pimp up’ im Sinn von ‚Etwas aufmotzen’ mit ´bottom-up design` zumindest für komplexe technische Aggregate der Industrie in Verbindung bringen. Auch Beispiele für die Alternativoption ´top-down design` darf man sich in der Industrie nicht zu simple vorstellen. Niemand wird aus einer nicht geprüften Innovation oder von einer so genannten Konzeptstudie aus ‚hinunter’ in ein funktionierendes sicheres Aggregat Millionen auf Verdacht hin investieren. Eine These, wonach man sich im Zweifel für die Erfahrung entscheidet und gegen die noch ‚unerfahrene’ Innovation, wäre nicht nur fahrlässig, sondern auch grottenfalsch: Diese Alternative ist irreal, in der Praxis existiert sie nicht.

Zusammengefasst: Wir kommen nicht umhin, die Funktion und Problematik des Zwillings ´bottom-up design` und ´top-down design` sorgfältiger darzulegen. Das ist Feynmans Botschaft; sie bedeutet wohl die Notwendigkeit, die Unterschiede im Design zwischen (1) bottom-up und (2) top-down signifikant zu untermauern: Ich könnte mir vorstellen, dass für (1) i. a. die dokumentierte Komplexitiät je der Vorgängermodelle die technologischheuristische Basis für das Nachfolgemodell bildet. Für (2) wäre dagegen nur eine adäquate und gut begründete physiko-chemische Theorie – die ´top-down IDEE` – als konzeptionelle Basis zulässig, weil einzig sinnvoll, oder

TSWS:

Dem kann ich nur zustimmen. Wir werden uns im Fortgang unseres GESPRÄCHS also mit Design im ´bottom-up mode` bzw. ´top-down mode` eingehender befassen, zumal uns da eine m. E. dicke Überraschung erwartet. Allerdings sollten gleich die Gewichte richtig verteilt werden: Design im ´top-down mode` lässt sich bei ‚defensiver Definition’ nur sehr selten realisieren. Raketenmotoren & Staustrahlantriebe sind die großen Ausnahmen. Für beide lässt sich in aller Regel je ein idealer Vergleichsprozess konstruieren. Aber bevor wir darauf zurückkommen, sollte ich doch Ihrem o. a. Vorschlag folgen, nämlich die Fakten, welche die Gutachten von Mr. P. R. J. betreffen, jetzt endlich so auf den Tisch zu legen, wie sie mir von der MSFC-Abordnung dargelegt wurden. Aber leider ist das unmöglich, weil der Leser diese ‚Fakten’ nicht verstehen kann, weil ich sie damals in ihrer ganzen Fülle auch nicht verstehen sollte. Ich bin mir inzwischen sogar ziemlich sicher, dass die MSFC-Herren sie selbst nicht stimmig in Einklang bringen konnten. Deshalb kann ich diese ‚Fakten’ nur ‚umständehalber’ vortragen.

Das Lockheed-Gutachten (LFAR) lag dem MSFC im Oktober 1969 vor. Es hatte seine Ursache letztlich in den Erfahrungen mit dem J-2 (-Oberstufen-Triebwerk) der Mondrakete SATURN V.

SATURN V – S-IC_engines_and_Von_Braun

Bis zur SSME war es einst das größte mit flüssigem Wasserstoff betriebene Triebwerk der USA. Die Vehemenz, mit der – wie erwähnt – Dr. von Braun im SSME-Design-Wettbewerb die Aerospike-Düse diskriminierte und zwar gegenüber der konkurrierenden Glockendüse, wie sie auch in der J-2 Verwendung fand, lässt vermuten, dass er das Lockheed-Gutachten kannte. Dr. Sanford Gordon, einer der Autoren des NASA-Lewis-Code SP 273, Interim Revision, March 1976 (Computer Program for Calculation of Complex Chemical Equilibrium Compositions, Rocket Performance, Incident & Reflected Shocks, and Chapman-Jouguet Detonations), teilte diese Auffassung. Am Rand der Huntsville-Conference, February 1985, an der auch Dr. Gordon teilnahm und auf der es um beide Gutachten sowie um die Prinzipien der von mir entwickelten MÜNCHNER METHODE (MM) ging, äußerte er die Vermutung, dass von Braun sogar das LFAR veranlasst hätte.

Tim Boson:

Ist denn eigentlich etwas Anderes vorstellbar – realiter?

TSWS:

Eigentlich nicht. Einerseits war Dr. von Braun als Center Director – trotz der bevorstehenden Mondmission – bereits von 1968 an stark in den Vorbereitungen des STS-Project involviert. Andererseits kannte er die eminenten spezifischen Probleme der J-2 genau, so dass es undenkbar erscheint, dass die Vergabe des Gutachtens für das MSFC ohne sein Wissen und seine Einwilligung erfolgt ist. Man darf ja auch nicht vergessen, dass zu jener Zeit der Projektphase A (jedenfalls ab 23 Januar 1969!) Lockheed auch offiziell für ›Machbarkeitsstudien‹ ein tatsächlicher Mitbewerber, später ein potentieller Konkurrent der anderen Raumfahrtfirmen war. Schaut man indes genauer hin, so läuft alles auf einen eindeutigen Schluss hinaus. Schon im August 1969 – also noch in der Ausarbeitungsphase des LFAR – legte von Braun den „Raketenherstellern des Landes“ einen von ihm auch persönlich geprägten umfangreichen Fragenkatalog vor. Wohl nicht zufällig sprach er darin „Unzulänglichkeiten des Aerospike-Triebwerks von ROCKETDYNE an, das Probleme mit verzögerter Zündung, Instabilitäten des Verbrennungsprozesses“, etc. hatte. Dann, kaum lag dem MSFC das LFAR vor, fiel der Hammer: „Als einziges klar vorgegebenes Designmerkmal wählten die NASA-Shuttle-Manager im Oktober 1969 die Schubdüse aus, die glockenförmig sein sollte, da man damit große Erfahrung gesammelt hatte“ (‹http://www.mainengine.de/ssme/ssme_entwicklg.html› vom 2. September 2007). Diese Begründung erscheint zwar eher als reaktionär denn als fortschrittlich, zumindest als fantasielos. Dennoch ist sie sicher nicht mit jener von Richard Feynman angeprangerten Irrationalität behaftet, die er, der Theoretische Physiker, den verantwortlichen NASA-Manager anlastete. Dann aber muss man seriöserweise konstatieren, dass Dr. von Braun und seine Kollegen in Anbetracht des tatsächlich oder angeblichen Zeitdrucks und unter Bezug auf die erstaunlich vielversprechenden Prognosen des LFAR kaum eine andere Wahl hatten, als alternativlos auf die ‚Glockendüse’ zu setzen.

Tim Boson:

Zugegeben, das ist sehr treffend. Aber solange sich das MSFC auf das Gespür ihres Direktors verlassen konnte – und beim Mond-Projekt funktionierte das ja perfekt – konnte das zuständige MSFC-Management Verantwortung tragen … für das STS-Projekt. Was aber geschah, musste geschehen, als von Braun einige Monate später für neue Aufgaben in die NASA-Zentrale abkommandiert wurde?

TSWS:

Schlimm genug die Situation, wie Sie sie treffend schildern. Aber noch nicht schlimm genug! Es ist ja nicht nur der Abgang des ‚Kapitäns’, von dem man letztlich erwartet, die Verantwortung zu bündeln und gegebenenfalls allein zu tragen. Es ist vor allem die Tatsache, dass bei von Brauns ‚Abgang’ kein Mensch wusste, ob die verheißungsvollen Prognosen des Lockheed-Gutachtens überhaupt stimmen, wissenschaftlich korrekt sind. Bevor Sie mich danach fragen, sage ich Ihnen gleich, dass von Brauns Nachfolger, der neue ‚Kapitän’ – soweit ich weiß – zur Aufklärung dieser (für alle ‚Eingeweihten) quälenden Unsicherheit nichts tat. Nach drei Jahren ging er in den verdienten Ruhestand (s. o.).

Tim Boson:

Puh… Das waren jetzt doch eine Menge Fakten: Ich möchte dazu jetzt noch einmal rekonstruieren. Auch für mich selbst, weil es so dicht ist: Wir haben es mit einem komplexen Entwicklungsprozess zu tun, der sich zugleich in einem komplexen technologischen Feld abspielt. Ich muss also immer mit bedenken, dass in einem solchen Prozess stets auch Terminkalender, Schedules eine Rolle spielen, die neben den technischen Sachlagen auch einen gewissen Termindruck mit verursachen. Ebenso wie auch finanziellen Druck, weil auch große Budgets nicht unbegrenzte Budgets sind. Dazu kommt die Frage der Sicherheit. Und ein Chef oder ein Abteilungsleiter oder ein Direktor muss in dieser Situation immer sowohl die Sachlage, die Zeitlage als auch die finanzielle Lage gegeneinander abwägen, und dann Entscheidungen treffen, die dafür sorgen, dass der Hase weiterläuft. Aber diese Entscheidungen können nicht immer so beschaffen sein, dass Alle zufrieden sind. Deshalb wohl ist dann die Entscheidung für die Glockendüse gefallen…. Jetzt aber die Frage: Wie kam es ihrer Meinung nach dazu, dass das Lockheed-Gutachten solche relativ kühlen Temperaturen in der SSME avisierte. Ein Rechenfehler?

TSWS:

Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass bei den vielen (für Sie und den Leser oft) unbekannten Namen & Fakten sowie den teilweise komplizierten technischen Zusammenhängen das Bedürfnis einer ‚Atem- & ….pause’ besteht. Weiterhin ist es für die Harmonie zwischen uns und unseren Lesern durchaus zuträglich, dass Sie mit untrüglichem Gespür den Arbeitsalltag der Vorgesetzten jedes heutigen Angestellten in Großkonzernen und Investmentbanken beschreiben. Aus meiner Erfahrung kann ich ihn auch für Bundesministerien, Großforschungsanstalten & Universitäten bestätigen. Warum sollte es in den sehr bürokratisch arbeitenden Einrichtungen der NASA anders sein. Soweit Alles schön und gut! Was aber völlig missraten ist, muss auch gesagt sein: Aus Ihrer Allerweltsanalyse zu schließen, dass „die Entscheidung für die Glockendüse“ deshalb gefallen sei, weil halt „Entscheidungen nicht immer so beschaffen sein können, dass Alle zufrieden sind“, ist einfach absurd. Deshalb kann und will ich Ihnen jetzt & hier Ihre zwei abschließenden Fragen nicht beantworten, denn dann müssten wir sofort auf das LFAR im Detail eingehen, ohne die Problematik des zweiten Gutachtens (CG) noch nicht einmal zu kennen. Ich werde also da fortfahren, wo Sie mich mit Ihrem Puh … unterbrochen haben.

Von Braun hatte nun Zeit, über die wirklich wichtigen Items der bemannten Raumfahrt nachzudenken. In den vielen Biographien über ihn kursieren sehr unterschiedliche Angaben, warum & wozu er 1970 nach Washington, D. C. wechselte. In den Mitteilungen des ´MSFC History Office` heißt es dazu lapidar: „In 1970, NASA leadership asked von Braun to move to Washington, D.C., to head up the strategic planning effort for the agency”. Was unterscheidet wohl einen eingefleischten Bürokraten von einem waschechten Visionär auf diesem Posten. Die Antwort lässt sich belegen: Bereits im NASA-Headquarter in Amt & Würden, erklärte er 1971 im Kennedy Space Center, Cape Kennedy: „Die Raumfähre ist zwar sehr nützlich für erdgebundene Anwendungen, aber sie ist auch die Basis für alles, was wir später an bemannten Flügen im ferneren Weltraum machen werden“; vgl. Der SPIEGEL Nr. 7/1971/S. 141. Der „fernere Weltraum“ – das ist eine Vision – vielleicht aus den Jugendjahren seiner Lektüre von Kurd Laßwitz’ Büchern! Selbst, wenn von Braun in seinem Optimismus – gemessen an seiner Prognose über „Forschungsstationen auf dem Mond im Jahr 2000“ – daneben lag.

Tim Boson:

Was waren Ihrer Meinung nach in den ersten vier Jahren nach von Brauns Abschied vom MSFC die Gründe für die wachsende Unsicherheit und Unzufriedenheit derjenigen Mitarbeiter des MSFC, die von Brauns Vorstellungen gut kannten und teilten? Selbst falls Sie für eine Antwort eine gehörige Portion Kaffeesatz lesen müssen.., es muss am MSFC eine solche Stimmung gegeben haben, sonst säßen wir nicht hier. In Frage käme eigentlich nur die Gruppe (‚Branch’ – oder ein Teil davon) vorrangig solcher MSFC-Experten, welche den Entwurf und Bau der Raketenmotoren von ROCKETDYNE während der Abschlussphase des SSME-Wettbewerbs zu begleiten und zu bewerten hatten. Und die auch über …

TSWS:

.. gehörigen Einfluss verfügten – wie sonst wäre zum Thema ‘Korrektur des Nasa Lewis Code’ die Konferenz 1985 möglich gewesen?

Ich habe mir Ihre Frage in 1991 nach dem Ende meines NASA-Engagements auch gestellt. Aber vergeblich. Antworten aus den USA gibt es zwar deren viele, aber sie sind in aller Regel der berüchtigten »Political Correctness« geschuldet – angeblich wegen der nationalen Sicherheit. Mein amerikanischer Freund G.K. hatte erst mit dem zweiten Gutachten von Mr. P. R. J. von Mitte Oktober 1982 zu tun, wusste also nichts Verbindliches über die früheren Zeitabschnitte zu berichten. Erst viel später als ich Feynmans Shuttle-Analysen kennenlernte und ihre Ergebnisse an den realen Gegebenheiten der Münchner Motorenunion (MTU) dank meiner jahrzehntelangen Freundschaft mit dem früheren Technischen Geschäftführer der MTU reflektieren konnte, fiel der Groschen. Vor allem, als mir jetzt – fast 20 Jahre nach der Betreuung von Stefan Dirmeiers Dissertation – die großen systemischen Qualitäten der Münchner Methode, d. h. der ›Thermofluiddynamik des idealen Vergleichsprozesses für Raketenmotoren & Staustrahlantriebe mit & ohne Kühlung‹ noch klarer geworden sind.

Tim Boson:

Ich weiß, dass der zuletzt angesprochene Grund auf die Generalüberschrift unseres GESPRÄCHS abzielt, auf «Entropie als Kreativpotential», und wir ihn deshalb jetzt nicht weiter vertiefen sollten. Aber einige Bemerkungen zu „Feynmans Shuttle-Analysen“ im Zusammenhang mit dem LFAR würde ich mir schon wünschen.

TSWS:

Die zwei von Feynman angesprochenen Optionen, komplexe Maschinen zu entwerfen, weiter zu entwickeln und schließlich zu bauen, erfasst er durch die zwei Begriffe (1) ´bottom-up design` und (2) ´top-down design`. Damit erreicht er eine griffige Systematik, aber zunächst nicht mehr. Denn die Begriffe eröffnen zunächst nur ein ‚Sprachspiel’, das sich formal in zwei Optionen anbietet. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Im Fall (1): Ausgehend vom Konkreten mit dem Ziel im Abstrakten und im Fall (2): Ausgehend vom Abstrakten mit dem Ziel im Konkreten.
Es wundert nicht, dass sich dieses ‚Paar’ (1) und (2) von der Managementtheorie über die kognitive Psychologie bis zur Nanotechnik anwenden lässt.

Im industriellen Maschinenbau bedeutet das Prinzip – vereinfacht ausgedrückt, aber praxisnah:

(1) steht für einen verfügbaren, bewährten Fundus an Technologie in Form einer erfolgreichen, entwicklungsfähigen Maschine sowie bewährter Teams und

(2) steht für eine Idee. Sie muss wirtschaftlich (oder eben auch militärisch) interessant sein, sollte in einer Konzeptstudie vorliegen. Manchmal ist es ausreichend, wenn es gelingt, die ´Idee` verbal, graphisch, etc. zu präsentieren und einschlägigen Prüfungen zugänglich zu machen. Besser noch, falls sie, was den Kern der Idee betrifft, mittels simpler mathematischer Modelle & statistisch unterlegter Risikofaktoren quantifiziert werden kann, sofern die einschlägigen Experten zur Verfügung stehen.

Tim Boson:

Das klingt vielversprechend, aber ziemlich abstrakt. Wie verhält es sich mit diesem Prinzip in der Praxis, z. B. bei den von Ihnen erwähnten ›luftatmenden Flugtriebwerken‹ der MTU?

TSWS:

Danke Tim, dass Sie mich danach fragen. Ohne auf Details einzugehen, können Sie davon ausgehen, dass die MTU nach dem o. a. Muster verfährt: Item (1) ist die Regel und Item (2) die Ausnahme. Warum? Item (1) wird ‚infinitesimal’ gehandhabt, d. h. ein verbessertes Flugtriebwerk wird an Schwachstellen korrigiert und/oder in der Funktion verbessert (neue Materialien, geringerer Verbrauch, höhere Sicherheit, veränderte Avionik, etc.). Der entscheidende Vorteil: Risiken sind gewöhnlich beherrschbar und Korrekturen sind meist ‚local’; die resultierenden Kosten halten sich in kalkulierbaren Grenzen. Der Fall von Item (2) kommt auch bei der MTU vor, aber selten. Eigentlich nur dann, wenn ein neues Produkt entwickelt werden muss, in dem Sinn, dass bei der Firma keine direkt verwertbaren Vorbilder existieren. Diese Einschränkung kann sich auf die Technologie selber, aber auch auf extreme Betriebsbedingungen beziehen – besonders aber auf Kundenwünsche! Für diesen Fall der ‚top down’- Option, hat Richard Feynman klar ausgedrückt, was Sache ist, ergo was die Risiken sind:

A further disadvantage of the top-down method is that, if an understanding of a fault is obtained, simple fix, such as a new shape for the turbine housing, may be impossible to implement without a redesign of the entire engine.

So korrekt dieses Statement sein mag, so problematisch ist dagegen Feynmans Behauptung:

The Space Shuttle Main Engine was handled in a different manner, top down, we might say. The engine was designed and put together all at once with relatively little detailed preliminary study of the material and components.

Wie kommt Feynman zu dieser Behauptung?

Tim Boson:

Au weija… wie soll die „top-down method“ erfolgreich funktionieren, wenn der Chef abgelöst wird?
TSWS:

Das ist für beide Optionen gleichermaßen problematisch. Ein Grund, warum das LFAR über fünf Jahre hinweg nie nachweislich überprüft und zur Debatte stand, war sicher, dass am MSFC niemand von der Statur von Brauns zur Verfügung stand, der im Prinzip alle für beide Optionen erforderlichen Qualitäten in sich vereinte. Damit meine ich (i) fachliche Breite, (ii) kompromisslose Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem Headquarter-Management der NASA und dem MSFC-Team, aber auch im Konflikt mit den Ingenieuren und Managern der Kontraktfirmen und besonders (iii) den Mut, die beispielsweise für eine erfolgreiche „top-down method“ typische „top-down technology“ zu entwickeln und durchzusetzen. Die Entwicklung der Mondrakete wäre dafür m. E. ein Beispiel.

Reicht aber die Abberufung von Brauns aus zur Erklärung, warum sich die Lage des ‚kopflosen MSFC’ in jenen Jahren wirklich als so fatal erwies? Ich denke nein. Denn von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass die moderne Trägerraketentechnologie eine deutsche Entwicklung war, die im Dritten Reich ab 1936 entstand und in den USA (aber auch in der UdSSR) mit der SATURN V ihren Höhepunkt erreichte. Maßgeblich für ihren Erfolg war die ‚Philosophie’ Oberths und von Brauns Führungskraft & Mut. Sie lässt sich durch ein Zitat auf den Punkt bringen:

Wesentlichen Anteil hatte die konsequente Anwendung der sogenannten Systemtechnik. Darunter verstehen die Ingenieure den Gesamtprozess, der alle Ingenieurdisziplinen, Arbeitsbereiche und Verwaltungsschritte umfasst, um von einem weißen Blatt Papier zu einem funktionierenden und kompletten System neuer Technologie zu kommen.

– Axel Kopsch, Generalsekretär des Internationalen Förderkreises für Raumfahrt – Hermann Oberth – Wernher von Braun e.V. –

Auf diese Art der SYSTEMTECHNIK werden bis heute so gut wie alle Luft- & Raumfahrtingenieure in aller Welt eingeschworen; sie beschreibt das Grundmuster der ´bottom-up method`, involviert aber auch, dass für die Anwendung dieser Methode ein entsprechend geschultes Expertenteam unter einem Chef arbeitet, dessen Persönlichkeitsprofil von der Art der o. a. Items (i) bis (iii) ist!

Über 100 Peenemünder Raketenspezialisten brachten unter von Brauns Leitung zuerst für die US Air Force (u. a. Leiter der Redstone-Entwicklung, einer atomaren Kurzstreckenrakete), dann ab 1960 für die NASA die amerikanische Raketentechnologie in Gang – eben nach der ´bottom-up method`. Diesen Begriff gab es aber Mitte der 1930er Jahre noch nicht. Inhaltlich aber schon:

Für die Entwicklung der ersten voll funktionsfähigen Großraketen mit der Typenbezeichnung A4 und dem von Joseph Goebbels stammenden berüchtigten Propagandanamen V2 (V stand für „Vergeltungswaffe“) sollte man sich schon deshalb eher auf das Motto der Universität von Salamanca beziehen,

„Was Gott euch nicht gab, kann auch die Universität von Salamanca euch nicht geben.“,

Aggregat 4  - später V2
Aggregat 4 – später V2

sofern man das Gespann Hermann Oberth & Wernher von Braun als die Vollstrecker der göttlichen Vorsehung akzeptieren mag. Dieser Bezug ist allemal innovativer als ein Anglizismus, dessen Sinnerfüllung für riskante, teuere technologische Entwicklungen alles andere als leicht fällt.

Tim Boson:

Ich muss nachhaken: Die Peenemünder Experten brachten die Peenemünder ´bottom-up method` in die USA. Und Sie schließen daraus, dass allein dieser Sachverhalt schon zu Folge hatte, dass Prof. Feynman irrte, als er die SSME als einen nach der ´top down method` entwickelten gänzlich neuen Raketenmotor definierte? Das sollten Sie dem Leser plausibel machen.

TSWS:

Sie haben ganz Recht. Schon die Typenbezeichnung Aggregat 4 (A4) der V2 verrät auf einen Blick, dass es eine Entwicklung des Raketentyps gegeben haben muss, d. h. der charakteristische Fall des ´bottom-up design` vorlag. Erst die A4 erfüllte alle Erwartungen des Anforderungsprofils von 1936, nämlich eine Tonne Sprengstoff deutlich über 250 km befördern zu können. Die Vorgängermodelle A1, A2, A3 und A3korr. = A5 waren nur teilweise erfolgreich, gehörten aber in die Entwicklungsreihe der A4. Ein besonders wichtiger Gesichtspunkt gehört leider zu den dunkelsten Seiten deutscher Geschichte: Das schon damals technologisch recht komplexe ‚Aggregat 4’ mit tausenden von Einzelteilen setzte geschultes Personal in großer Anzahl voraus. Dafür wurden „spezialisierte, inhaftierte Facharbeiter & Ingenieure aus dem gesamten Reichsgebiet und den besetzten Staaten gezielt ausgewählt (sie konnten sicher sein, dass man sie wegen ihrer Einblicke in dieses Staatsgeheimnis nicht mehr freilassen würde).“

Tim Boson:

Ja, der Fakt, dass fast alle unserer heutigen wichtigen Technologien auch auf großem historischen Leid gebaut sind, hat mich an anderer Stelle schon mal beschäftigt und wird mich sicher noch weiter beschäftigen, aber das ist ein eigenes Thema….
Deshalb erstmal weiter im Text: Das MSFC, das die Peenemünder Crew übernommen hatte, wurde demnach stark durch Experten bestimmt, die ihr ganzes Berufsleben lang im Sinn von ´bottom-up design` dachten & handelten. Übrigens: Gehe ich recht in der Annahme, dass auch die Ingenieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler der US-Raumfahrtindustrie entsprechend der deutschen Tradition der ´bottom-up method` arbeiteten?

TSWS:

Doch, ich denke schon – etwas Anderes hatten sie nie gelernt, und die US-Tradition auf diesem Feld – sofern es eine nennenswerte gab – war längst überholt. Diese (unerwünschte) deutsche Einflussnahme auf die Rüstungsindustrie der USA war eine Folge der ab Juli 1945 anlaufenden ‚Operationen’: Speziell für die fundamentalen Felder der Luft- & Raumfahrtmedizin sowie der Raketenentwicklung spielte die o. a. Operation Paperclip die entscheidende Rolle. Sie war indes ein Ableger und ging auf die Operation Overcast zurück. Letztere fußte auf einer Recherche von Werner O. E. Osenberg, dem früheren Leiter des Planungsamtes beim NS-Reichsforschungsrat. Dessen ´Forschungskartei` bildete die Grundlage für die Auswahl deutscher Wissenschaftler, die nach Kriegsende in den USA für die USA arbeiten sollten. Ich erzähle das deshalb so ausführlich, weil es mir darauf ankommt, R. Feynmans Analyse von (1) bottom-up design und (2) top-down design zu relativieren: Ausgehend von deren o. a. Darstellung und ihrer beiderseitigen Verschränkung handelt es sich bei seiner Fallanalyse zumindest von Raketenmotoren um ein arges Missverständnis.

Tim Boson:

Ergo ist die SSME keineswegs ein ‚ top-down’- Produkt – jedenfalls, wie es im Wettbewerb gehandhabt wird/wurde. Die SSME ist also ebenso ‚neu’ wie seinerseits die V2, obwohl die aus der Entwicklungslinie der Peenemünder A-Aggregate hervorgegangen ist.

TSWS:

Die J-2 hätte vielleicht ein ‚ top-down’- Produkt sein können! Das ist mir mittlerweile klargeworden – falls man den Basisbegriff des ‚top-down design`, nämlich die ‚top-down Idee` durch eine für die ganze J-2 modellierte mathematische Theorie realer Zustandsänderungen ersetzt hätte. Gemeint ist der mehrfach von mir angeführte Ideale Vergleichsprozess als eine unüberschreitbare – dank des CARNOT-Prinzips naturgesetzliche – obere Schranke. Von Braun hat es vielleicht geahnt, aber ihm fehlten die dafür erforderlichen thermodynamischen Grundlagen, um die vielen widersprüchlichen Betriebserfahrungen mit diesem Raketenmotor systematisch erklären zu können.

Tim Boson:

À propos IDEALER VERGLEICHSPROZESS. Bevor wir zu Ihrem Beitrag für das STS-Projekt übergehen, sollten Sie jetzt doch den Ablauf der Ereignisse skizzieren, wie sie am MSFC ab 1974 in Bezug auf die längst überfällige Überprüfung des LFAR bis zu Ihrer Einschaltung abgelaufen sind. Dabei sei ausdrücklich auf Item (4) „Brenntests der Triebwerkskomponenten und ganzer Triebwerke“ in Ihrem o. a. Meilensteinplan hingewiesen. Ich erlaube mir auch, den Leser daran zu erinnern, dass in diesem langen Zeitabschnitt von 10 Jahren(!) alle o. a. Erwägungen mit Bezug auf Feynmans Stellungnahmen keine Bedeutung haben konnten, da seine Recherchen erst zum Challenger-Disaster 1986 erfolgten.

TSWS:

Am MSFC begann im Jahr des Starts der Brenntests 1974 auch die Amtszeit von Dr. William R. Lucas als Fourth Center Director. Niemand hatte dieses Amt – früher oder später – länger inne als er (der im Jahr der Challenger Tragödie zurücktrat). Lucas war Chemiker und promovierter Metallurge. Er kam mit von Braun zum MSFC; lt. MSFC History Office „then, he became Director of Marshall’s Propulsion and Vehicle Engineering Laboratory and developed the propulsion system for the Saturn V rocket. Under Lucas’ direction, Marshall was given responsibility for managing three of the four main Shuttle elements-the main engines on the orbiter, the twin solid rocket boosters and the huge external tank”. Das bedeutete eine neue Ausgangsbasis für das Kernteam der MSFC-Ingenieure: Als Werkstoffspezialist & Chemiker war der ‚propulsion-manager’ Lucas prädestiniert für jegliches Verständnis für die mit dem Lockheed-Gutachten LFAR zusammenhängenden Grundlagenprobleme – noch dazu hinsichtlich des Lewis Code NASA SP-273 (1976), dem international standardisierten Gleichgewichtsalgorithmus für komplexe chemische Reaktionen. Es ist deshalb un-wahrscheinlich, dass er, der die ungeklärte Auslegungsproblematik der J-2 im Hinblick auf die Brenntests aus dem ff kannte, nicht bereits zu Beginn seines Amts als MSFC-Chef in die desolate Situation des LFAR eingeweiht worden wäre. Dafür spricht wiederum eindeutig die Initiative der MSFC-Administration, mit mir 10 Jahre später Verbindung aufzunehmen und eine Konferenz diesbezüglich im Februar 1985 durchzuführen.

Tim Boson:

Man wird sich wohl mit diesem indirekten Nachweis zufriedengeben müssen, zumal ja das eigentliche unverständliche Verhalten der MSFC-Administration erst in 1982 passierte – ich meine das zweite Gutachten diesmal von der Continuum Inc., Huntsville, Ala.

TSWS:

Ja. Aber bevor ich darauf zu sprechen komme, muss ich auf einen anderen Punkt kurz eingehen, der m. W. wenig bekannt ist. Auf den machte mich mein früherer Partner beim ART-Programm Rudi Reichert von der Firma Dornier-System im Frühjahr 1984 aufmerksam.

Um angeblich die (statistische) Sicherheit des einzelnen STS zu steigern, machten die Rocketdyne-Ingenieure aufgrund der Tests im September 1980 einen erwähnenswerten Vorschlag zur Verbesserung der SSME-Brennkammer: Deren Ausgangsquerschnitt sollte um etwa 10% vergrößert werden (i. e. Large Throat Main Combustion Chamber – LTMCC). Abgesehen von dem Allerweltseinwand über die fragliche Stabilität der Verbrennungsprozesse sowie mehrere erst viele Jahre später geklärte Werkstoff- und damit verbundene Wartungsprobleme störte die Experten indes das, was sie für den entscheidenden Nachteil hielten: Der spezifische Impuls vermindere sich durch Querschnittsvergrößerung, so daß ein Großteil der verbesserten Leistung wieder aufgehoben würde.

Um es vorweg zu nehmen: Für mich war dieser Vorgang ein Indiz dafür, dass den Ingenieuren damals kein korrektes theoretisches Instrumentarium zur Verfügung stand, um offene Fragen zu beantworten, wie sie mit dem LFAR dringend geklärt werden sollten.

Tim Boson:

Haben wir hier zum Schluss einen Schlüsselsatz? Das müssen Sie kurz näher begründen!

TSWS:

Der spezifische Vakuumimpuls IEvac amAustrittsquerschnitt E) eines Raketenmotors ist die ‚heilige Kuh’ der Raketenmotor-Ingenieure. Sie ziehen aus ihren Untersuchungen Schlüsse wie „Wie erwartet reduzierte sich der spezifische Impuls um 1,4 Sekunden. Durch Verbesserung des Hauptinjektors konnten 0,4 Sekunden des verlorenen spezifischen Impulses zurück gewonnen werden. Um den restlichen verlorengegangenen spezifischen Impuls zurückzugewinnen, wurden die Triebwerke für 104,5 % Leistung zertifiziert“. Die Münchner Methode [MM] zeigt dazu konträr drei wichtige Erkenntnisse: (1) Das Ergebnis der Rocketdyne-Ingenieure basiert auf Rechnungen der klassischen Gasdynamik; sie sind für Raketenmotoren mit chemischer Verbrennung aus verschiedenen Gründen unzutreffend. (2) IEvac ist in erster Linie von der Treibstoffpaarung und dem Mischungsverhältnis, aber nicht von der gewählten idealtypischen Konfiguration des Raketenmotors abhängig. Letztere hat indes einen signifikanten Einfluss auf den Massenstrom [in kg/s] und den Vakuumschub FEvac [in kN] am Düsenendquerschnitt E. Der Zusammenhang zwischen den drei Größen ist g0IEvac = FEvac / ; mit g0 ist die Erdbeschleunigung in (See-)Höhe Null bezeichnet, d. h. sie ist eine Konstante. (3) Die Kenntnis a l l e i n von IEvac erlaubt keine Beurteilung der Leistung des untersuchten Triebwerks! Um von ihm einen konsistenten Wert zu erhalten, benötigt man zusätzlich die unabhängige Information über a als so genannten Eigenwert.

Tim Boson:

Ich kombiniere: Das heißt doch wohl, dass der (Vakuum-)Schub FEvac und der Massenstrom als eigentliche Zielgrößen jeglicher Leistungsrechnung von Raketenmotoren anzusehen sind?

TSWS:

Das ist in der Tat so. M. a. W.: Liegen die geometrischen Daten eines optimierten Raketenmotors sowie Förderdruck und Massenstromverhältnis von Brennstoff & Oxydationsmittel fest, so ist der optimale Schub FEvac eindeutig bestimmt. Die MM liefert dazu einen dem spezifischen Vakuumimpuls IEvac zugeordneten Eigenwert von . Im LFAR geht es durch die Einbeziehung der gewählten idealtypischen Konfiguration des Raketenmotors genau um diese Zusammenhänge! Es ist evident, dass die Rocketdyne-Ingenieure davon im Jahr 1980 nichts wussten. Die verantwortlichen Ingenieure des MSFC zwar auch nicht, aber sie wussten von der Existenz des LFAR, jedoch nicht, ob es korrekte Aussagen liefert. Welche Konsequenzen sich daraus im Einzelnen am MSFC und besonders für die Rocketdyne-Teams ergaben – darüber ist bis heute so wenig bekannt, dass man nur mit bestem Wissen & Gewissen mutmaßen kann.

Tim Boson:

Also – dann mutmaßen Sie einmal.

TSWS:

Zumindest die MSFC-Ingenieure, die Kenntnis vom LFAR hatten, mussten spätestens irritiert worden sein, als der 1980er Vorschlag der Rocketdyne-Ingenieure auf ihrem Schreibtisch lag. Er sprach zwar von großen Fortschritten im Sicherheitsdesign, enthielt aber keinerlei Kommentar betreffend der im LFAR angedeuteten Möglichkeit, über die Wahl der Querschnittsflächen des Raketenmotors gegebenenfalls evtl. Leistungsverluste auch durch Erhöhung der Brennkammertemperaturen auszugleichen. Es ist nicht anzunehmen, dass das MSFC ihren Vertragspartner Rocketdyne über diese Option offiziell informiert hat, bevor die Seriosität dieser Option zweifelsfrei geklärt war. Nach den Ausführungen meiner Gesprächspartner vom MSFC am 15. August 1984 suchten sie seit 1980 nach US-Experten (welcher Provenienz erfuhr ich nicht; es waren wohl, wie man der Teilnehmerliste der Tagung im Februar 1985 entnehmen konnte, die stets anwesenden omniscienten Physiker und einige Thermodynamik-Professoren), die bereit waren ein Gutachten über das LFAR zu erstellen. Das Ergebnis war, wie man mir sagte, gleich Null. Interessanterweise gab es offenbar aber auch keine Inhouse-Expertise des MSFC. Das hat mich – naiv wie ich war – am meisten überrascht, war doch am MSFC zweifellos die Crême de la Crême der Raketenexperten weltweit versammelt.

Heute weiß ich, es ist ein Signum von ‚bottom-up design’, dass sich z. B. Mitarbeiter nach einem Kodex verhalten, der aus dem “bereits Bekannten” oder dem “modisch Traditionellen” kommt und daraus auch Ideen schöpft. Leider führt das auch dazu, dass Gewohnheiten oder neuerdings verbreitete Denk- & Sprachmuster nicht wirklich hinterfragt, sondern lediglich reproduziert werden. Das Ganze kann dann in einem SYSTEMFEHLER enden. M. a. W.: Soll ‚bottom-up design’ erfolgreich sein, muss diese Praxis Gleichschaltung im Denken voraussetzen. Das wäre eine Art innersystemische Political Correctness: Wer dagegen ist, fliegt! Das Problem dabei ist, dass eine Gemeinschaft von Mitarbeitern die Tendenz hat, irgendwann nur noch sich selbst zu referieren. Es kommt zur Degeneration durch “systemische Inzucht”. Was ursprünglich scheinbar der bequemere Weg war, nämlich die Selbstbestätigung in der Tradition, kann dann plötzlich zu besagtem Systemfehler kollabieren. Zusammengefasst: Die Strategie eines ‚bottom up design’ fühlt sich am Anfang für alle zwar “bequemer” oder “sicherer” an – tatsächlich ist sie aber durchaus riskant, wenn auch begrenzt.

Tim Boson:

Können Sie mir verraten, wieso die missliche Lage, die Sie geschildert haben, ausgerechnet durch eine doch ungewöhnliche Entscheidung des MSFC, sagen wir, ‚eingedämmt’ wurde? Ich meine, den Auftrag an Mr. P. R. J., zum Lockheed-Gutachten eine schriftliche gutachterliche Stellungnahme abzugeben, also sein eigenes Gutachten damit noch einmal zu begutachten?

TSWS:

Verraten kann ich es Ihnen nicht, da ich es nicht weiß. Verraten will ich Ihnen aber, warum ich es nicht wissen kann. Dazu hat mir mein Freund, der Präsident des IFR, Prof. Dr.-Ing. Dr. h. c. Peter Kramer am 14. Oktober 2010 in einer Mail eine interessante Beobachtung mitgeteilt. Sie bezog sich auf die derzeitigen Bemühungen der «European Space Agency (ESA)», ab 2008 mit der Studie Lapcat II (Long-Term Advanced Propulsion Concepts and Technologies II) in die Technologieentwicklung von „hydrogen-fuelled Mach 5 and Mach 8 transport concepts“ einzusteigen, in der Hoffnung auf Kooperationsmöglichkeiten mit den USA.

Wie naiv sind die ESA-Leute eigentlich? – meinte Prof Kramer und fügte hinzu: Solche ‚Concepts’ sind bei den Großmächten ‚top secret’. Und er erinnerte daran, dass es deren Fachleuten “strikt untersagt ist, extern zu kommunizieren.“ Um sich unter solchen ´Top-Secret-Projects` wie der Lapcat-Serie wenigstens etwas Konkretes vorstellen zu können, präsentiere ich das folgende Modell von Lapcat MR1 (Mach 8 vom Dorsal-Type), ohne auf Details einzugehen:
LAPCAT- MR1 (Mach 8) Oct. 2008
Tom Boson:

Jetzt verstehe ich, wie groß die Not für die MSFC gewesen sein muss, um sich an einen Ausländer, keinen Engländer, Kanadier, sondern ausgerechnet an einen Deutschen zu wenden, der noch dazu im Jahr der Promotion Wernher von Brauns geboren wurde.

TSWS:

Sie werden sicher verstehen, dass ich unter den mir schon seit Jahren bekannten, damals bereits rigorosen Ausländerbestimmungen der USA, gar im Zusammenhang mit ´Top-Secret-Projects` auf diesbezügliche Befindlichkeiten meiner Gesprächspartner von der NASA Rücksicht genommen habe. Interna im MSFC waren absolut tabu. Dennoch hat mich diese Erfahrung von vorneherein bewogen, meine Zustimmung zu einer Zusammenarbeit mit dem MSFC von zwei Vorbedingungen abhängig zu machen: (i) Meine Beratungsfunktion war (bis auf die Erstattung reiner in den USA anfallender Unkosten) kostenlos und erfolgte ohne jegliche vertragliche Verpflichtung zwischen mir und der NASA; Meine Informationen, welche das MSFC von mir erhielt, waren keineswegs exklusiv; sie konnten von mir jederzeit veröffentlicht werden und (ii) Ich erwartete vom zuständigen Bundesministerium für Forschung & Technologie (BMFT) eine adäquate Unterstützung; sie betraf

– den Auftrag, im Interesse des BMFT meine Beratungsfunktion für die NASA wahrzunehmen und abzuschließen,

– die Option, für meine Reisen in die USA den regelmäßigen Flugdienst der Bundeswehr in die USA und zurück kostenfrei zu nutzen, und

– zuletzt, den zeitlichen & finanziellen Support meines Vorhabens, die wissenschaftlich gewichtigen Items der Beratungstätigkeit in einem Buch zur Theorie moderner Raketentriebwerke zu dokumentieren .

Die Vereinbarung mit dem BMFT erwies sich als optimal, die Kooperation mit der NASA eher als ‚suboptimal’, da meine bis dahin (1985) unveröffentlichten Informationen von der NASA – natürlich entsprechend umgeformt, verformt, ohne Quellenangabe, etc. – als NASA-Report veröffentlicht wurden (1988), bevor mein Raketentriebwerksbuch erscheinen konnte (1989). Als Fazit sind drei uralte Floskeln am ehesten angebracht: (I) C’est la vie. (II) Roma locuta causa finita. Als besonders ‚prophetisch’ erwies sich – die dritte Strichaufzählung betreffend – die Maxime des spätrömischen Kriegstheoretikers Publius Flavius Vegetius Renatus: Si vis pacem para bellum.

Tim Boson:

Ich bin so geprägt worden, dass mich solche starken gemeisselten Worte gleichermaßen anziehen wie auch etwas einschüchtern, aber diese „Prophetie“, auf die Sie anspielen, macht mich ebenso neugierig. Ebenso, wie die Abmachung, derzufolge Ihre Beraterfunktion für die NASA ohne Honorar erfolgte – Sie erscheint mir wahrlich ungewöhnlich für eine solche Anfrage an einen deutschen Professor

TSWS:

So kann man das nicht sagen. Natürlich ist es auch eine Frage der Perspektive: Aus meiner Sicht waren meine Tätigkeiten für die NASA »zwar umsonst, aber nicht vergeblich«. Jedoch stellen Sie sich bloß einmal die Alternativen vor: … »zwar vergeblich, aber nicht umsonst« … oder gar »zwar umsonst, aber auch vergeblich«? Auf die letzte Version muss ich mich leider noch einlassen!

Immerhin erlaubte mir mein BMFT-Auftrag, zu dessen Abschluss einerseits im November 1986 auf Regierungskosten mutterseelenallein zwei Wochen in einem ruhig gelegenen Hotel in Baden-Baden zu verbringen, um konzentriert und völlig ungestört die Konzeption meines Raketentriebwerksbuchs als Dokument meiner Tätigkeit für die NASA zu entwerfen. Zudem war es für das Buch unumgänglich, komplizierte Berechnungen und umfangreiche Literaturrecherchen vorzubereiten. Andererseits war es auch der Anfang einer notwendigen Zeit der Besinnung. Denn der Event damals in Huntsville, Ala war für mich der Beginn eines neuen Lebensabschnitts: Ich wurde mir nicht gleich, aber zunehmend klarer bewusst, was es persönlich & fachlich für mich bedeutete, als einziger Europäer zur aktiven Unterstützung der NASA in einer für sie heiklen Situation gebeten worden zu sein. Ich lernte dabei, die langfristige Bedeutung bemannter Raumfahrt unter technologischen, aber auch utopischen Perspektiven zu erkennen und zu begreifen, was Verantwortung auch in den theoretischen Wissenschaften bedeutet. Vor allem aber entdeckte ich meine Neigung, schriftstellerisch tätig zu sein, um für meine breiten wissenschaftlichen Interessen an den physikalischen Grundlagen eine schriftliche Plattform zur systematischen Darstellung komplexer Ideen und mathematischer Theorien zu schaffen. Von dieser Arbeitsmethode profitiere ich seitdem täglich – auch in den inzwischen zehn Jahren Ruhestand.

Tim Boson:

Sofern ich Sie richtig verstehe, war der konkrete Auslöser, dass Sie mit der Münchner Methode (MM) zwar ; im Kopf, aber noch unveröffentlicht zum Huntsville-Meeting 1985 anreisten. …

TSWS:

….. um dann 1988 zu meiner Überraschung den Versuch einer kritischen Beschäftigung & Klärung der im Lockheed-Gutachten (LFAR – 1969) behandelten fundamentalen Problematik in einem NASA-Report entsprechend der abschließenden Empfehlung des Huntsville-Meetings zu entdecken.

Diese Empfehlung wurde von einem durch die Konferenzleitung eingesetzten Gremium bestehend aus 5 Experten, darunter vier Professoren in einer Art ´Konklave` erarbeitet. Sie kam einstimmig zustande und bezog sich auf die von mir auf der Konferenz vorgetragenen Anwendungen der MM; letztere waren durch die fraglichen Reports von Lockheed (1969) & Continuum Inc. (1982) definiert. Die von mir präsentierten Informationen versetzten daraufhin die beiden Autoren des bislang sakrosankten standardisierten Lewis Code NASA SP-273 in die Lage, bis 1988 zum Thema der Konferenz einen ‚Erfahrungsbericht’ vorzulegen. Es gelang ihnen somit, die ‒ von Mr. P. R. J. am Beispiel der J-2 präsentierte und mit ›Finite Area Combustion (FAC)‹ titulierte ‒ Methode mit dem von mir vorgetragenen Algorithmus zur Berechnung des Massenstroms der Verbrennungsprodukte zu ergänzen. Anschließend war es für sie ein Leichtes, ihr Resultat mit ihrem originalen Code zu verknüpfen. Den ganzen konzeptionellen Hintergrund sowie die theoretische Berechtigung meines Algorithmus konnten sie indes nicht systematisch beweisen; das blieb meinem Buch «Thermofluiddynamics of Optimized Rocket Propulsions: Extended Lewis Code Fundamentals» vorbehalten. Formal entsprach ihr Verhalten bei großzügiger Auslegung durchaus der Konferenzempfehlung, und dem Zweck der Konferenz entsprechend war es wohl der NASA ‚geschuldet’, zumal ja von vorneherein keine Schutzklauseln zwischen dem Konferenz-Veranstalter MSFC und mir vereinbart worden waren.

Tim Boson:

Bevor wir endgültig auf die Zielgerade einbiegen, um uns mit Hintergrund ebenso wie Sinn und Zweck der MM für Raketenmotoren zu befassen, müssen wir wohl noch die Frage beantworten: Wie kam es nun aber zur Huntsville-Konferenz?

TSWS:

Der eigentliche Auslöser war eindeutig eine mir zunächst nur teilweise nachvollziehbare Management-Entscheidung am MSFC. Erst nachdem sich offenbar kein amerikanischer Experte bereit erklärt hatte, das Lockheed-Gutachten kritisch zu durchleuchten und eine schriftliche Expertise anzufertigen, reagierte das MSFC. Continuum Inc. in Huntsville, Ala erhielt den offiziellen Auftrag, den ‚technical brief – 1969’ im Sinn eines Memorandums des Lockheed Konzerns mit einem ‚FINAL REPORT’ ‒ deklariert unter: „An Investigation of Equilibrium Concepts ‒ abzuschließen. Das war 1982. Diese kleine Firma hatte damals Contracts mit dem Langley Research Center der NASA in Hampton Virginia eingeworben. Somit war der Contract mit dem MSFC nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich erschien allerdings, dass inzwischen Mr. P. R. J. die Leitung der Firma übernommen hatte und den angeforderten ‚Final Report’ erstellte. Von Expertisen war offiziell nie die Rede.

Tim Boson:

Wie zogen sich denn die an diesem ´dubiosen Arrangement` beteiligten Parteien aus der Affäre?

TSWS:

Die Zuspitzung Ihrer Frage scheint mir sehr Ihrem geradlinigen europäischen Gemüt zu entsprechen. Ich musste in Huntsville, Ala erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass keiner meiner amerikanischen & deutsch-amerikanischen Gesprächspartner diesbezügliche Anspielungen machten, Erwägungen anstellten, gar einen Interessenkonflikt vermuteten. Offensichtlich ging es um ´business as usual`. Warum indes diese Art der Begutachtung sogar sachlich unbeanstandet blieb, will ich jetzt kurz darlegen: Alles lief kurz und schmerzlos ab, und sogar die Verzögerung von 12 Jahren bis zur endgültigen Klärung hatte ihr Gutes, lieferte sie doch dem ‚Gutachter’ sowie in Personalunion dem ‚Gutachter-Gutachter’ das passende Argument zu seiner Entlastung.

Tim Boson:

Na, eines gewissen Sarkasmus können Sie sich wohl auch nicht enthalten!

TSWS:

Da haben Sie ganz Recht. Das wirklich Verblüffende an der lediglich 10 DIN-A4-Seiten umfassende Continuum-Expertise (C-E) ist im Vergleich zum LFAR ihre inhaltliche Leere. Mehr noch: Der Leser soll den Eindruck gewinnen, dass es völlig genügt, „Foreword and Summary“ zur Kenntnis zu nehmen, sich gar mit wenigen Schlüsselsätzen daraus zu begnügen:

The information presented here deals with a different approach to modelling of the thermochemistry of rocket engine combustion phenomena. While the approach is essentially unverified by extensive test data, it does advance a rationale that explains some troubling discrepancies in the conventional model. The methodology described here is based on the Continuum, Inc. hypothesis of a new variational principle applicable to compressible fluid mechanics. This hypothesis is extended to treat the thermochemical behavior of a reacting (equilibrium) gas in an open system.

Das war’s, sofern man noch ergänzt, dass auch der Name des MSFC-Controllers erwähnt wird, der die Abwicklung des Contracts (Number NAS 8-34946) zu begleiten hatte.

Ich habe mir erlaubt, das Original zu nutzen, um sprachliche Ausflüchte zu unterlaufen. Meine Interpretation geht also zunächst von o. a. Zitat aus. Sie lässt sich in vier Statements zusammenfassen:

(i) Die C-E befasst sich mit der mathematischen Beschreibung der thermochemischen Verbrennungs-Phänomene in Raketenmotoren. Im Vergleich zum Standardalgorithmus des NASA-Lewis Code (ursprünglich nach R. J. Zeleznik & S. Gordon, 1962) beschreibt die C-E einen vom NASA-Lewis Code abweichenden ›Zugang‹ (approach) zu den resultierenden Gleichgewichtskonzentrationen des Verbrennungsgases. Dieser neue ›Aproach‹ berücksichtigt entsprechend dem LFAR alle für den Raketenmotor relevanten geometrischen Größen als zusätzliche Betriebsparameter.

(ii) Das Urteil über den ›Zugang‹ als „im Wesentlichen unbestätigt“ (essentially unverified) bezieht sich auf die umfangreichen Testdaten, die erst ab 1974 für die SSME ermittelt wurden. Über das J-2 Triebwerk heißt es hingegen schon im LFAR: „The excellent comparison with the experimental evidence indicates that for this case at least, finite rate, droplet vaporization, mixing and boundary layer are secondary effects and the principle source of error has been the misstatement of the equilibrium condition”.

(iii) Der ›Zugang‹ erweitert die logischen Grundlagen (a rationale), wodurch einige lästige Unstimmigkeiten im Standardalgorithmus erklärt werden können.

(iv) Die Erklärung selbst gelingt mit einem ´Variationsprinzip für die kompressible Fluiddynamik`, das auf einer von Continuum Inc. neuerdings vertretenen Hypothese basiert.

Tatsächlich kaschieren die Items (i) bis (iv) jene Probleme, um derentwillen sich das MSFC an meiner Unterstützung bei gewissen thermodynamischen Grundlagen moderner Raketenantriebe interessiert zeigte. So fällt auf, dass Mr. P. R. J. als Autor beider Papers von 1969 & 1982 mit keinem Wort auf die unter Item (ii) erwähnten Differenzen zwischen seiner Theorie im LFAR und den Brennkammertests an der SSME eingeht. Nichts findet sich auch zu dem am J-2 Triebwerke exemplifizierten und seit 1969 ungeklärten Problem der ‚wahren’ Brennkammertemperatur! Ungeklärt bleibt somit weiterhin die enorme Temperaturdifferenz von 640 Grad zwischen den Werten 3355 K & 2715 K, wie sie aus dem originalen Code der „Adiabatic Flame Expansion“ nach Gordon & McBride sowie dem „Finite Area Combustion (FAC)“ – Aproach im LFAR resultieren. Zumindest ein banaler Grund für dieses Defizit lässt sich nicht leugnen; er betrifft auch die überraschende Erfahrung, dass der vorgelegte Report keine Analyse der Überschallströmung nach dem Düsenhals enthält, was eine Gesamtbewertung des Report verhindert. Auf p. 9 heißt es dazu im Original:

No success has resulted from a limited attempt to apply the principle beyond the throat. To solve this problem was beyond the scope of work of the contract and beyond the available funds in the contract.

Tim Boson:

Meine Fresse, sage ich da auf berlinisch: Continuum Inc. liefert dem Auftraggeber MSFC einen Torso ab, weil das Geld für den Kontrakt nicht für eine Analyse bis zum Düsenende – sondern nur bis zum Düsenhals reicht! Eigentlich kann so Etwas gar nicht wahr sein. Gibt es eine Erklärung für ein solches Verhalten?

TSWS:

Ja, und Sie werden es nicht glauben: Im LFAR (pp. 22/28) wird dem Leser folgender Kommentar zu den ermittelten Brennkammerdrücken & -temperaturen für den Fall der J-2 zugemutet:

„The figures discussed above are of only academic interest to the propulsion designer who is principally interested in performance”. .. [With respect to] the constrained entropy maximization procedure appears to explain one of the least understood of the combustion phenomena. .. The excellent comparison with the J-2 experimental evidence indicates that for this case at least, finite rate, droplet vaporization, mixing and boundary layer are secondary effects, and the principal source of error has been the misstatement of the equilibrium condition.

Es ist mir nach wie vor schleierhaft, wieso das MSFC 1969 den aberwitzigen Standpunkt von Mr. P. R. J. akzeptiert hat. Geradezu absurd klingt seine apodiktisch vertretene Äußerung, wonach die von ihm ermittelten Werte der Brennkammertemperatur nur von „akademischem Interesse“ seien. Ihm darüber hinaus noch durch einen weiteren ‚Contract’ die Gelegenheit einzuräumen, da fortzufahren, wo er 13 Jahre früher sein „future Work“ angekündigt hatte ‒ lässt sich wohl nur als erfolgreiche Lobby-Arbeit registrieren! Man muss die Chuzpe bewundern, mit der Mr. P. R. J. einzig unter dem Hinweis, dass sich sein „Approach“ durch die mittlerweile vorliegenden Testergebnisse als „essentially unverified“ erwiesen hätte, keineswegs daran dachte, eben jenen Standpunkt zu revidieren ‒ wenigstens zu relativieren! Ganz im Gegenteil: Er nutzte die Gelegenheit, um seinen „Approach“ in die akademischen Höhen naturwissenschaftlichen Rationalität zu hieven, gar zum Ausdruck eines logischen Prinzips avancieren zu lassen. Glücklicherweise lässt sich die Wurzel solcher Hybris identifizieren: In seiner C-E (p. 5) beruft sich Mr. P. R. J. explizite auf den US-Eisenbahn-ingenieur Josiah Willard Gibbs unter Bezug auf dessen in den Jahren 1876 bis 1878 entstandenes Hauptwerk »On the Equilibrium of Heterogeneous Substances«. Mr. P. R. J. behauptet, dass Gibbs’ statements

deal with isolated systems. Thus Gibbs dealt with thermostatics but not necessarily with thermodynamics.

Diese Behauptung ist falsch! Wie Gottfried Falk in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen hat, beschreibt Gibbs in seinem o. a. Hauptwerk eine völlig neue für die gesamte Physik geltende mathematische Darstellungsmethode – die Falk als ›thermodynamische Methode‹ bezeichnet. Letztere exemplifizierte der geniale amerikanische Yale-Professor mit der damals bekannten Thermostatik. Begriffe wie isolierte oder offene, statische oder dynamische Systeme kommen überhaupt nicht vor. Diese ›thermodynamische Methode‹ bildet auch die physikalische Basis der Münchner Methode.

Timo Boson:

Stopp, ich bin irritiert: Ich dachte immer, die Expertise der Firma Continuum Inc. betrifft die längst überfällige kritische Überprüfung der von Mr. P. R. J. für den Lockheed Konzern in 1969 ausgearbeitete Studie. Letztere überprüft den Einfluss einer finiten Brennkammer-Querschnittsfläche AC auf die Zustands- & Leistungsdaten im Vergleich zum standardisierten NASA-Lewis Code, der für die Modellierung der Verbrennungsgase aller Raketenmotoren stets den Grenzfall AC ; ∞ voraussetzt.

TSWS:

Sollte man meinen! Zudem vertraten Vertreter des MSFC diese Meinung auch beim entscheidenden Gespräch am 15. August 1984 in München. Darin baten sie mich, eine Expertise zu den divergierenden Daten abzugeben, wie sie inzwischen beim Vergleich von Theorie und Brennkammer-experimenten beim SSME-Triebwerk ermittelt worden waren.

An diesen Gesprächsverlauf erinnere ich mich noch deshalb so genau, weil ich große Bedenken hatte, der vorgetragenen Bitte vorbehaltlos zu entsprechen. Ich hatte schon vor Jahren von dem exorbitanten Aufwand gehört, den z. B. ROCKETDYNE beim SSME-Wettbewerb für die Datenbeschaffung getrieben hatte (s. o.), und fürchtete, dass man mir bei einer Zusage zur erwünschten Stellungnahme ein Übermaß an einschlägigen Dokumenten liefern würde.

Nun gut, meine Befürchtung erwiese sich als unbegründet. Nach wenigen Tagen erhielt ich per Post zwei mir unbekannte schmale Papers mit total ca. 40 DIN-A4-Seiten – (1) das Lockheed-Memo-randum LFAR von 1969 und (2) den Continuum-Final-Report von1982 – hier als ‚Continuum-Expertise (C-E) bezeichnet. Nach Rücksprache mit dem BMFT war ich ab sofort ‚im Geschäft’.

Tim Boson:

Erinnern Sie sich noch daran, als Sie die ´Post aus Amerika` in Händen hielten – anstelle der befürchteten Datenflut enthielt sie lediglich zwei kompakte Arbeitsberichte, deren Publikation 13 Jahre auseinander lag und vom selben Autor stammten? Grob formuliert: Beide Papers genügten, damit Sie ins ‚kalte Wasser’ oder gar ins ‚Haifischbecken’ sprangen: Haben Sie es je bereut?

TSWS:

Frage 1 kann ich uneingeschränkt mit Ja beantworten.

Frage 2 mit klarem jein.

a Nein: Ich wiederhole mich; ohne die Erfahrung mit der NASA hätte ich wohl kaum meine Bücher geschrieben, und als Universitätsprofessor an einer Fakultät für Luft- & Raumfahrt fühlte ich mich in vieler Hinsicht verpflichtet, der Bitte zu einer fundierten Expertise für das MSFC zu folgen.

a Ja, weil ich zu viele Fehler gemacht habe: ich war viel zu naiv und gutgläubig. Um es auf den Punkt zu bringen: Wie sich spätestens Ende März 1989 herausstellte, war ich für das MSFC-Meeting im Februar 1985 in Huntsville der nützliche Idiot, um mit der Münchner Methode einen ‚Expertenbeschluss’ herbeizuführen, der gestattete, die beiden Papers von Lockheed und Continuum Inc. kurz & bündig & ein für alle Mal im Orkus zu versenken. Die Verantwortlichen des MSFC waren durch das klare Votum des ‚Expertengremiums’ aus dem Schneider. Sie brauchten mich also nicht mehr! M. a. W.: “Der Mohr hat seine Arbeit getan, // Der Mohr kann gehen. … „ (F. Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua II, 5). ‚Gehen’ reichte ihnen aber nicht.

Tim Boson:

Klar, die NASA stand weltweit im Ruf, die Hohenpriester aller Hochtechnologie zu versammeln. Und dann ausgerechnet wieder einem Deutschen die ‚Schlüsseltheorie’ der SSME zu verdanken…?

TSWS:

… An eine solche Absurdität dachte kein Mensch. Die Herren vom MSFC erwarteten 1984 von mir bestenfalls eine tragfähige & brauchbare Antwort auf das im LFAR angesprochene Temperaturproblem. Dass ich ein Jahr später mit einer neuartigen Theorie im Kopf in Huntsville auftauchen würde, konnte niemand vorhersehen. Deshalb konzediere ich den Herren, die mich zur Teilnahme am Huntsville-Workshop 1985 in den Räumen der Continuum Inc. überredet haben, dass sie nicht von vorneherein ein doppeltes Spiel mit mir in ihre Planungen einbeziehen wollten. Aber der interne Sachzwang sowie die inhärente Konkurrenzsituation unter den NASA-Zentren wurden schnell so stark, dass sie sich ihnen letztlich nicht entziehen konnten. So kam es, wie es kommen musste: Die Doppelstrategie bestand darin, die weltweit als Standard geltenden Computer Codes „for Calculation of Complex Chemical Equilibrium Compositions & Applications, etc.“, nämlich NASA SP-273, 1976 und NASA TM 86885, 1984 der drei Autoren Sanford Gordon, Bonnie J. McBride, und Frank J. Zeleznik um jeden Preis als sakrosankt zu erklären und sie durch ‚Experten’ bestätigen zu lassen. Apodiktisch hatte zu gelten:

(1) The NASA-computer programs .. were capable of calculating theoretical rocket performance based only on the assumption of an infinite area combustion chamber (IAC).

(2) An Option has been added to this program which now also permits the calculation of rocket performance based on the assumption of a finite area combustion (FAC).

Die unter Punkt (2) angesprochene Option wurde im April 1988 unter dem Titel „Finite Area Combustor Theoretical Rocket Performance“ als NASA Technical Memorandum 100785 der beiden erstgenannten Autoren publiziert. In diesem Memorandum findet der Leser auch den unter Punkt (1) explizit zitierten Text. Ergänzend sollte er wissen: Dr. Sanford Gordon war im Februar 1985 Teilnehmer beim Huntsville-Meeting; er hörte mein Referat zur Münchner Methode und gehörte zu den Experten, die einstimmig die MM als theoretische Basis zur Lösung der auf der Konferenz behandelten Problematik empfahlen. Im Memorandum 100785 von Gordon & McBride ist davon keine Rede.

Tim Boson:

Dann kam 1989 Ihr Raketentriebwerksbuch (auf Englisch) heraus, und falls ich mich recht erinnere, begann damit der eigentliche Schlamassel?

TSWS:

Ja, das ist richtig! Das war der Beginn jenes Teils der ganzen Story, den ich rückblickend nur als ein Musterbeispiel dessen interpretieren kann, was John Horgan 1996 in seinem provokanten Traktat „The End of Science“ als Ironic Science bezeichnet hat. Lt. Northrop Frye lässt die moderne Literaturtheorie keinen anderen Schluss zu, als dass „alle Texte »ironisch« sind“, d. h. sie besitzen mehrere Bedeutungsebenen, von den keine die maßgebliche ist. Die Folge: Im Prinzip ein unendlicher Regress von Interpretationen! Für die Naturwissenschaften erscheint eine solche Konsequenz als unakzeptabel. Dennoch ist »Ironic Science« für sie keineswegs wertlos. Denn auch die Naturwissenschaftler müssen zugeben, dass es keine Logik der Wissenschaft geben kann; auch sie erarbeiten & verteidigen wissenschaftliche Theorien aus letztlich subjektiven und sogar irrationalen Gründen. Das o. a. Zitat unter Punkt (1) belegt diese Argumentation und gehört zu den Motiven, die zu der Kampagne gegen mich geführt hat, über die ich jetzt kurz berichten will.

Tim Boson:

So wie ich Sie bisher kennengelernt habe, werden Sie den Ausdruck »Kampagne« mit Bedacht gewählt haben – ergo in der Bedeutung von »Feldzug mit zeitlich befristeten Aktionen«?

TSWS:

Diese Bedeutung trifft ins Schwarze. Im April 1988 war wie gesagt, die erste Aktion abgeschlossen: Mit dem Memorandum von Gordon & McBride zur „Finite Area Combustor Theoretical Rocket Performance“ war die Deutungshoheit der NASA mit ihrer jeweils geltenden Version für das Design von Raketentriebwerken wieder hergestellt. Mein Raketentriebwerksbuch war für April 1989 avisiert. Am 28. März 1989 berichtete der Bostoner Amerikarepräsentant E. F. B. meines Schweizer Verlags – Birkhäuser: Basel • Boston • Berlin – per FAX seinem Basler Bevollmächtigten B. Z. von einem aufschlussreichen Gespräch mit einem NASA-Manager des ›NASA John H. Glenn Research Center at Lewis Field‹ (ab 1999). Gegenstand des Gesprächs waren mein Buch und meine Person. Das Erstaunliche ist zweifellos, dass dem ‚NASA Lewis’ (d. h. die im FAX gebräuchliche Abkürzung für dieses NASA Center) ohne mein Wissen detaillierte Informationen über mein Buch lange vor dessen offiziellem Publikationsdatum zugespielt wurden. Immerhin habe ich diesem ernsten Vertrauensbruch zu verdanken, dass ich wenigstens erfuhr, was sich hinter den Kulissen damals zusammenbraute, nämlich der Auftakt einer Kampagne gegen meine Person, die über fünf Jahre dauern sollte. Ich will mich hier kurz fassen und aus dem FAX drei Items im Original zitieren, die für sich sprechen:

Das FAX beginnt kurz & bündig: „ Dear Benno, This memo is to record the comments from ….. as I outlined to you during our visit. The points he made are:

(1) „The book will find resistance here for a number of reasons. The criticisms of the USA are put in a very arrogant tone. The Challenger criticism is specious since this analysis hat little if anything to do with its crash. NASA Lewis is very sensitive to criticisms of foreigners”.

(2) “[NASA Lewis] understands the criticism of the rocket code but doesn’t know if Straub fully describe the alternatives. Doesn’t agree with some of the assertions, e. g. his contention that this analysis applies to air breathing rockets”.

(3) – “The USA does not traditionally use 2nd Law thermodynamic analysis though other countries do”.

– “NASA is the strongest opponent to 2nd Law analysis (spokesman for which is Kleinburg at NASA Lewis), but they do not build rockets and are not fully influential in what the manufacturing companies will do”.

Ich werde zu diesem Text keine Stellung nehmen, da er primär eine verlagsinterne Korrespondenz wiedergibt, über deren Authentizität ich nichts weiß. Das FAX spart den Namen des Gesprächspartners von NASA Lewis aus; ihn will ich aber nennen: Dr. Frank J. Zeleznik (died Oct. 16, 2009), Senior Research Scientist, Aerothermochemistry Branch am NASA Lewis, wiederholte fünf Jahre später in einer infamen Polemik genau die mir von ihm in Item (1) unterstellte, angeblich nur scheinbar zutreffende „Challenger criticism“. Er zusammen mit Dr. Sanford Gordon entwickelte ab 1959 die Urversion des NASA-Lewis Code for „Equilibrium Compositions & Theoretical Rocket Performance and Propellants und verschaffte damit der NASA praktisch ein weltweites Monopol.

Tim Boson:

Aus der ganzen Abfolge Ihrer Story muss der aufmerksame Leser den Eindruck gewinnen, Sie berichteten über eine Art von Verschwörungstheorie. Oder was wäre die Alternative?

TSWS:

Ihr Eindruck wird durch die unmittelbare Fortsetzung der Geschehnisse eher noch verstärkt werden. Dennoch kann ich ihn – vom heutigen Wissensstand aus beurteilt – nicht bestätigen. Allerdings will ich es nicht riskieren, mit einigen markigen Sätzen hier & jetzt eine abschließende Beurteilung herbeizuzaubern; ohne einige zusätzliche Informationen wäre die Gefahr weiterer Missverständnisse einfach zu groß! Ein solcher Schluss drängt sich schon deshalb auf, weil Ciceros berühmte Frage ‚qui bono’ immer noch nach einer Antwort verlangt: Warum legte das MSFC Wert auf meine Beurteilung der beiden Studien von Mr. P. R. J., wenn die NASA am Lewis Center über die führenden Experten verfügte, die nach dem Konklave vom Februar 1985 plötzlich auftauchten und innerhalb kurzer Zeit nach eigener Bewertung die abschließende Antwort mit dem Report ›Finite Area Combustor Theoretical Rocket Performance‹ präsentierten? Und diese definitive ‚Antwort’ enthielt als Referenzen – abgesehen von einer Ikone der US-Rocket-Propulsion-Theory – nur Papers aus dem Umfeld des Lewis Research Center. Von den beiden Studien der Lockheed Corporation und Continuum Inc. – letztlich die ‚Initialzündung’ der Bemühungen des MSFC – ist dagegen in dem o. a. Report keine Rede.

Tim Boson:

Es war ja noch nichts Schlimmes mit den SSMEs passiert, die Hierarchie des MSFC hatte mit der ‚Ausschaltung’ von Mr. P. R. J. sinistren Theorien nichts mehr zu befürchten. Mehr noch: Eine für endliche Brennkammergeometrien gültige Erweiterung des bewährten NASA-Lewis-Codes stand ab 1988 auch als NASA-Produkt zur Verfügung. Aber da waren bedauerlicherweise Sie noch und Ihre ‚potentiellen’ Prioritätsansprüche, zwar nicht vertraglich begründet, aber doch wohl entsprechend akademischen Gepflogenheiten?

TSWS:

Tim, Sie sind auf der richtigen Spur: Mein 265-Seiten-Raketentriebwerksbuch konkurrierte nicht nur mit einem 16-Seiten-NASA-Report, sondern es wurde sogar durch die Deutsche Bundesregierung öffentlich gefördert: „commissioned by the Federal Minister for Research & Technology“. Dessen Veröffentlichung in der Schweiz zu unterbinden, wäre wohl auch kaum im Interesse der US-Regierung gelegen. Nach der Logik von Dr. Zeleznik – jedenfalls, wie ich sie in den nächsten Jahren kennen lernen sollte – musste demnach der Autor der »Thermofluiddynamics of Optimized Rocket Propulsions – Extended Lewis Code Fundamentals« in seiner Kompetenz desavouiert und der Buchinhalt selbst als unmotiviert, physikalisch unbegründet, falsch, etc. angeprangert werden. Vor allem die letzte Maßnahme war für Dr. Z. & Co. von größtem Interesse, da sie am ehesten die angepeilte Breitenwirkung versprach.

Der Rede kurzer Sinn: Ich hatte damals, d. h. ab Mitte 1989 keine Ahnung von den mancherlei Machenschaften, die sich hinter meinem Rücken anbahnten, zumal ich von jenem o. a. Gespräch zwischen dem US-Repräsentanten des Birkhäuser-Verlags und Dr. Zeleznik erst nach 1993 erfahren habe. Für mich war damals mit dem Erscheinen meines Raketentriebwerksbuch das ‚Event NASA’ faktisch abgeschlossen, zumal ich intensiv mit meinem ersten Hauptwerk »Eine Geschichte des Glasperlenspiels • Irreversibilität in der Physik – Irritationen und Folgen« befasst war und das in 1990 ebenfalls im Birkhäuser-Verlag erschien. So war ich doch ziemlich überrascht, ebenfalls im selben Jahr von einem Workshop in Huntsville zu erfahren, der früh im folgenden Jahr stattfinden sollte. Thema: ›Gibbs-Falk-Dynamik & Alternative Theorie‹. Organisator war wieder das MSFC.

Tim Boson:

Stopp: Hier sollten wir dem Leser kurz erläutern, um was es dabei ging. Sie haben mir gegenüber immer wieder betont, dass dieses Thema die physikalische Grundlage der Münchner Methode (MM) sei. Die «Gibbs-Falk-Dynamik» geht auf den vielleicht berühmtesten amerikanischen Naturwissenschaftler und Eisenbahningenieur Josiah Willard Gibbs (1839 – 1903), Professor in Yale zurück. Sein erstes Meisterstück, seine Thermostatik, erwies sich nach den breit angelegten Untersuchungen von Gottfried Falk, mathematischer Physiker an der Universität Karlsruhe, als ein universelles naturwissenschaftliches Verfahren ‒ Professor Falk nennt es ´THERMODYNAMISCHE METHODE`‒ das für alle Disziplinen der Makrophysik gleichermaßen zutrifft, aber auch für die Quantenphysik gilt. Diese Theorie findet ihre mathematische Beschreibung im Phasenraum, d. heißt in einem hochdimensionalen Raum, der durch die ALLGEMEIN-PHYSIKALISCHEN GRÖSSEN aufgespannt wird; Die üblichen Parameter Raum und Zeit gehören nicht dazu! Spezifiziert man sie als die linear affinen drei Raumkoordinaten sowie die (irreversible) Zeit, so gelingt die Transformation des Phasenraums in den Beobachtungsraum, in dem sich die alltäglichen Ereignisse des Lebens registrieren lassen. Das Resultat dieser Transformation bezeichnen Sie seit Jahrzehnten bekanntermaßen als ALTERNATIVE THEORIE. Letztere, die AT, beschreibt im 3d-Raum und in der irreversiblen Zeit die in der Natur möglichen physikalischen Prozesse, die ausnahmslos irreversibel sind und in aller Regel im Nichtgleichgewicht ablaufen. Das sollte hier für den Moment genügen.

Wir werden indes gegen Ende unseres Gesprächs näher auf die AT eingehen müssen.

TSWS:

Ich danke Ihnen für diese konzise Zusammenfassung, deren fachlicher Inhalt Gegenstand von zwei Veranstaltungen in Huntsville sein sollte, die für 1991 vorgesehen waren. Dafür gab es angeblich zwei Gründe: Zum einen brauchten die mit den ungeklärten Problemen vertrauten MSFC-Manager, wie sie erstmals 1969 von Mr. P. R. J im LFAR z. B. für die Verbrennungstemperaturen im J-2 Triebwerk aufgeworfen worden waren, dafür endlich eine plausible Erklärung, ja sie wollten die Probleme verständlicherweise endgültig vom Tisch haben. Das bedeutete aber: Zu ihrer Entlastung mussten sie mit Erfolgen bei den von ihnen nach 1985 eingeleiteten Maßnahmen auftreten. In diesem Kontext sind zwei Eckpunkte erwähnenswert:

(I) Der LFAR wurde endgültig verworfen. Mr. P. R. J verschwand in der Versenkung.

(II) Weichen wurden gestellt für eine Veränderung des NASA- Lewis-Algorithmus für komplexe chemische Reaktionen, wie sie im ›One Dimensional Equilibrium (ODE) Program‹ zu berücksichtigen waren: Vor allem mussten die Einflüsse charakteristischer Geometrien von Raketentriebwerken auf deren Leistungsdaten einbezogen werden.

Zum anderen aber waren der NASA bereits 1988 von der Bostoner Repräsentanz des Birkhäuser-Verlags detaillierte Informationen zugespielt worden, die mein im nächsten Jahr erscheinendes und vom Bonner Forschungsministerium gesponsertes Buchs betrafen, für das der Titel ´Thermofluid-dynamics of Optimized Rocket Propulsions` vorgesehen war. Damit hatte indes in Huntsville niemand gerechnet, obwohl diese Publikation genau der Logik der Beschlüsse des MSFC-Meeting 1985 entsprach; ausschließlich ihr verdankten ja mein Münchner Kollege Professor Rudi Waibel und ich auch unsere Einladungen zu dieser exklusiven Veranstaltung. Allerdings hatte sich inzwischen augenscheinlich im MSFC, sicher im Lewis Research Center (LeRC or NASA Lewis) der Wind gedreht und blies mir – metaphorisch ausgedrückt – voll ins Gesicht. Die unmittelbare Konsequenz, die man in Cleveland, Ohio und anschließend in Huntsville, Ala mit allen Registern zog: Die Verfolgungsjagd auf die MM und ihren Autor begann auf breiter Front.

Tim Boson:

Jetzt bin ich doch ziemlich konsterniert. Was haben Sie denn dagegen unternommen?

TSWS:

Nichts! Ich hatte ja keine Ahnung, was da ablief. Offensichtlich bedeutete das Erscheinen meines Raketentriebwerksbuch den Casus belli: Letzterer wird im Final Report NAS8 – 36955 D. O. 77 der University of Alabama in Huntsville (UAH) vom September 1992 etwas verdruckst jedoch unmissverständlich umschrieben; Gegenmaßnahmen werden angekündigt:

„The contents of the book became strongly controversial. To gain further understanding of these differences, MSFC awarded a contract to the UAH to investigate the basic analytical formulations, which are currently used to simulate the physical processes in liquid rocket combustion chambers and nozzles”.

Um dieses Ziel zu erreichen, beschloss das MSFC, beide Veranstaltungen Mitte Januar & Ende Juni 1991 in Huntsville zunächst als ein ‚minute meeting’ und dann als ‚workshop’ durchzuführen. Verbunden damit war die Entscheidung, deren Vorbereitung und Ablauf an die UAH zu ‚outsourcen’. Mehr noch: Ein Zwei-Jahres-Vertrag (1990-1992/NAS8-36955) verpflichtete die beteiligten Universitätswissenschaftler der UAH, die MM in ihren Grundlagen kritisch zu durchleuchten. Damit sollten vorrangig peinliche Fragen unterlaufen werden. Wie wollte man auch erklären, dass das MSFC den Autor der MM zunächst gegen Mr. P. R. J. hatte antreten lassen, um ihn anschließend zu demontieren? Warum das aber? Weil bereits der Beschluss des ‚Konklave’ vom Februar 1985 durch den Veranstalter missachtet und seltsamerweise (mit Datum vom 13. November 1991!) in einer Weise vom MSFC ‚protokolliert’ wurde, als ob ich, wie die anderen drei Professoren im ‚Konklave’ lediglich als (passiver) Besucher am Workshop 1985 teilgenommen hätte. Entgegen der tatsächlichen Beschlusslage, die Theorie von Mr. P. R. J. ersatzlos zu verwerfen. tritt plötzlich die Forderung auf, an ihrer Stelle

an extended Code, based on rigorous theory, should be developed as a supplement to the Lewis Code.

Fakt war auch, dass im strengen Sinn unter der Apposition „based on rigorous theory“ die MM gemeint war; eine andere ´rigorose Theorie` stand der NASA damals gar nicht zur Verfügung; so war einzig die MM Gegenstand der Diskussion im ‚Konklave’. Das aber änderte sich ab 1987:

As a consequence MSFC initiated modifications of the ›One Dimensional Equilibrium (ODE)‹ program alloted to the NASA Lewis Research Center (LeRC or NASA Lewis) and subcontracted (No. 5312-80) to Sanford Gordon & Associates to include the finite area combustion effect.

Damit lag 1988 endlich die empfohlene Erweiterung des Standard-Lewis-Algorithmus (NASA TM-100785) vor, um den von Mr. P. R. J. propagierten Einfluss der charakteristischen Querschnittsflächen eines Raketenmotors endlich zu berücksichtigen. Dabei springt eine Frage sichtlich ins Auge: Warum hat das NASA Lewis eine solche Aktion in Konkurrenz zu Mr. P. R. J. Ansatz’ nicht schon fast 20 Jahre vorher mit ihren dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widersprechenden Methoden durchführen können, gar sollen? Jetzt machte Dr. Zeleznik sogar aus der Not eine Tugend, indem er ›im Namen der NASA‹(!) diesen inzwischen ehernen Grundsatz der modernen Physik für die USA(!) – bis heute unwidersprochen – öffentlich außer Kraft setzte. Und die der NASA verpflichteten Firmen & Universitäten sollten dann entsprechend der obligatorischen Political Correctness die MM über deren physikalische Basis, die Alternative Theorie (AT), als unbegründet zurückweisen.

Tim Boson:

Warum aber z w e i ‚deutsche’ Veranstaltungen? Die erste, geplant mit Gottfried Falk, Karlsruhe, die zweite mit Dieter Straub, München? Beide Namen findet man heute in der Literatur im Kontext mit zwei – von Ihnen, Professor Straub, eingeführten – miteinander untrennbar verbundenen Grundbegriffen moderner Systemtheorie: »Gibbs-Falk-Dynamik (GFD)« und »Alternative Theorie (AT)«. Gibt es einen charakteristischen Unterschied zwischen der GFD und der AT?

TSWS:

Aus meinen beim MSFC deponierten Unterlagen lässt sich unschwer entnehmen, dass die AT nichts anderes ist – als die Gibbs-Falk-Dynamik (GFD), überführt von deren Phasenraum in den Beobachtungsraum der AT mittels der drei Raumkoordinaten sowie der ‚irreversiblen Zeit’. Wie in der AT (und nicht in der GFD!) gezeigt wird, bietet sich erst durch diese Transformation die Möglichkeit, Irreversibilität systematisch durch einen strengen mathematischen Formalismus quantitativ auszudrücken. Traditionell befassen sich damit Naturwissenschaftler & Ingenieure in den Disziplinen ‚Strömungslehre, Gasdynamik, Gaskinetik, Thermofluiddynamik. Für die Praxis bedeutet das zweierlei: Mittels GFD & AT erkennt man zum einen die grundlegenden Fehler in der mathematischen Struktur der konventionellen Navier-Stokes-Strömungsgleichungen (N.-S.-Gln.) sowie in den Verknüpfungen der N.-S.-Gln. mit ihren entropischen Elementen. Klassische Strömungsmechaniker verstehen z. B. den Schlussteil des letzten Satzes meist nicht, da Entropie & Temperatur für ihre rein mechanistisch geprägten Vorstellungen Fremdwörter sind.

Zum anderen lassen sich aus der AT die physikalischen Konsequenzen für die N.-S.-Gln. nachweisen, mit denen man rechnen muss, falls man z. B. einen realen, d. h. dissipativen Strömungsprozess durch einen isentropen (d. h. dissipationsfreien) Ersatzprozess (E idealer Vergleichsprozess) approximieren darf/will. Das sind ganz praktische Optionen, die indes im Final Report (NASA-36955 D. O. 77) der University of Alabama in Huntsville (UAH) – September 1992 – mit einem Verdikt belegt sind:

„It is understandable that the Navier-Saint Venant equation of motion (e. g. the N.S.-Gln. following from the AT) at present cannot be used for actual projects”; (p. 15).

Tim Boson:

Gerade wegen des engen Verbunds von GFD & AT verstehe ich immer noch nicht, wieso die beiden Meetings in 1991 so geplant waren, dass die beiden Vortragenden getrennt von einander anreisen und sich der Kritik stellen sollten. Hatte das organisatorische oder gar nur ‚taktische’ Gründe?

TSWS:

Offensichtlich glaubten einige besonders clevere Strategen in Huntsville, durch eine durchtriebene Aufmerksamkeit gegenüber dem Karlsruher Professor für Mathematische Physik Gottfried Falk selbigen in die USA locken zu können, um ihn gegebenenfalls in seinen Ansichten gegen mich auszuspielen. Eine solche Unterstellung ist an & für sich wenig ‚gentlemanlike’, aber in meinem Fall dank Flavius Vegetsius (s. o.) leider beweisbar.

Unglücklicherweise war Professor Falk damals schon so krank, dass er nicht mehr in die Vereinigten Staaten reisen konnte. Aber Professor Wolfgang Ruppel, sein enger Freund & Co-Autor zweier bekannter Standardwerke über Theoretische Physik (in deutscher Sprache), war gerne bereit, der Einladung an die UAH zu folgen, um zwischen dem 9. & 14. Januar 1991 auf der Basis dieser beiden Lehrbücher zwei Seminare abzuhalten. W. Ruppel wählte dazu als Schlüsselbegriff den Ausdruck ´Gibbsian Thermodynamics`; der ist von vorneherein irreführend, denn dieser Ausdruck kommt bei Falk aus guten Gründen überhaupt nicht vor (und damit auch in keinem der beiden Referenzwerke aus 1976 & 1977 von Falk & Ruppel!). Dennoch kamen Ruppels Darlegungen offensichtlich bei den Seminarteilnehmern gut an. Somit muss man leider vom Fluch der guten Tat sprechen. Denn das Abschlussprotokoll zum ‚Meeting Minutes’ an der UAH enthält zum Thema ´Gibbsian Thermodynamics` das folgende Fazit (p. 47):

„The concept was accepted in its abstract formulation, but questions with respect to some applications were not resolved. Prof. Ruppel will give us his answer shortly, after he has looked at the problems from the different points of view presented at the meetings”.

Vorausgegangen war die Suche nach „a direct correspondence between „Falk-Ruppel’s theory and the Navier-Stokes equations…“ als bekannteste Manifestation von Irreversibilität in Strömungen. In ihren beiden gemeinsamen Büchern werden solche für die Ingenieurwissenschaften wichtigen Items mit keinem Wort erwähnt; sie lagen stets völlig außerhalb der Interessensphären beider Karlsruher Physiker.

Tim Boson:

Jeder unserer Leser, der rückblickend bedenkt, welche Anstrengungen die MSFC-Leute seinerzeit unternommen hatten, Sie zu einem Besuch von Huntsville, Ala zu überreden, kann sich beim jetzigen Stand unseres Gesprächs nur noch wundern. Warum dieser Aufwand, warum die Einladung von Falk & Ruppel mit dermaßen mageren Ergebnissen? Sollte damit eine Art von Spaltpilz eingeschleust werden, der die Atmosphäre des Auditoriums an der UAH und am MSFC beim zweiten Meeting in 1991 von vorneherein vergiftete, bei dem Sie ‚die Hosen herunterlassen’ sollten?

TSWS:

Ich denke nicht, dass eine solche Aktion beabsichtigt war, dazu waren – soweit man dem Protokoll vertrauen darf – die beteiligten Wissenschaftler der UAH einschließlich des Gastredners viel zu unvorbereitet, gar zu naiv. Ihre Auftraggeber erwarteten von ihnen eine indirekte Analyse meines Raketentriebwerkbuchs in Bezug auf einige völlig neue physikalische Begriffe & Zusammenhänge. Deren Funktion sollte für den physikalischen Grenzfall, der die Münchner Methode (MM) definierte, geklärt werden. Dieser »vollständig isentrope Referenzprozess unseres Systems« – also die physiko-chemischen stationären Zustände des strömenden Verbrennungsgases, beginnend vom Punkt der Zündung entlang der zylindrischen Brennkammer und der Lavaldüse bis zum Düsenaustritt – ist der im Mittelpunkt meines Buchs stehende Ideale Vergleichsprozess. Und siehe da, plötzlich taucht dort die als Manifestation realer Strömungsabläufe bekannte, ehrfurchtgebietende Navier-Stokes-Bewegungsgleichung auf (p. 124f), aber eben nicht als korrekter Grenzfall einer viel allgemeineren Bewegungsgleichung (NavierSaint Venant Equation of Motion). Alles war neu. Für mein Raketentriebwerksbuch war allein relevant, dass im isentropen Grenzfall nur die Venant-Bewegungsgleichung in die korrekte Eulersche Bewegungsgleichung übergeht, aber nicht die N.-S.-Gln. Von daher erweist sich eben die MM als eine vollständig konsistente, physikalisch exakte Theorie. Deren mathematische Basis ist meine über die Gibbs-Falk Dynamik (GFD) hinausreichende – aber erst im Jahr 1997 erstmals in Buchform veröffentlichte – Alternative Theorie (AT). Genauer: Alternative Mathematical Theory of Non-equilibrium Phenomena. Academic Press: San Diego 1997.

Tim Boson:

Ihre Ausführungen zeigen mir, dass Sie für das zweite Meeting gut vorbereitet gewesen sein müssen, denn es ging ja doch überwiegend um Problemstellungen, die in den USA damals eher wenig ‚populär’ waren. Sie haben mir kürzlich erzählt, dass der Workshop-Manager Ihnen am 25. Juni 1991 zur Vorbereitung fast 30 Fragen zu Ihrem Buch ‒ „Queries for D. Straub“ ‒ vorab übermittelt hat. Was passierte also?

TSWS:

Gar nichts. Oder genauer: ich weiß es nicht mehr mit Sicherheit. Ich hatte am 21. Juni 1991 beim Frühstück einen schweren Herzinfarkt erlitten. Der bereits gebuchte Flug in die USA musste ‚rückabgewickelt werden“. Der Workshop in Huntsville wurde kurzfristig abgesagt. Jede Perspektive damals war spekulativ und erübrigte sich bis Mitte August.

Verehrter Tim Boson: An dieser Stelle erlaube ich mir, ein ganz persönliche Bemerkung in unser Gespräch einzubringen: Besagter Herzinfarkt erfolgte an einem Tag, dessen Datum mir in besonderer Erinnerung geblieben: Es war der 50ste Jahrestag von Hitlers Überfalls der UdSSR. Dieses Datum – 21. Juni 1941 – markierte letztlich den Ausgangspunkt einer Tragödie, die Sie und mich in zwei unterschiedlich konditionierte Hälften deutscher ‚Kriegsverlierer’ aufteilte: Ich verbracht meine Jugend im Wirtschaftswunderteil, Sie in der DDR, von der wir ‚Westler’ kaum Etwas wussten. Und jetzt sprechen wir gemeinsam über Etwas, das genau in der Zeit der Perestroika und der Wiedervereinigung Deutschlands ablief und in der noch die Spielregeln des Kalten Krieges galten. Ich denke, man sollte diesen Aspekt unserer Geschichte mit in Rechnung stellen.

Tim Boson:

Nun ich denke auch, TSWS, ich für mein Teil muss immer wieder daran denken, dass all das Technologische, das man gemeinhin so selbstverständlich hin nimmt – vom Handy – über GPS bis zum Satellitenfernsehen oder auch das Internet ohne Raumfahrt nicht zu denken ist, und somit eine SPRECHENDE GESCHICHTE hat, und ich hoffe, dass ihre Geschichte und unser Gespräch auch mit dazu beiträgt, dass diese Historie nicht immer nur wortlos und geschluckt einfach so in den Zeitlauf eingebaut wird, sondern sich so auch tatsächlich einmal wenigstens zum Teil reflektieren lässt.
Was den speziellen Zeitabschnitt betrifft, den sie ansprechen, da ist es klar, dass ich zu dieser Zeit ein völlig anderes Grundverhältnis habe. Ich gehöre zu einer Generation, die erlebt haben, dass nichts wirklich sicher ist und alle Mauern irgendwann Risse bekommen und schließlich fallen. Gut, Sie kennen das ja auch noch. Ob das vielleicht sogar eine zwingende Folge der Entropie ist, frage ich mich hier salopp, aber das heben wir uns wohl für die nächsten Teile unseres Gesprächs auf. (Fortsetzung folgt)

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