TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Carmina Burana, 13.-14. Jahrhundert

Das Wort Schöpfung meint wörtlich ein Schöpfen wie von Wasser mit den
hohlen Händen der Sprache. Die Sprache muss sich selbst leer machen, um voll zu werden. Dieses Sich-Leermachen der Sprache verweist auf ein Ausserhalb der Sprache. Sprache, die im Chronischen ihre Hände hohl formt, vom Chronischen geformt wird, und es schöpft, ausschöpft – das ist Schöpfung, also Dichtung.

Eine Anerkenntnis. Da sind Kompositionen und Texte, die behalten auch nach tausendfacher Ver-Ohrwurmung und Verschlagerung ihre un-heimliche Autorität, ihre unbestreitbare Dichtungs-Qualität von Artikulation.

Diese Texte sind Gefäße, in welche viel nachfolgendes
Gerede hineinplätschert wie in den großen Gulli einer Kanalisation.

Carl Orffs musikalische Eingebung zu diesem alten Text der Carmina Burana verdankt sich einem Gespür für das Einfache und ganz Einfache, das nicht trivial ist.
Erst eine bestimmte Art von Demut, die sich zu einem Welt-Gefäß, zu einer Welt-Schale leer-beugt, leerschmiegt – kann ein Pathos schöpfen, das kein Kitsch ist – sondern Re-Flexion – nach – der Flexion (Biegung)

Das Rad der Fortuna
Das Rad der Fortuna

Da wirkt das große rund (gebogene, flexive) umgreifende Pathos der Schöpfung als einer Geburt aus dem Tod – des an-dauernden, anrollenden Wirbels/Rades – (eben dieses Rad, das auch der immerkranke und halbgenaue Nietzsche nur von Hesekiel geklaut hatte, wenn auch unbewusst.)

Aber diese sich leerbeugende Schale ist keine zappelnde Fuchtel, keine Knattermimik der bloßen Zeugung und Selbstbezeugung, oder der kulissischen Verklärung.

Sprache, die nur noch konvex zeugend aber nicht mehr konkav/konvex schöpfend agiert, kann keine Welt-Linse/Schale sein.
Eine solche Sprache wackelt sich selbst etwas vor, zappelt dabei immer im Halben, fuchtelt und stochert im Irrelevanten.

Linsen oder Spiegel als gedrehte Schalen
Linsen oder Spiegel als gedrehte Schalen

Das Wort Schöpfung meint wörtlich ein Schöpfen wie von Wasser mit den
hohlen Händen der Sprache. Die Sprache muss sich selbst leer machen, um voll zu werden. Dieses sich Leermachen der Sprache verweist auf ein Ausserhalb der Sprache. Sprache, die im DAUERNDEN herum ihre hohle Hand formt, biegt, beugt, vom Dauernden gebeugt wird, (Flexion – Re-Flexion) und es schöpft, ausschöpft – das ist Schöpfung, also Dichtung.

Wo Sie aufdringlich sich selbst bezeugt, in Stilen, Tricks, Tönen und Jonglagen gerät sie zur ontisch/ontologischen Ab-Dichtung. Die Ästhese, die sich mit dem K verstopft – zur Ästehti-k

In einer frühen Zeit, in der Dichter manchmal auch Lügner genannt werden durften, was man als Kompliment verstehen muss, eben weil sie klug und nicht dumm waren, zum Teil notlügend, weil sie als Umherstreifende (Vaganten) lebten – mit höchstem Lebensrisiko und nicht als “Wohnende” und “Habende” – in dieser Zeit konnte sogar das Latein im Kontakt mit dem Mittelhochdeutschen und Provencalischen der Felder, Straßen und Wege lebendig sich beatmen. Der Vagant, als der Umherstreifende, ist der Typus des nichtdummen Dichters.

Das 19. Jahrhundert hat dann – nach den römisch saturierten Satirikern den Flaneur wiederbelebt als Pseudo-Vagant. Oder Vaganten-Ersatz. Aber dieser städtische Pseudo-Vagant dichtet längst ungefährdet, umbaut und umstädtert.
Er ist und bleibt eine Kaffee-Haus-Figur, ein Trottoire-Troubadour hinter zivilisatorischen Sicherungen der Stadt-lichkeit. Seine Artikulationen sind immer auch Selbststaffagen vor (platten) Spiegeln, vor Schaufenstern.
Die Dichter im Paris des 19.Jahrhunderts, das eben diesen Flaneur erfand, haben das immer auch gewusst und artikuliert.
Die eigentliche Qualität der Dichtungen eines Rimbaud speist sich aus ihrem Selbstekel. Das l’art pour l’art ist immer schon Selbstekel. Schon der berühmte Titel “Blumen des Bösen” von Baudelaire spricht eben als eine ganz helle und ganz deutliche Metapher. Überhaupt nichts Geheimnisvolles oder gar Dunkles “verbirgt” sich darin.
Es spricht sich darin aus eine sehr genaue Exaktion zur eigenen Existenz.
Die Besten unter den Pariser Künstlern flüchteten dann auch in die Südsee.

Ein Vagant des 12. 13. und 14. Jahrhunderts dagegen, ausserhalb der Stadt, war noch nicht mal eine Blume mit einem Boden, er war zugleich mehr und auch weniger, er war ein treibender Same. So ein Vagant musste auf der Hut bleiben. Er konnte jederzeit für ein Wort oder aus Versehen oder aus purem Zorn von einem reitenden Herren, dem Ritter, zertreten und zerschlagen werden.

O Fortuna – Rad des Ge-Schicks. (Schick-sals) Hier dreht das Rad, das als Fortuna sich immer wieder wendet von Höhepunkt nach Totpunkt. Zugesprochen dem Wechsel der Mondphasen (velut luna). In der Natur der Technik leben die Hebungen und Senkungen der kreisenden, sich ein – und aufbiegenden (Flexion, Reflexion) (atmenden) Kreisläufe der phasendrehenden Motoren und an-dauernden Wellen bis in die DNA hinein und wieder aufwogend bis in die Linsen und Spiegel kosmologischer oder mikroskopischer Beobachtung

Sinus: Drehung, Dreieck, Kreis und Winkel.
Sinus: Drehung, Dreieck, Kreis und Winkel.
Elektromagnetische Schwingung
Elektromagnetische Schwingung

“esse”-lateinisch: sein – kommt aber ethymologisch ebenfalls von: atmen.
Die Dauer schickt dieses Atmen in das technische Ge-Schick hinein.

1. Fortuna, Imperiatrix mundi

O Fortuna velut luna statu variabilis, O Fortuna! Wie der Mond – so veränderlich,

semper crescis aut decrescis; vita detestabilis Wachst du immer oder schwindest! Schmähliches Leben!

nunc obdurat et tunc curat ludo mentis aciem, Erst misshandelt, dann verwöhnt es spielerisch den wachen Sinn.

egestatem, potestatem, dissolvit ut glaciem. Dürftigkeit, Großmächtigkeit, sie zergehn vor ihm wie Eis.

Sors immanis et inanis, rota tu volubilis, Schicksal, ungeschlacht und eitel! Rad, du rollendes!

Drehmoment eines Elektromotors
Drehmoment eines Elektromotors

status malus, vana salus semper dissolubilis, Schlimm dein Wesen, dein Glück nichtig, Immer im Zergehn!

obumbrata et velata michi quoque niteris; Überschattet und verschleiert kommst du nun auch über mich.

nunc per ludum dorsum nudum fero tui sceleris. Um des Spieles deiner Bosheit trag ich jetzt den Buckel bloß.

Sors salutis et virtutis michi nunc contraria, Los des Heiles und der Tugend sind jetzt gegen mich.

est affectus et defectus semper in angaria. Willenskraft und Schwachheit liegen immer in der Fron.

Hebungen und Senkungen der DNA (Wellen)
Hebungen und Senkungen der DNA (Wellen)

Hac in hora sine mora corde pulsum tangite; Drum zur Stunde ohne Säumen rührt die Saiten!

quod per sortem sternit fortem, mecum omnes plangite! Wie den Wackeren das Schicksal hinstreckt; alle klagt mit mir!

2. Fortune plango vulnera 2. Die Wunden, die Fortuna schlug

Fortune plango vulnera stillantibus ocellis. Die Wunden, die Fortuna schlug, beklage ich mit nassen Augen,

quod sua michi munera subtrahit rebellis. Weil sie ihre Gaben mir entzieht, die Widerspenstige.

Verum est, quod legitur, fronte capillata, Zwar, wie zu lesen steht, es prangt ihr an der Stirn die Locke,

sed plerumque sequitur Occasio calvata. doch kommt dann die Gelegenheit, zeigt sie meistens ihren Kahlkopf.

In Fortune solio sederam elatus, Auf Fortunas Herrscherstuhl saß ich, hoch erhoben,

prosperitatis vario flore coronatus; mit dem bunten Blumenkranz des Erfolges gekrönt.

quicquid enim florui felix et beatus, Doch, wie ich auch in der Blüte stand, glücklich und gesegnet:

Prinzip der Peristaltik 1
Prinzip der Peristaltik 1

nunc a summo corrui gloria privatus. Jetzt stürze ich vom Gipfel ab, beraubt der Herrlichkeit.

Quantisierende Peristaltik (Verdauung)
Quantisierende Peristaltik (Verdauung)

Fortune rota volvitur: descendo minoratus; Fortunas Rad, es dreht sich um: Ich sinke, werde weniger,

Sinus: Drehung, Winkel, Dreieck, Kreis,
Sinus: Drehung, Winkel, Dreieck, Kreis,

alter in altum tollitur; nimis exaltatus den anderen trägt es hinauf: Gar zu hoch erhoben

rex sedet in vertice – caveat ruinam! sitzt der König auf dem Grat: Er hüte sich vor dem Falle!

nam sub axe legimus Hecubam reginam. Denn unter dem Rade lesen wir: Königin Hecuba.

Prinzip der peristaltischen Pumpe
Prinzip der peristaltischen Pumpe

O VERE / FRÜHLING

3. Veris leta facies 3. Frühlings heiteres Gesicht

Veris leta facies mundo propinatur, Frühlings heiteres Gesicht schenkt der Welt sich wieder

hiemalis acies victa iam fugatur, Winters Strenge muss, besiegt, nun vom Felde weichen.

in vestitu vario Flora principatur, Flora tritt im bunten Kleid ihre Herrschaft an,

nemorum dulcisono que cantu celebratur. mit süßtönendem Gesang feiern sie die Wälder.

Flore fusus gremio Phebus novo more In Floras Schoße hingestreckt lacht Phoebus nun aufs Neue.

risum dat, hoc vario iam stipata flore. Von diesem mannigfachen Blühn umringt,

Zephyrus nectareo spirans in odore. atmet Zephyrus in nektarreinem Dufte.

Certatim pro bravio curramus in amore. Lasst uns um die Wette laufen nach dem Preis der Liebe.

Cytharizat cantico dulcis Philomena, Mit ihrem süßen Liede präludiert die süße Philomele.

flore rident vario prata iam serena, Voll bunter Blumen lachen nun heiter schon die Wiesen.

salit cetus avium silve per amena, Vogelschwärme ziehen durch des Waldes Lieblichkeiten.

chorus promit virginum iam gaudia millena. Reigentanz der Mädchen bringt Freuden tausendfältig.

Das CERN im Schema
Das CERN im Schema

4. Alles macht die Sonne mild

Omnia sol temperat purus et subtilis, Alles macht die Sonne mild, sie, die Reine, Zarte.

novo mundo reserat faciem Aprilis, Neues schließt das Angesicht des Aprils der Welt auf.

ad amorem properat animus herilis Wiederum zu Amor hin drängt die Brust des Mannes.

et iocundis imperat deus puerilis. Über alles Liebliche herrscht der Gott, der Knabe.

Rerum tanta novitas in solemni vere Solche Allerneuerung in dem feierlichen Frühling,

et veris auctoritas jubet nos gaudere; und des Frühlings Machtgebot will, daß wir uns freuen.

vias prebet solitas, et in tuo vere Altvertraute Wege weist er, auch in deinem Frühling

fides est et probitas tuum retinere. fordert Treu und rechten Sinn: Halt ihn fest, der Dein ist!

Ama me fideliter, fidem meam noto: Liebe mich mit treuem Sinn! Sieh auf meine Treue,

de corde totaliter et ex mente tota die von ganzem Herzen kommt und von ganzem Sinne.

sum presentialiter absens in remota, Gegenwärtig bin ich dir auch in weiter Ferne.

quisquis amat taliter, volvitur in rota. Wer auf solche Weise liebt, ist aufs Rad geflochten.

5. Ecce gratum 5. Sieh, der Holde!

Ecce gratum et optatum Ver reducit gaudia, Sieh, der Holde und ersehnte Frühling bringt zurück die Freuden.

purpuratum floret pratum, Sol serenat omnia. Purpurrot blüht die Wiese, alles macht die Sonne heiter.

Iam iam cedant tristia! Weiche nun die Traurigkeit!

Estas redit, nunc recedit Hyemis sevitia. Sommer kehrt zurück, des Winters Strenge muss nun weichen

Ah! Ah!

Iam liquescit et decrescit grando, nix et cetera; Nun schmilzt hin und schwindet Hagel, Schnee und alles Andere.

bruma fugit, et iam sugit Ver Estatis ubera; Der Winter flieht und schon saugt der Frühling an des Sommers Brüsten.

illi mens est misera, Das muss ein Armseliger sein,

qui nec vivit, nec lascivit sub Estatis dextera. der nicht lebt und nicht liebt unter des Sommers Herrschaft.

Ah! Ah!

Gloriantur et letantur in melle dulcedinis, Es prangen und schwelgen in Honigsü.e,

qui conantur, ut utantur premio Cupidinis: die’s wagen und greifen nach Cupidos Lohn.

simus jussu Cypridis Auf Cypri’s Geheiß

gloriantes et letantes pares esse Paridis. wollen prangend und schwelgend dem Paris es gleichtun.

7. Floret silva nobilis 7. Der edle Wald grünt

Floret silva nobilis, floribus et foliis. Es grünt der Wald, der edle, mit Blüten und mit Blättern.

Ubi est antiquus meus amicus? Wo ist mein Vertrauter, mein Geselle?

Hinc equitavit, eia, quis me amabit? Er ist hinweggeritten! Eia! Wer wird mich lieben?

Floret silva undique, Es grünt der Wald allenthalben.

nah min gesellen ist mir wê. Nach meinem Gesellen ist mir weh.

Gruonet der walt allenthalben, Es grünt der Wald allenthalben.

wa ist min geselle alse lange? Wo bleibt mein Geselle so lange?

Der ist geriten hinnen, Er ist hinweggeritten!

o wi, wer sol mich minnen? Oh weh! wer wird mich lieben?

8. Chramer, gip die varwe mir 8. Krämer! Gib die Farbe mir

Chramer, gip die varwe mir, Krämer! Gib die Farbe mir,

die min wengel roete, Meine Wangen rot zu malen,

damit ich die jungen man Dass ich so die jungen Männer,

an ir dank der minnenliebe noete. Ob sie wollen oder nicht, zur Liebe zwinge.

Seht mich an, jungen man! Seht mich an, junge Männer!

Lat mich iu gevallen! Lasst mich euch gefallen!

Minnet, tugentliche man, Liebet, rechte Männer,

minnecliche frouwen! Liebenswerte Frauen!

minne tuot iu hoch gemout Liebe macht euch hochgemut

unde lat iuch in hohen eren schouwen. Und läßt euch in hohen Ehren prangen.

Seht mich an, jungen man! Seht mich an, junge Männer!

Lat mich iu gevallen! Lasst mich euch gefallen!

Wol dir, werlt, daz du bist also freudenriche! Heil dir, Welt, daß du bist an Freuden so reich!

ich will dir sin undertan Ich will dir sein Untertan

durch din liebe immer sicherliche. Deiner Güte wegen immer sicherlich!

Seht mich an, jungen man! Seht mich an, junge Mäner!

Lat mich iu gevallen! Lasst mich euch gefallen!

9. Reie 9. Reigen

Swaz hie gat umbe, daz sint alles megede, Was hier im Reigen geht, sind alles Mägdlein,

die wellent ân man alle disen sumer gan! die wollen ohne Mann diesen ganzen Sommer gehn.

Ah! Sla! Ah! Sla!

Chume, chum, geselle min, Komme, komme, Geselle mein!

ih enbite harte din, Ich erwarte dich so sehr,

ih enbite harte din, Ich erwarte dich so sehr.

chume, chum, geselle min. Komme, komme, Geselle mein!

Suzer rosenvarwer munt, Sü.er, rosfarbener Mund!

chum un mache mich gesunt, Komm und mache mich gesund!

chum un mache mich gesunt, Komm und mache mich gesund,

Ah! Ah!

suzer rosenvarwer munt. Sü.er rosafarbener Mund!

Swaz hie gat umbe, daz sint alles megede, Was hier im Reigen geht, sind alles Mägdlein,

die wellent ân man alle disen sumer gan! Die wollen ohne Mann diesen ganzen Sommer gehn.

Ah! Sla! Ah! Sla!

10. Were diu werlt alle min 10. Wäre auch die Welt ganz mein

Were diu werlt alle min Wäre auch die Welt ganz mein

von deme mere unze an den Rin Von dem Meer bis an den Rhein,

des wolt ih mih darben, Gern ließe ich sie fahren,

daz diu chünegin von Engellant wenn die Königin von Engelland

lege an miner armen. Hei! Läge in meinen Armen. Hei!

II. IN TABERNA / IM WIRTSHAUS

11. Estuans interius 11. Glühend in mir

Estuans interius ira vehementi Glühend in mir von heftigem Ingrimm

in amaritudine loquor mee menti: Sprech ich voller Bitterkeit zu meinem Herzen:

factus de materia, cinis elementi Geschaffen aus Staub, Asche der Erde,

similis sum folio, de quo ludunt venti. Bin ich dem Blatt gleich, mit dem die Winde spielen.

Cum sit enim proprium viro sapienti Wenn es die Art ist des weisen Mannes,

supra petram ponere sedem fundamenti, Auf Fels zu gründen sein Fundament:

stultus ego comparor fluvio labenti, Gleiche ich Tor dem Fluss, der dahinströmt,

sub eodem tramite nunquam permanenti. Niemals im selben Lauf sich hält.

Feror ego veluti sine nauta navis, Ich treibe dahin wie ein Boot ohne Mann,

ut per vias aeris vaga fertur avis; Wie auf luftigen Wegen der Vogel schweift.

non me tenent vincula, non me tenet clavis, Mich binden nicht Fesseln mich hält kein Schloss,

quero mihi similes et adiungor pravis. Ich such meinesgleichen, schlag mich zu den Lumpen.

Mihi cordis gravitas res videtur gravis; Ein schwerer Ernst dünkt mich zu schwer.

iocis est amabilis dulciorque favis; Scherz ist lieblich und sü.er als Waben.

quicquid Venus imperat, labor est suavis, Was Venus gebietet, ist wonnige Müh,

que nunquam in cordibus habitat ignavis. Niemals wohnt sie in feigen Seelen.

Via lata gradior more iuventutis Die breite Straße fahr ich nach der Art der Jugend,

inplicor et vitiis immemor virtutis, Geselle mich zum Laster, frage nichts nach Tugend.

voluptatis avidus magis quam salutis, Nach Sinnenlust dürstend mehr als nach dem Heil,

mortuus in anima curam gero cutis. Will ich, an der Seele tot, gütlich tun dem Leib!

12. Olim lacus colueram 12. Einst schwamm ich auf den Seen umher

(Cignus ustus cantat) (Der gebratene Schwan singt)

Olim lacus colueram, Einst schwamm ich auf den Seen umher,

olim pulcher extiteram, Einst lebte ich und war schön,

dum cignus ego fueram. Als ich ein Schwan noch war.

Miser, miser modo niger Armer, armer! Nun so schwarz

et ustus fortiter! Und so arg verbrannt!

Girat, regirat garcifer; Es dreht und wendet mich der Koch.

me rogus urit fortiter; Das Feuer brennt mich sehr.

propinat me nunc dapifer, Nun setzt mich vor der Speisemeister.

Miser, miser modo niger Armer, armer! Nun so schwarz

et ustus fortiter! Und so arg verbrannt!

Nunc in scutella iaceo, Jetzt liege ich auf der Schüssel

et volitare nequeo Und kann nicht mehr fliegen,

dentes frendentes video: Sehe bleckende Zähne um mich her!

Miser, miser modo niger Armer, armer! Nun so schwarz

et ustus fortiter! Und so arg verbrannt!

13. Ego sum abbas 13. Ich bin der Abt

Ego sum abbas Cucaniensis Ich bin der Abt von Cucanien,

consilium meum est cum bibulis, Und – meinen Konvent halte ich mit den Saufbrüdern

et in secta Decii voluntas mea est, Und – meine Wohlgeneigtheit gehört dem Orden der Würfelspieler

et qui mane me quesierit in taberna, Und – macht einer mir morgens seine Aufwartung in der Schenke,

post vesperam nudus egredietur, Geht er nach der Vesper fort und ist ausgezogen

et sic denudatus veste clamabit: Und – also ausgezogen, wird er ein Geschrei erheben:

Wafna, wafna! Wafna! Wafna!

quid fecisti sors turpassi? Was hast du getan, Pech, schändlichstes?

Nostre vite gaudia Unseres Lebens Freuden hast du

abstulisti omnia! Fortgenommen alle!

Wafna! Wafna! Wafna! Wafna!

Ha, Ha! Ha, Ha!

14. In taberna quando sumus 14. Wenn wir in der Scheune sitzen

In taberna quando sumus Wenn wir sitzen in der Schenke,

non curamus quid sit humus, Fragen wir nichts nach dem Grabe,

sed ad ludum properamus, Sondern machen uns ans Spiel,

cui semper insudamus. Über dem wir immer schwitzen.

Quid agatur in taberna Was sich in der Schenke tut,

ubi nummus est pincerna, Wenn der Batzen Wein herbeischafft,

hoc est opus ut queratur, Das verlohnt sich, zu vernehmen:

sic quid loquar, audiatur. Hörte, was ich sage!

Quidam ludunt, quidam bibunt, Manche spielen, manche trinken,

quidam indiscrete vivunt. Manche leben liederlich

Sed in ludo qui morantur, Aber die beim Spiel verweilen:

ex his quidam denudantur Da wird mancher ausgezogen,

quidam ibi vestiuntur, Mancher kommt zu einem Rocke,

quidam saccis induuntur. Manche wickeln sich in Säcke,

Ibi nullus timet mortem Keiner fürchtet dort den Tod,

sed pro Baccho mittunt sortem: Nein, um Bacchus würfelt man.

Primo pro nummata vini, Erstens: wer die Zeche zahlt:

ex hac bibunt libertini; Davon trinkt das lockre Volk,

semel bibunt pro captivis, Einmal auf die Eingelochten,

post hec bibunt ter pro vivis, Dreimal dann auf die, die leben,

quater pro Christianis cunctis Viermal auf die Christenheit,

quinquies pro fidelibus defunctis, Fünfmal, die im Herrn verstarben,

sexies pro sororibus vanis, Sechsmal auf die leichten Schwestern,

septies pro militibus silvanis. Siebenmal auf die Heckenreiterei.

Octies pro fratribus perversis, Achtmal die verirrten Brüder,

nonies pro monachis dispersis, Neunmal die versprengten Mönche,

decies pro navigantibus Zehnmal, die die See befahren,

undecies pro discordantibus, Elfmal, die in Zwietracht liegen,

duodecies pro penitentibus, Zwölfmal, die in Buße leben,

tredecies pro iter agentibus. Dreizehnmal, die unterwegs sind;

Tam pro papa quam pro rege Auf den Papst wie auf den König

bibunt omnes sine lege. Trinken alle schrankenlos:

Bibit hera, bibit herus, Trinkt die Herrin, trinkt der Herr,

bibit miles, bibit clerus, Trinkt der Ritter, trinkt der Pfaffe,

bibit ille, bibit illa, Trinket dieser, trinket jene,

bibit servus cum ancilla, Trinkt der Knecht und trinkt die Magd,

bibit velox, bibit piger, Trinkt der Schnelle, trinkt der Faule,

bibit albus, bibit niger, Trinkt der Blonde, trinkt der Schwarze,

bibit constans, bibit vagus Trinkt, wer sesshaft, trinkt, wer fahrend,

bibit rudis, bibit magus. Trinkt der Tölpel, trinkt der Weise;

Bibit pauper et egrotus, Trinkt der Arme und der Kranke,

bibit exul et ignotus, Der Verbannte, Unbekannte,

bibit puer, bibit canus, Trinkt das Kind und trinkt der Kahle,

bibit presul et decanus, Trinken Bischof und Dekan;

bibit soror, bibit frater, Trinkt die Schwester, trinkt der Bruder,

bibit anus, bibit mater, Trinkt die Ahne, trinkt die Mutter,

bibit ista, bibit ille, Trinket dieser, trinket jener,

bibunt centum, bibunt mille. Trinken hundert, trinken tausend.

Parum sexcente nummate Sechshundert Zechinen reichen

durant, cum immoderate Lange nicht, wenn maßlos alle

bibunt omnes sine meta. Trinken ohne Rand und Band. –

Quamvis bibant mente leta, Trinken sie auch frohgemut,

sic nos rodunt omnes gentes Schmähen uns doch alle Völker,

et sic erimus egentes. Und wir werden arm davon.

Qui nos rodunt confundantur Mögen, die uns schmäh’n, verkommen,

et cum iustis Nicht im Buche der Gerechten

non scribantur. Aufgeschrieben sein!

Io io io io io io io io io! Io io io io io io io io io!

III. COUR D’AMOURS / GERICHTSHOF DER LIEBE

15. Amor volat undique 15. Amor fliegt überall

Amor volat undique, captus est libidine. Amor fliegt überall, ist ergriffen von Verlangen.

Iuvenes, iuvencule coniunguntur merito. Jünglinge und Jüngferlein finden sich, und das ist recht!

Siqua sine socio, caret omni gaudio; Wenn eine keinen Liebsten hat, so ist sie aller Freuden leer,

tenet noctis infima sub intimo Muss verschließen tiefste Nacht drinne in ihres

cordis in custodia: fit res amarissima. Herzens Haft. Das ist ein bitter Ding.

16. Dies, nox et omnia 16. Tag, Nacht und Alles

Dies, nox et omnia michi sunt contraria; Tag, Nacht und alles ist mir zuwider.

virginum colloquia me fay planszer, Plaudern der Mädchen macht mich weinen

oy suvenz suspirer, plu me fay temer. Und vielmals seufzen und fürchten noch mehr.

O sodales, ludite, vos qui scitis dicite Freunde! ihr scherzt! Ihr sprecht, wie ihr´s wißt!

michi mesto parcite, grand ey dolur, Schont mich Betrüben! Groß ist mein Schmerz.

attamen consulite per voster honur. Ratet mir doch, bei eurer Ehr´!

Tua pulchra facies me fay planszer milies, Dein schönes Antlitz macht mich weinen viel tausend Mal

pectus habet glacies. A remender Dein Herz ist von Eis. – Mach´s wieder gut!

statim vivus fierem per un baser. Ich würde lebendig sogleich durch einen Kuss.

17. Stetit puella 17. Stand da ein Mägdelein

Stetit puella rufa tunica; Stand da ein Mägdelein in rotem Hemd.

si quis eam tetigit, tunica crepuit. Wenn man dran rührte, knisterte das Hemd.

Eia. Eia!

Stetit puella tamquam rosula; Stand da ein Mägdelein gleich einem Röslein.

facie splenduit, os eius fioruit. Es strahlte ihr Antlitz und blühte ihr Mund.

Eia! Eia!

18. Circa mea pectora 18. In meinem Herzen sind viele Seufzer

Circa mea pectora multa sunt suspiria In meinem Herzen sind viele Seufzer,

de tua pulchritudine, que me ledunt misere. Weil du so schön bist: Davon bin ich ganz wund.

Mandaliet, Mandaliet, Manda liet, Manda liet,

min geselle chumet niet. Mein Geselle kommet nicht.

Tui lucent oculi sicut solis radii, Deine Augen leuchten wie Sonnenstrahlen,

sicut splendor fulguris lucem donat tenebris. Wie der Glanz des Blitzes die Nacht erhellt.

Mandaliet, Mandaliet, Manda liet, Manda liet,

min geselle chumet niet. Mein Geselle kommet nicht.

Vellet deus, vellent dii quod mente proposui: Gebe Gott, geben´s die Götter, was ich mir hab vorgesetzt:

ut eius virginea reserassem vincula. Dass ich ihrer Jungfernschaft Fesseln noch entriegle.

Mandaliet, Mandaliet, Manda liet, Manda liet,

min geselle chumet niet. Mein Geselle kommet nicht.

19. Si puer cum puellula 19. Wenn Knabe und Mägdelein

Si puer cum puellula Wenn Knabe und Mägdelein

moraretur in cellula, Verweilen im Kämmerlein

felix coniunctio. Seliges Beisammensein!

Amore suscrescente Wächst die Liebe sacht heran

pariter e medio Und ist zwischen beiden alle Scham

avulso procul tedio, Gleicherweise abgetan,

fit ludus ineffabilis Beginnt ein unaussprechlich Spiel

membris, lacertis, labiis. Mit Gliedern, Armen, Lippen.

Wenn Knabe und Mägdelein

Si puer cum puellula

moraretur in cellula, Verweilen im Kämmerlein

Seliges Beisammensein!

20. Veni, veni, venias 20. Komm, komm, komme!

Veni, veni, venias, Komm, komm, komme!

ne me mori facias, Lass mich nicht sterben!

hyrca, hyrce, nazaza, Hycra, hycra, nazaza,

trillirivos! Trillirivos!

Pulchra tibi facies Schön ist dein Angesicht,

oculorum acies, Deiner Augen Schimmer,

capillorum series, Deiner Haare Flechten!

o quam clara species! O wie herrlich die Gestalt!

Rosa rubicundior, Roter als Rosen

lilio candidior Weißer als Lilien!

omnibus formosior, Du Allerschönste,

semper in te glorior! Stets bist du mein Ruhm!

21. In truitina 21. Unentschieden

In truitina mentis dubia Auf des Herzens unentschiedener

fluctuant contraria Waage schwanken widerstreitend

lascivus amor et pudicitia. Scham und liebendes Verlangen.

Sed eligo quod video, Doch ich wähle, was ich sehe,

collum iugo prebeo: Biete meinen Hals dem Joch,

ad iugum tamen suave transeo. Trete unters Joch, das doch so sü..

22. Tempus est iocundum 22. Lieblich ist die Zeit

Tempus est iocundum, o virgines, Lieblich ist die Zeit, o Mädchen!

modo congaudete vos iuvenes. Freut euch jetzt mit uns, ihr Burschen!

Oh, oh, oh, totus floreo, Oh! Oh! Oh! Wie ich blühe,

iam amore virginali totus ardeo Schon von einer neuen Liebe ganz erglühe!

novus, novus amor est, quo pereo. Junge, junge Liebe ist es, daran ich vergeh!

Mea me confortat promissio, Mein Versprechen gibt mir Mut,

mea me deportat negatio. mein Verweigern drückt mich nieder.

Oh, oh, oh, totus floreo, Oh! Oh! Oh! Wie ich blühe,

iam amore virginali totus ardeo Schon von einer neuen Liebe ganz erglühe!

novus, novus amor est, quo pereo. Junge, junge Liebe ist es, daran ich vergeh!

Tempore brumali vir patiens, Zur Winterszeit ist träg der Mann

animo vernali lasciviens. Im Hauch des Frühlings erwacht seine Lust.

Oh, oh, oh, totus floreo, Oh! Oh! Oh! Wie ich blühe,

iam amore virginali totus ardeo Schon von einer neuen Liebe ganz erglühe!

novus, novus amor est, quo pereo. Junge, junge Liebe ist es, daran ich vergeh!

Mea mecum ludit virginitas, Es lockt und zieht mich hin: Ich bin ein Mädchen.

mea me detrudit simplicitas. Es schreckt und ängstigt mich, bin ach so einfach!

Oh, oh, oh, totus floreo, Oh! Oh! Oh! Wie ich blühe,

iam amore virginali totus ardeo Schon von einer neuen Liebe ganz erglühe!

novus, novus amor est, quo pereo. Junge, junge Liebe ist es, daran ich vergeh!

Veni, domicella, cum gaudio, Komm, Geliebte! Bring Freude!

veni, veni, pulchra, iam pereo. Komm, komm, du Schöne! Schon muss ich vergehn!

iam amore virginali totus ardeo Schon von einer neuen Liebe ganz erglühe!

novus, novus amor est, quo pereo. Junge, junge Liebe ist es, daran ich vergeh!

23. Sü.ester

23. Dulcissime

Du Sü.ester!

Dulcissime,

Ganz Dir ergeb ich mich!

Ah! Totam tibi subdo me!

BLANZIFLOR ET HELENA BLANZIFLOR UND HELENA

24. Ave formosissima 24. Heil Dir, Schönste

Ave formosissima, gemma pretiosa, Heil dir, schönste, köstliche Perle!

ave decus virginum, virgo gloriosa, Heil dir, Zierde der Frauen! Jungfrau, hochgelobt!

ave mundi luminar, ave mundi rosa, Heil dir, Leuchte der Welt! Heil dir, Rose der Welt!

Blanziflor et Helena, Venus generosa! Blanziflor und Helena! Noble Venus!

FORTUNA IMPERATRIX MUNDI GLÜCK, DIE KAISERIN DER WELT

25. O Fortuna 25. O Fortuna

O Fortuna, velut luna statu variabilis, O Fortuna! Wie der Mond so veränderlich,

semper crescis aut decrescis; vita detestabilis Wachst du immer oder schwindest! Schmähliches Leben!

nunc obdurat et tunc curat ludo mentis aciem, Erst misshandelt, dann verwöhnt es spielerisch den wachen Sinn.

egestatem, potestatem dissolvit ut glaciem. Dürftigkeit, Großmächtigkeit, sie zergehn vor ihm wie Eis.

Sors immanis et inanis, rota tu volubilis, Schicksal, ungeschlacht und eitel! Rad, du rollendes!

status malus, vana salus semper dissolubilis, Schlimm dein Wesen, dein Glück nichtig, immer im Zergehn!

obumbrata et velata michi quoque niteris; Überschattet und verschleiert kommst du nun auch über mich.

nunc per ludum dorsum nudum fero tui sceleris. Um des Spieles deiner Bosheit trag ich jetzt den Buckel bloß.

Sors salutis et virtutis michi nunc contraria, Los des Heiles und der Tugend sind jetzt gegen mich.

est affectus et defectus semper in angaria. Willenskraft und Schwachheit liegen immer in der Fron.

Hac in hora sine mora corde pulsum tangite; Drum zur Stunde ohne Saumen rührt die Saiten!

quod per sortem sternit fortem, mecum omnes plangite! Wie den Wackeren das Schicksal hinstreckt; alle klagt mit mir!

Blutkreislauf, hier falsch/richtig unter Ausschluss des Gehirns (BHS)
Blutkreislauf, hier falsch/richtig unter Ausschluss des Gehirns (BHS)

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