TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Analyse: Kultur als Widerspruchswunschmaschine

„Aber für mich sind genau diese Probleme
Energie- und Erkenntnisquellen.“

Nicolas Stemann

SEX oder: Jelinek, Stemann, Laudenbach & Leser. Ein Kommunikationsstudio.

Prolog

Ein gut gewachsenes Beispiel von Informationsverhütung im kommunikativen Kulturmilieu fand sich in der Berliner Stadtillustrierten tip – 11/2007. (Mai) Von und mit dem Kulturjournalisten Peter Laudenbach. Das Beispiel schien mir interessant gewachsen, so dass ich es mit ins Labor nahm. Im Zuge der Untersuchungen zeigte sich aber, dass ich mir da einen wirklich schwierigen, geradezu verknäulten Brocken auf den Sektionstisch geholt hatte, der meine ganze Aufmerksamkeit, ja meine Fähigkeiten als Widerspruchsforscher hart auf die Probe stellte. Dachte ich Anfangs noch, ich könne als objektiver Forscher hier mal eben schnell einer kleinen nachmittäglichen Neugier nachkommen, so sah ich mich dann sehr bald einem ausgewachsenen Fall von diskurstechnischem Gruppensex gegenüber, den ich in seiner – wie sag ich’s – Tragweite? – in seiner Tiefendimension? völlig unterschätzt hatte. Die Untersuchung enthält deshalb eine Reihe von Obszönitäten, Plattheiten, Beleidigungen, Verzerrungen und auch einiges sprachlich Ungewaschene. Und geriet auch stellenweise zu einer Art von akademischem Dirty Talk. Diese durchaus fragwürdigen Einschlüsse konnte ich aber nicht aussparen, da meine Erfahrungen als Widerspruchsforscher dafür einstehen, dass Texte interessanter sind und sich auch flüssiger lesen, wenn in ihnen Personen verunglimpft, verzerrt, beleidigt oder beschmutzt werden. Wenn diese Texte also zum Widerspruch anregen. Deshalb möchte ich mich im Vorraus bei allen genannten und eventuell verzerrten oder verunglimpften Personen entschuldigen. Es ist nicht persönlich gemeint, sondern gehört einfach zur Technik, nach der kommunikativ orientierte Milieus affiziert werden. Frei nach dem Motto: Ein Nazi-Vergleich am Morgen vertreibt der Einschaltquote die Sorgen. Nun opperiert meine Untersuchung aber nicht mit Nazi-Vergleichen, dafür aber mit deftigem Sex und möglicherweise sogar mit völlig falschen oder haarsträubenden Thesen und schmutzige Behauptungen, denen man jederzeit auch widersprechen kann. Aber hier halte ich mich ganz an Sir Carl Raimund Popper, der gesagt hat: Wissenschaftliche Thesen haben nur dann eine Geltung, wenn man ihnen zu gegebener Zeit auch nachweisen kann, dass sie falsch sind. (Das so genannte Falsifizierungsprinzip nach Popper, der wirklich so heißt und dieses wesentliche Prinzip formuliert hat, nach dem heute jede seriöse Wissenschaft verfährt, also auch die Wissenschaft vom Widerspruch.)

Die Ausgangslage oder 1. AKT:
Elfriede Jelinek hat ein Theaterstück geschrieben. „Über Tiere“. Das Stück wurde von einem authentischen Fall von Menschenhandel inspiriert. Darin aufgenommen und verarbeitet finden sich Telefonprotokolle in Mitschnitten, die von der Wiener Polizei zur Überwachung eines Zuhälterrings in Wien aufgezeichnet der Autorin vorlagen. In den Mitschnitten hört oder liest man, wie eine kriminelle Bande mittels einer Telefonnummer Frauen aus Osteuropa, zum Teil noch minderjährig, per Telefon als Prostituierte an Freier verschachert. Und tatsächlich geht es in den Gesprächen verbal auch zu wie auf einer Viehauktion.
Wie bei Elfriede Jelinek üblich, wurden diese authentischen Wirklichkeitsgesprächsfetzen von anderem „Textmaterial“ begleitet, montiert, auch mit ihm verwoben, zum Teil mit einer eigenen monologisierenden Stimme, die eine Art Liebesbrief verfasst, so dass am Ende eine so genannte Textfläche vorlag. die – selbstverständlich – etwas mehrdimensionaler sich darbietet, als eine bloß dramatisierte Variante der Empörung gegen Praktiken des Menschenhandels.
Der Ausleger, und ein Theaterregisseur ist, ob er das will oder nicht, immer auch ein Ausleger dieser Textflächen, in diesem Falle Nicolas Stemann, hat also von der Jelinek ein so genanntes Material erhalten, an dem er sich abarbeiten kann. „Produktiv reiben“ – wie es so schön heißt. (Auf die kommunikativ koitale Technik der „produktiven Reibung“ werde ich später noch zurückkommen. Die Wortkombination gehört so ziemlich zum radioaktivsten affirmativer Kontrapunktierung im kulturellen Milieu.)
Verschiedene Interpretationen wären nun im Voraus möglich. Eine klassisch Feministische zum Beispiel würde nahe liegen, die sich bei Jelinekstücken nicht unberechtigt sofort aufdrängt. Oder auch eine – nun ja – pessimistische, eine allgemein gesellschaftskritische Intention, oder auch eine erneute Jelinek-Einlassung über den Zusammenhang von Macht, Markt, Geld, Gier, Sex, Verfügungsgewalt, Österreich; oder aber auch etwas allgemeiner: Eine Jelinek-typische Deklination des Themas Weiblichkeit, Obsessionen, Männlichkeit, Begehren, Narzissmus, Ware, etc…
Soviel zunächst zu Elfriede Jelineks Textangebot.
Die zweite Person meiner Untersuchung ist Nicolas Stemann, ein Regisseur, der hier am Deutschen Theater inszeniert. Ich betrachte zunächst sein Foto in der tip und sehe einen netten Jungen, der seine gut rasierte Nettigkeit ein wenig tarnt mit einem unrasierten Kinn, einem Erich Mielke-Sport-Hut und einer schönen schwarz glänzenden, wahrscheinlich gut überlegten, eher mühevoll ergatterten, lange gesuchten, teuer-edlen, endlich auch gefundenen, womöglich auf einem Flohmarkt bezahlten, oder in Polen besorgten, oder ganz einfach auch nur im Internet bestellten, eventuell aus dem Kostümfundus geklauten, oder von seinem Vater übernommenen – Männlichkeitslederjacke, die ihm Foto-Bild-sprachlich einen klaren Nimbus von Machismo verleiht. So dass der ungeübte Betrachter sofort denkt: Menschenskind, was für ein Kontrapunkt: Diesem Kachelbild von einem Zuhälter und Macho traut die Jelinek ihr schönes feministisches Empörungs- Theaterstück an. Das ist erstaunlich.

Wie ich die bildprachliche Radioaktivität des Stemann-Regisseur-Fotos interpretiere, bleibt sicher meiner Subjektivität verbunden. Ein Anderer würde vielleicht sagen: Hey, der Erich-Mielke-Jagdhut ist Berlin-Mitte-technisch gerade State of the Art. So ein Ding hatte Brad Pit neulich in Dingsbums schließlich auch auf, ebenso die Lederjacke. Also sieht er auf dem Foto nicht wie ein Zuhälter aus den 50igern aus, sondern eben einfach nur trendy, was möglicherweise in Berlin Mitte dann doch wieder auf das Selbe hinausläuft. Objektiv bleibt jedoch der Eindruck gut ausgestellter, gut inszenierter und irgendwie nach Calvin Klein duftender, e-bay-gepflegter Männlichkeit. Trotzdem, ob nun mitte-trendy, e-bay-gepflegt, oder Zuhälter: Der optische und habituelle Kontrapunkt zur Jelinek stellt sich ein. Zumal Steman auch um Jahrzehnte jünger ist, als die Schmerzens-Dramatikerin.
Denn in der selben Zeitschrift findet sich eben auch ein Foto der Autorin, das sie genau so zeigt, wie man sich die Jelinek vorstellt, falls man sie noch nie gesehen hat, oder eben, wie man sie kennt, und wie die Jelinek sich selbst – Achtung, jetzt kommt eine umständliche Formulierung – sich wünscht gesehen zu werden oder sich gewünscht haben wird, gesehen worden zu sein: Spätes Mädchen, verschränkte Arme, Zweitaschenbluse aus österreichischem Tuch, irgendwie crasy, mit einer fragwürdig in die Gesichtsmine hinein geschmissenen Schminktoilette, langen Splisshaaren, aber dazu vorn eine quer gestellte Erotikverweigerungstolle als glasiertes Frisurencroissant über die Genie-Stirn gerollt. Jedenfalls rein äußerlich ein ziemliches Sexualitäts-Schwierigmachungs-Outfit – eben ganz im Kontrapunkt zu dem Regisseur Nicolas Stemann, der für sein eigenes Foto sich verkleidet hat wie ein Wunscharschloch aus dem weiblichen Regelkalender, oder ein Milleniums-Schnellficker aus einem Jelinek-Raststätten-Beschwerde-Drama.
Die Frage, die der Leser dagegen nicht sicher beantworten kann, lautet: Hat der Hut- und Lederjacken-Regisseur Steman sein Foto selbst ausgesucht und an die tip-Redaktion gegeben oder hat die tip es irgendwo gefunden, ausgewählt, um genau diesen optisch Spannung erzeugenden Kontrapunkt in ihrer Zeitschrift zu inszenieren?
Das Selbe weiß der Leser auch über das Jelinekfoto nicht genau.
Er vermutet aber ganz stark, dass beide, sowohl Jelinek als auch Nicolas Stemann sehr genau, peinlich genau, darauf achten, welche Fotos von ihnen, wo und wann und in welchem Zusammenhang die Öffentlichkeit zu Gesicht bekommt. Denn Personen mitsamt ihrer Charaktermaske sind heute Handelsmarken. Auch und gerade im kulturellen Milieu.
Kurze Zusammenfassung: Steman und Jelinek agieren, noch bevor sie den Mund auf gemacht haben, rein optisch habituell in einem sehr gut inszenierten kontrapunktischen Verhältnis, in einem organisierten und fein abgestimmten Zeichenhaushalt, der dem theaterinteressierten Leser, und das ist ja hier die Zielgruppe, subkutan verabreicht wird. Ihn gewissermaßen damit in die kommunikative Matrix aufnimmt, so dass es ihm von vorn herein erschwert wird, irgend etwas anderes als verabredete und vorstabilisierte Zeichenvorräte wahrzunehmen und mitzutauschen. Zeichenvorräte, die nun affirmativ oder kontrapunktisch hin und her geschoben werden. Der Leser sagt sich: Oh, diese Konstellation verspricht Spannung. Aber die Spannung baut sich bereits auf in einem Feld metatextlich verabredeter Re-Konstruktion, wie wir bei späterer Betrachtung noch sehen werden, die, wenn man sie ganz reduziert betrachtet, auf der Erzeugung eines Pawlowschen Speichelflussreflexes beruht.
Der theaterinteressierte Leser wurde über Jahre hinweg durch prästabilisierende Deutungsdiskurse und Moden konditioniert, das tip-Magazin „läutet“ optisch die affirmativ-kontrapunktische Ernährungsglocke, zeigt uns das Jelinek-Sexualitäs-Schwierigmachungs-Foto und der Leser weiß gleich: Jetzt gibt’s gesellschaftskritisches Fresschen. Und speichelt los.
Aber der kulturaffine tip-Leser, der öfter ins Theater geht, weiß zugleich noch etwas anderes, noch etwas mehr. Ein Mehrwissen, dass ihn noch tiefer in die Kommunikationsmatrix hineinzieht, nämlich: Steman ist weder ein Wunscharschloch noch ein Berlin-Mitte-Trendy-Dandy, sondern – Achtung Kontrapunkt – ein eher netter, eher umsichtiger Junge, der eigentlich ein kleines Problem hat. Und dieses Problem heißt Elfriede Jelinek. War und ist diese Autorin nicht eigentlich eine ewige Mäkel-und Nörgel-Mumie? Will die einer heute noch hören?
Jelinekstücke, wenn man sie so blättert, sind gerade nicht eben cool. Sie sind so gar nicht e-bay- und Caffe latte. Die Stimme und die Welt verzehrenden Montagen dieser Schmerzensfrau haben im Moment gerade den Höhepunkt der trendtechnischen Sinushalbwelle überschritten. Sie waren einmal in den späten 90igern up to date und dann bald am Abrutschen in Richtung Trendwellental. Vielleicht ist der Nobelpreis oder der 11. Sebtember ein wenig dazwischen geraten. Aber trotzdem, die Texte von Jelinek sind eigentlich so attraktiv wie der Vorname Karl-Heinz oder die kleinen Handgelenktaschen für Männer, in denen Mann früher das Pfeifchen, den Personalausweis oder die Lux-Zigarettenweichschachtel im Lederetui transportierte.
Und nun hat die schon wieder ein Weiblichkeits-Männlichkeits-Problemstück geschrieben, das nun noch dazu das Thema Menschenhandel in unsere schöne Berliner Chillout-Zone drücken möchte. Hm…also wirklich, denkt man, kann das Spiegel-TV inzwischen nicht besser übernehmen? Gut, die Jelinek bleibt sich und ihrer Charaktermaske treu, was klug ist. Mann kann’s ja auch verstehen. Aber muss das nun schon wieder sein? Hier bei uns in Berlin zumal?
Nun weiß der kultur-affine tip-Leser aber noch etwas: Die Trendsinus -Welle, der Aufmerksamkeitshalbwerte und Rückströmungen hat sich mittlerweile wieder in Richtung eines neuen Problembewusstseins geschoben. Und er weiß auch, dass der offizielle oder inoffizielle Kulturauftrag der Staatstheater in diesem Lande seit Jahrzehnten eben nicht lautet: Wir machen jetzt auf e-bay, Mielke-Sport-Hut und Caffee Latte. Sondern er lautet: Wir wollen verstören. Wir wollen sozial inspirieren, jawohl. Und wir wollen dem Eindruck widersprechen, dass alles nur Sporthut, Caffelatte, oder ebay wäre. Das auch, sicher, aber schließlich gibt es da eben noch die Menschen mit ihren Gefühlen, Obsessionen und ihrer allgemeinen KAPUTHEITERKEIT. Und diese Kaputtheiterkeit wollen wir auch zeigen. Wir wollen Wirklichkeit spielerisch problematisieren und nicht einfach schön rechnen. Bitte schön.
Auch dies also weiß der theater-affine Leser, noch bevor er ein einziges Wort der Interviews gelesen hat. Weil: Das sitzt seit Jahren als Metatext oder Subtext fest in seinem affirmativ-kontrapunktierten KunstundKulturproblemkleinhirn: Dass also Theater-Kultur in diesem Land, jawohl, zu widersprechen hat nämlich, wenn auch spielerisch, und nicht mehr so verbissen, wie noch vor 15 Jahren beim stotternden „RegieBerserker“ Einar Schleef. Wenn auch ironisch, nicht zu witzig, aber auch nicht zu ernst bitte schön, aber doch auch irgendwie energetisch. Flockig darf es auch sein. (Metatext oder Subtext: ein nicht ausgesprochener aber mitwirkender Deutungshintergrund, zumeist durch Gewohnheiten und Erfahrungen konditioniert)

So wird er mit dieser Konditionierung in seinem KunstkulturKleinhirn von der tip-Zeitschrift affiziert, indem er also das Foto des fluffigen Regisseurs Stemann mit Trendy-Hut- und e-bay-Lederjacke betrachtet und es vergleicht mit dem Foto der ewig nörgelnden Sexualitäts-Schwierigmachungs-Problempony-Autorin Jelinek. Fluffy-Sporthut und Lederjacke hier. Problem und Nörgeltolle da. Die Rezeptions- und Problem-Matrix des kultur-affinen Lesers wurde mit einem optischen Kontrapunkt gefüttert, der nun mit den vorstabilisierten Metatexten in seinem Kunstkulturkleinhirn wechselwirkt. Die er aber zugleich auch affirmativ jonglieren kann, darf, muss, soll: Pfirsich, Brötchen, Kaktus und Kartoffel. Und noch immer hat er nicht ein einziges Wort des Beitrags gelesen.
Es braucht vielleicht nicht erwähnt zu werden, dass die geschilderte Zeichen-und Signallage sich innerhalb von Sekunden samt Metatext und auch eher unbewusst im Kunstkulturkleinhirn einstellt, also innerhalb der Sekunden, die es braucht, ein Kommunikationsangebot nach Interesse zu kalkulieren, dass da heißt: „Uraufführung des neuen Jelinekstücks „Über Tiere“ am Deutschen Theater von und mit dem Regisseur Nicolas Stemann.“ Außerdem gilt, dass diese geschilderte Metatextlage nicht nur beim Leser, sondern bei allen 4 Beteiligten, also Jelinek, Steman, Laudenbach & Leser präformiert vorliegt und zwischen diesen Beteiligten wechselwirkt. Wenn auch aus einer jeweils etwas verschobenen Richtung.
Was die trendmäßige Einordnung von Jelinektexten angeht, das weiß auch Regisseur Steman, setzt man sich da immer einem gewissen Risiko aus. Die Trendfrequenzsinuswelle osziliert heute so schnell, dass man als Regisseur ebenso daneben greifen wie auch genau richtig liegen kann, vielleicht sogar als der Vorsurfer auf einem neuen Retro-Wellenberg, wenn man sich an einen Jelinek-Text heranwagt. Dann wäre man der glückliche Apologet eines Revivals der alten neuen Jelinek-Problem-Skandalisierungsversandhausmaschine. Ort und Zeitpunkt müssen eben einfach stimmen. Ein bisschen zu früh und schwupps, man wird nicht wahrgenommen. Ein bisschen zu spät und schwupps, der Caffelatte ist kalt, alle gähnen, und man sitzt im eklen Wellental der Trendsinuswelle fest.

Ich unterstelle hier nicht, dass ein Kulturarbeiter seine Arbeit ausschließlich nach Trendgesichtspunkten organisiert. Oder dass er sie bewusst danach kalkulieren würde. Das tut auch Stemann nicht. Aber ich unterstelle, dass niemand, der irgendetwas irgendwann irgendwo tut, dies in einem luftleeren Raum eines kommunikationselementaren Vakuums unternimmt. In diesem Falle also völlig unschuldig und abgekoppelt von der Aufführungs-und Rezeptionsgeschichte der Jelinektextbibliografie. Und die dehnt sich inzwischen doch lang und breit und unterliegt den Halbwertzeiten von Abnutzung und Widererweckung wie jedes andere mediale Phänomen. Ebenso wie auch der theateraffine tip-Leser nicht gleichsam nackt und unschuldig von irgendeinem Affenbrotbaum mitten in ein tip- Blätterwald fällt. Schon gar nicht in Berlin. Und dies wiederum ebenso wenig, wie auch eine Jelinek, ein Stemann, ein Laudenbach nackt und unschuldig von irgendeinem Affenbrotbaum in ein Interviewtermin klettern.
Wenn ich hier die Signal- Zeichen- und Bedürfnislage im Sinne von Trendsinuswellental und Trendsinuswellenberg überbetone, dann nicht, weil ich die Beteiligten als Handlungsreisende oder Surfer auf eben dieser Wellendynamik ausstellen möchte, denn darin bin ich als Leser des Artikels und auch als Theatergänger mit meinen präformierten Metatexten automatisch mit eingeschlossen – sondern deshalb, weil mir dieser Aspekt in der allgemeinen Kulturberichterstattung immer etwas unterbelichtet erscheint. Geradezu kaum vorhanden. Als Widerspruchsforscher liegt mir daran, den Ernährungszusammenhang zwischen der kontrapunktischen Struktur der Kulturdiskurse (Damit wäre der latent eingeforderte Widerspruchscharakter der Kultur(en) gemeint) und ihrer letztlich dann wider affirmativen Außerkraftsetzung zu untersuchen. Außerkraftsetzung des Widerspruchs eben deshalb, weil genau dieser Widersprüche kulturintern verabredet sind. (Was die Analyse des Gesprächs, so hoffe ich, zeigen wird.)
Das war ein furchtbarer Absatz. Deshalb noch einmal kürzer: Kultur, in diesem Falle Theaterkultur, interessiert mich hier als Widerspruchswunschmaschine, die Widersprüche am Fließband selbst konstruiert, intern verabredet und diese Widersprüche zugleich als ihren eigenen Nährstoff sich zuführt. Sich von ihnen ernährt. Ob dabei Abfall oder etwas Brauchbares für die Steuer zahlende Außenwelt abfällt, bleibt zunächst dahingestellt.

Nun ist die Jelinek aber eine Nobelpreisträgerin. Doch, doch – ein Fakt, der für einen Leib-Magen-und Uraufführungsregisseur einer Nobelpreisträgerin auch karrieretechnisch, nicht ungünstig liegt. Trotzdem kann man nie wissen, ob es wirklich eine kluge Entscheidung war, erneut einen Jelinektext zu inszenieren. Nicht dass man nachher als spätfeministisches Weichei dasteht. Oder einfach nur als Pudel einer österreichischen Tippse, die ihre beste Zeit verschleeft hat und danach mit einem Nobelpreis ruhig gestellt wurde. Dann war man womöglich der einzige Doofe, der es nicht gemerkt hat. Auch wenn man bereits mit einer anderen Uraufführung von Jelinek erfolgreich, sogar sehr erfolgreich reussiert hat (Theatertreffen), sollte man sich als Regisseur da nie ganz sicher fühlen. Denn ein Text von Jelinek ist, solange man ihn blättert oder liest… also da macht er immer ein wenig so den Eindruck, als ob er eine doch sehr traurige Nachricht über Allzumenschliches in eine ganz und gar nicht immer nur traurige oder allzumenschliche Welt hinausschreit. Verdächtig in dieser Anmutung. Zumindest auf den ersten Blick. (Ausdrücklich möchte ich das alles hier nicht als Bewertung von Jelinektexten verstanden wissen. Nur als trendmäßige Einordnung. Ich bin kein Fan weder von Frau Jelinek, noch von ihren Theaterstücken, ich vermute aber, dass ein einziger Jelinektext immer noch soviel Substanz trägt, wie eine halbe Jahresspielzeit aller Berliner Bühnen, samt Opernhäuser zusammengenommen. Was nun auch nichts heißen muss. Denn das gilt wahrscheinlich für viele Texte, aber auch genau nur solange, bis sich ein Regisseur an den Texten „produktiv reibt.“ Wahrscheinlich zeugt die Raffinesse dieser Texte davon, dass in ihnen tatsächlich eine Art Skandalisierungsmaschine summt, leicht über Spiegel-TV-Niveau, aber alle denken lassen: Diese Texte sind GAR NICHT SO, SONDERN NOCH GANZ ANDERS, eben eher, wieder im erwartbaren Kontrapunkt, komisch, skurill, oder krachledern) Oder aber sie bieten mit diesem Restzweifel zumindest ein Potential für „produktive Reibung“ – (schon wieder diese Wortkombination. „Produktive Reibung“ darf ich inzwischen wirklich nur noch mit Gummihandschuhen anfassen.)

Die dritte Person unserer Beobachtung heißt endlich Peter Laudenbach, ein erfahrener und kulturjournalistisch gereifter Theaterbuff. Ohne Foto. Und gerade Laudenbach funktioniert hier erst als versierter, dann zunehmend stillgelegter Techniker im Kommunikationsmaschinen – und Zeichenraum, dass es nur so kracht. Er dichtet alle Motoren gegen eindringende aber auch eventuell ausströmende Information perfekt ab. Sein Arbeitsmotto lautet: Wer kommunizieren will, darf nicht informieren. Also kommuniziert er, wird aber dann, nachdem die Maschine abgedichtet ist, von der eigenen Mechanik erfasst und treibt sich selbst und uns immer tiefer und tiefer hinein in eine Wüste des Wahrscheinlichen. Aber selbstredend steht Laudenbach nicht allein da, sondern es produzieren gleichberechtigt die Kollegen der Kommunikationsfirma Jelinek, Steman, Laudenbach & Leser. Also ganz ausdrücklich: Es manipuliert hier kein Böser, Schuldiger, Mächtiger oder gar irgendeinen Tempelritter. Die Informationsverhütung ereignet sich in Wechselwirkung mit den präformierten KunstundKulturkleinhirn-Metatexten bei allen Beteiligten& Leser.
Jelinek, Steman, Laudenbach &Leser verabreden sich also in dieser Wüste des Wahrscheinlichen als Kultur-Vertreter, Vermittler, Produzent und Rezipient, die doch eigentlich fürs Spielerische, Spontane und Nichtautomatische, Gegen-Technische, („Romantische“. -Safransiki) zuständig sein sollten. Oder sind sie das am Ende gar nicht?
Das Gespräch jedenfalls fand statt, und der Artikel erschien zu einem Zeitpunkt vor der Bühnenaufführung. Die tip hatte das redaktionell so eingefädelt, so dass man vor der anstehenden Premiere durchaus Pawlowhundgemäß speicheln durfte.

Umbau. Kurze Pause.

Aufs Klo gehen. Rotwein trinken. Oder eine rauchen.

2. Akt. – Das Interview

Auftritt Laudenbach und Jelinek.
Laudenbach fragt:
Sie verwenden in ihrem Text „Über Tiere.“ Textmaterial aus Abhörprotokollen, Gespräche zwischen Mädchenhändlern, Wiener Zuhältern und ihren Kunden, die telefonisch Mädchen bestellen. Ein Zitat: „Sie sollte eine echte Jungfrau und sogar schon 15 Jahre alt sein.“ Dieses Dokumentarmaterial ist ziemlich ekelhaft, gleichzeitig Verkaufsgespräch samt Anpreisung der Ware und eine Art Realporno: „Es gibt da keinen Aufpreis für naturfranzösisch.“ Wie kamen sie auf diesen Stoff? Weshalb arbeiten Sie mit dokumentarischem Material?”
Leider ist schon diese erste Frage faul. Der Theaterbuff Laudenbach fragt hier wie ein 11 Jähriger Redakteur einer Schülerzeitschrift, der seine potentiellen Leser offenbar für 5 jährige hält. Er hält diese Taktik der heruntergedimmten Neutralität für journalistisch professionell. Ein großer Irrtum, wie sich bald herausstellen wird. Seit vorvorgestern schon benutzen Theaterautoren dokumentarisches Material oder an dokumentierten Vorgängen und Figuren ausgerichtetes Material. Seneca hatte seine Perserkriege, Sheakespeare seine Rosenkriege, Schiller und Kleist den 30igjährigen Krieg, Brecht seinen Charles Lindberg, Müller seinen 2.Weltkrieg – und die Jelinek, nun ja – ach es ist nicht schön, das hier so didaktisch aufzuzählen – und jetzt fragt Laudenbach die Nobelpreisträgerin Jelinek: Wie kamen Sie auf diesen Stoff? Warum arbeiten Sie mit dokumentarischem Material? Das Unterdefinierte dieser Frage tut weh, weil die Nobelpreisträgerin Jelinek ihm nun eine genau so unterdefinierte und darin schlaffe Antwort gibt. Sie hat gar keine andere Chance. Oder vielleicht genießt sie das auch. Und damit ist bereits ein Drittel einer ganzen Tip-Seite gefüllt. Jelinek antwortet:
“Ich habe in der österreichischen Zeitschrift „Falter“ zum ersten Mal Zitate aus diesen polizeilichen Abhörprotokollen gelesen und sofort gewusst, dass ich das für einen Text verwenden muss.
Anschließend hat man mir dann weiteres Material zur Verfügung gestellt, aus dem ich dann eine Art Textcollage hergestellt habe. Es ist immer interessant, authentisches Material zu bekommen, will man damit eine andere Sprachebene, sozusagen einen Zwischenboden in einen Theatertext einziehen, ihn strukturieren kann….

Wow! Ich zieh Ihnen auch gleich einen textlichen Zwischenboden ein, Frau Jelinek. Was ist denn das jetzt? Ein Bühnenautor nimmt dokumentarisches Material und macht damit etwas. Also ich muss sagen, das war uns eigentlich immer schon irgendwie … also wir haben es geahnt quasi! Endlich. Endlich spricht das mal jemand aus. Endlich erfahren wir, was ein Theaterautor mit seinem Material macht. Gut, bei Wallenstein gab’s noch keine abgehörten Telefonprotokolle, sonst hätte ja der Schiller womöglich auch schon…. irgendwelche Zwischenböden eingezogen… aber ich weiß, Frau Jelinek, du kannst nichts dafür, dass du auf eine blöde Frage, so blöd antwortest…
…Diese Sprache der Nutzung und Vernutzung hätte ich genau so nicht erfinden können. Ich wusste zwar, dass Männer so über Frauen sprechen, und ich wusste wie Männer über Frauen sprechen, wenn sie Kunden sind und Frauen für ihre Dienstleistung bezahlen, also einen Anspruch auf diesen Frauenkörper haben, aber es wörtlich zu haben, war doch ein großer Gewinn für den Text. Für mich waren diese Aussagen keine Überraschung, aber die Zuschauer im Theater hätten vielleicht gesagt, dass eine alte ranzige Feministin mal wieder übertreibt: „So wie die kleine Elfriede sich das vorstellt.“ Das kann man hier nicht, denn dieses Sprechen ist authentisch. Es ist sozusagen mein Beweis…
Was mir an diesem Teil der Antwort zunächst gefällt, ist ihre Aufrichtigkeit. Hier sagt Elfriede Jelinek, dass diese Protokolle sie direkt in einer speziellen Affektlage bestätigen oder bestätigt haben. Zugleich bestätigt sie den Metatext des tip-Lesers, dass die Jelinek möglicherweise eine stark feministische Sicht der Dinge bevorzugt. Aber das will ich hier nicht untersuchen. Was ich untersuchen will, und was mir an diesem Teil der Antwort weniger gefällt, ist, dass sie bezogen auf die Jelinek und im Kontext keine Information transportiert. Sie transportiert nichts, was der theateraffine Leser in seiner prästabilisierten Deutungsmatrix nicht selbst schon in seinem gesellschaftskritisch kontrapunktierten Kunstkulturkleinhirn als Wahrscheinlichkeitsballast mit sich herumträgt oder was er sogar nicht schon einmal in einer Spiegel-TV-Doku gesehen hat. Oder life in einem Puff erlebt. Die Antwort ist zutiefst wahrscheinlich. Und ebenso wahrscheinlich geht es jetzt eben weiter:
… es ist sozusagen der Beweis und der liegt auf dem Tisch. Vielleicht spielt auch eine gewisse Verbitterung eine Rolle. Denn man hat mir ja oft nicht geglaubt und mir vorgeworfen zu übertreiben…
Ja, nun ist ja gut. Also ich weiß nicht, Frau Jelinek, wen Sie hier mit „man“ meinen. Das Publikum? Das Berliner Publikum? Oder Jörg Haider? Andererseits wäre das mal eine interessante Frage, die Laudenbach stellen könnte: Frau Jelinek, sind sie das geworden, was sie heute sind, weil sie immer etwas geschrieben haben, was man ihnen nicht glaubt? Heißt eine Dramatikerin nicht auch deshalb Dramatikerin vielleicht, weil ein dramatischer Text unter Umständen Themen zuspitzt, eben dramatisiert wie der Name so sagt? Also sogar etwas mehr leisten muss, als eine Spiegel-TV- Skandal-Doku. Aber hier springt in gewisser Weise bei der Jelinek eine Widerspuchswunschmaschine an. Durchaus möglich, dass es Menschen gibt, die der Jelinek gar nichts glauben, oder ihr sogar irgendwas zu unterstellen bereit sind – aber sitzen diese Menschen massenweise in ihrem Theater? Lesen sie ihre Stücke?
… ich habe nie übertrieben. Es können Verhältnisse zwischen Männern und Frauen nur Gewaltverhältnisse sein, wie subtil auch immer diese Gewalt, die ja immer von oben nach unten geht, ausgeübt wird.
Baff! Jetzt ist es raus! Wir erfahren hier also ganz überraschend, dass Frau Jelinek das Verhältnis von Männern und Frauen als irgendwie problematisch empfindet. Also zugegeben, dass denke ich ja auch manchmal, wenn ich schlecht gelaunt bin, dass das nicht immer ganz einfach sich darstellt. Aber jetzt haben wir das auch noch einmal schwarz auf weiß. So steht man mit seinen gelegentlichen Vermutungen nicht mehr ganz so allein da. Aber das Allerüberraschenste ist, dass die Frau, die das sagt, Elfriede Jelinek heißt. Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Hut ab vor Laudenbach, der seine Interviewpartnerin, die seit Jahrzehnten dafür bekannt ist, dass sie harmonische Bühnenidyllen mit leisen Walgesängen und akustischem Wasserplätschern plus Vogelzwitschern kombiniert, deren Theatertexte auch manchmal in den Wellnessbereichen von Hiltonhotels über den Liegestühlen zur Entspannung per Lautsprecher eingespielt werden – dass diese Autorin jetzt durch eine raffiniert ausgetüftelte Fragestruktur zu absolut überraschenden Enthüllungen genötigt wird, die auf einmal richtig tief blicken lassen, Frau Jelinek.
Da erlebt man mal, was mit einer geschickten und ausgebufften Fragetechnik alles so herausgekitzelt werden kann. Und ich habe immer gedacht, die Frau Jelinek hat da einen eher lockeren, entspannten und gar nicht so problematischen Themenkomplex.
Laudenbach als unnachgiebiger und gefürchteter Interviewer setzt nach mit einer nächsten Frage:
Sind diese gemütlichen Vergewaltigergespräche des dokumentarischen Materials in ihren Augen ein kriminelles Extrem oder eher in aller Abstoßung Ausschnitte einer fast normal durchschnittlichen Männermentalität?
Frau Jelinek, wie finden wir denn diese Frage jetzt? Zeigt sich da nur so ein total übertriebenes, unglaublich zugespitztes, polemisch überdramatisiertes, völlig absonderliches Extrem in diesen gemütlichen Vergewaltigergesprächen? So ein völlig wahnsinnig zufällig absolut und überhaupt nicht repräsentatives Fundstück aus den zugeschlossenen Schubladen und Verhältnissen von oberperversen und unvorstellbar ins Ultra abgeplatzten einzelnen Ausnahmeerscheinungen? Oder ist das jetzt vielleicht doch ganz überraschender Weise „in ihren Augen“ vielleicht gar nicht so ein Ausnahmefall, wie der metatextlich vorkonditionierte gesellschafts-und kapitalismuskritische theateraffine Berliner tip-leser und Betrofffenheitskonsument ja immer denkt in seiner illusionistisch idyllisierten Verschlafenheit – sondern eher so ganz anders eigentlich, eben doch skandalös normale ganz erschreckender Weise normale „gemütliche“ (toll wie Laudenbach das Wort „gemütlich“ da taktisch eingesetzt hat) Normalität? Wahnsinn. Geniale Frage von Laudenbach. Absolut investigativ geschnitzt das Ding! Jetzt bin ich aber wirklich mal gespannt, wow, also wirklich echt am Durchbrennen, was die Frau Jelinek auf diese einfach gnadenlos und vollkommen überrumpelnd hart herein und vor den Latz geknallten hammermäßig und rhetorisch brillianten Frage antwortet. Wuhhhhuuuu ist das jetzt spannend! Muss mir gleich ne Zigarette anmachen. Ich halt’s echt nicht mehr aus. Laudenbach, du bist eine Hyäne! Achtung, Frau Jelinek antwortet:
Nein, total normal, nicht extrem. Der Unterschied besteht wie gesagt, nur darin, dass es um Verkaufsanbahnungsgespräche geht, und da drückt man sich kurz und präzise und prägnant aus, damit der Verkäufer, (hier vielleicht eher: der Vermieter) möglichst genau weiß was man will.
Boah ey! Bretterknaller. Dass es so etwas in unserer Gesellschaft gibt! Und die sagt, das wär’ normal. Das ist ja ungeheuerlich! Nestbeschmutzerin!! Buhhhhh!!! Lüge!!! Skandalös!!! Das ist doch krank so was!!!
Aber jetzt nimmt Laudenbach noch einmal richtig Anlauf, kramt noch einmal ganz tief im Reservoir seiner investigativen Interviewkompetenz und fragt, ach was fragt – er holt mit dem Baseballschläger seiner gesamten kulturjournalistischen Erfahrung aus und macht Frau Jelinek richtig Angst, prügelt so richtig die letzte Information aus Frau Jelinek raus, und er tut dies mit einer gnadenlos kontrapunktischen Alternativfragetechnik, eine Technik, die sonst nur irgendein 8-Punkte-Monster aus einem japanischen Kampfkartenkinderquartett beherrscht, so dass der theateraffine tip-Leser die Zeitschrift umkrampft und dabei ganz weiße Fingerkuppen bekommt:
Geht es Ihnen bei der Verwendung und Bearbeitung dieser Abhörprotokolle um so etwas wie Aufklärung, darum, etwas Verdecktes sichtbar zu machen, öffentlich zu machen – oder geht es vielmehr darum, etwas längst allgemein bekanntes bis zur Unerträglichkeit zu verdichten und das scheinbar normale als das Monströse, das es ist, zu zeigen?
Ich höre mir diese Frage an und vergleiche sie noch einmal mit der allerersten Frage, die Laudenbach gestellt hat: Wie kamen sie auf dieses Material? Warum arbeiten Sie mit dokumentarischem Material? Und sage dazu nichts weiter. Denn Laudenbachs Frage zwingt jetzt die Jelinek dazu, ein jahrhunderte lang gehütetes Geheimnis aller Dramatiker auszuplaudern. Sie verrät einen uralten und scharf bewachten Zaubertrick, der sonst nur in geheimen nächtlichen Initiationsritualen von Schriftsteller zu Schriftsteller weitergegeben wird. Sie muss dafür sicher auf ewig in der Dramatikerhölle schmoren:
Es geht mir darum, das Bekannte auf den Punkt zu bringen, ja, genau wie sie sagen, das Normale als das Monströse zu zeigen, obwohl mir bewusst ist, dass viele Männer nichts Monströses darin sehen, sich Frauen zu bestellen wie eine Pizza, nur sind sie halt teurer. Es ist ein Geschäft wie jedes andere, nur das die Ware eben lebendig ist, das ist sie aber auf dem Viemarkt auch.
Harter Tobak ist das für den Berliner Betroffenheitskonsumenten. Die Jelinek bleibt sich auf eine so wunderbare Art treu, dass ich sie dafür umarmen könnte. Aber ihre Antwort provoziert jetzt gleich noch eine Frage, die wahrscheinlich den Fragesteller Peter Laudenbach einen Platz im Geschichtsbuch unter den ersten drei gefürchtetsten und intelligentesten Interviewern aller Zeiten zuweisen wird. Und wir werden Zeuge dieses historischen Moments. Laudenbach fragt:
Kommt daher der Titel ihres neuen Theaterstücks: „Über Tiere.“?
Und Frau Jelinek, nun bereits völlig hilflos in der Umklammerung von Laudenbachs psychologischer Eisenfaust, antwortet:
Der hat mir halt gefallen, er ist mir so eingefallen….
Elfriede, ich werde Dich für diese wunderbare Antwort für immer und ewig verehren. Und die war diesmal wirklich genial, gerade weil dir hier gerade der Hexenprozess gemacht werden soll. Und weiter sagt sie:
…Tiere sind unschuldig, die Männer sind nicht unschuldig. Aber Tiere sind Frischfleisch und werden auch als solches vermarktet. Das passiert der Frau in dem Text eben auch.
Und zack. Hier schnappt die Jelinekfalle zu. Der Journalist Laudenbach ist am Ende. Bisher hat er seine durchschaubar und auf naiv herunter gedimmte Art zu fragen für journalistische Professionalität gehalten. Für besonders ausgebufft. Denn in seinem Schulbuch für Kultur- und andere Journalisten stand irgendwo mal: Vergiss, was Du weißt. Stell dich dumm. Und stelle die ganz einfachen Fragen. Frage das nahe Liegende. Weil das Kinder auch machen. Und Kinder sind bekanntlich die besten Fragesteller dieser Welt….
Nee, nee, nee, Laudenbach, so funktioniert das hier aber nicht. Denn Frau Jelinek weiß das vielleicht sogar noch besser als du. Frau Jelinek ist eine Autorin, und sicher keine Dumme; über ihren komischen Feminismus kann man geteilter Meinung sein, aber als Spielspezialistin und in den Techniken des kindmäßigen Herunterdimmens von Komplexitäten ist sie dir haushoch überlegen. Sie ist übrigens eine Theaterautorin. Da musst du schon ein bisschen früher aufstehen. Aber mit Schulbuchjournalismus brauchst Du der Jelinek da nicht zu kommen.
Genau diesen seinen journalistischen Bankrott wird Laudenbach an dieser Stelle auch geahnt haben. Aber es ist zu spät.
Urplötzlich hat sich das Blatt gewendet. Deshalb kommt er der Jelinek jetzt affirmativ, beinahe schon devot und gibt im journalistischen Qualkampf plötzlich seine ganz und gar nicht naiven Recherchefakten von sich, die er sich eigentlich aufgehoben hatte für den als brandneue Homestory zu entlarvenden Feminismus von Frau Jelinek. Und so lässt die Jelinek den Kulturjournalisten immer tiefer und tiefer im Treibsand der Wüste des Wahrscheinlichen eines Boulevardgeplänkels ala Matussek und Konsorten versinken. Laudenbach im journalistischen Qualkampf fragt:
Sie zitieren nicht nur Wiener Zuhälter und ihre Kunden, sondern auch den „Spiegel“ – Journalisten Mathias Mattusek, der sich in einem seiner Artikel über seine Erlebnisse im Theater beklagt: „Es ziehen sich immer die Falschen aus, die absolut keine Figur fürs Ausziehen haben.“ Ist dieser männliche Kenner- und Genießerblick auf die Frauenkörper nur die etwas vornehmere Variante dessen, was sich in den Kundenwünschen, den Bestellungen für die Wiener Zuhälter so schön deutlich äußert? („Haben Sie beim Service auch eine extrem Vollbusige.“)
Laudenbach ist hier journalistisch bereits völlig am Ende. Es sei noch einmal an die erste Frage von ihm erinnert: „Wie kamen Sie auf diesen Stoff? Weshalb arbeiten Sie mit diesem Material?“ Und der kultur-affine Tipp-Leser, nach Information dürstend, muss nun miterleben, wie ein Gespräch mit einer Nobelpreisträgerin zu einem bloßen Tauschgeschäft von prästabilisierten Zeichenvorräten, Diskurshülsen und Metatexten verkommt, die er alle schon kennt und in seinem Kunstkulturkleinhirn gespeichert hat, und die nun die Jelinek, die sich plötzlich in eine echte Sadistin verwandelt, genüsslich reproduziert. Sie lässt den Leser&Laudenbach nicht einfach sterben, sondern quält ihn genüsslich, indem sie antwortet:
Der männliche Blick ist der entscheidende, es ist der Blick dessen, der die Nachfragemacht hat. Und jede Frau unterliegt diesem abtaxierenden männlichen Blick, auch eine, die sich nicht verkauft, denn auch die ist schon verkauft, nur weiß sie es nicht. Ich kritisiere ja nicht in erster Linie die Macht der Männer, sondern die phallische Macht des männlichen Wertesystems, neben dem ein weibliches keine Chance hat. Und auch als Künstlerin unterliege ich diesem männlichen wertenden Blick, daher habe ich auch einen Kritiker zitiert. Auch das was er geschrieben hat, ist total normal, er entspricht in vollkommener Weise dem System. Die Frau kann machen was sie will, es nützt ihr nur jung und schön zu sein, denn nur dann ist sie für den männlichen Blick interessant und etwas Wert.
Erfahre ich hier etwas Neues? Die Informationsverhinderungsmaschine läuft wie geschmiert. Die gut geölten Kolben des Wahrscheinlichen stampfen und dazwischen wälzt sich und zuckt der Kommunikationsmaschinist Laudenbach, der sich möglicherweise vielleicht gerade in diesem Moment als ein echter Diskurs-Masochist outet, denn er fragt nun noch weiter:
Der erste Teil ihres Textes liest sich wie ein verstörtes Selbstgespräch, der stockende Bewusstseinsstrom einer unglücklich Liebenden, weshalb kombinieren Sie das mit der Gewaltpornografie des Dokumentarmaterials?
Erstaunlich, was Laudenbach plötzlich alles so erbricht: stockender Bewusstseinsstrom, verstörtes Selbstgespräch… und plötzlich sind es keine „gemütlichen Vergewaltigergespräche“ mehr, wie noch vor 4 Minuten, sondern jetzt doch wieder „Gewaltpornografie des Dokumentarmaterials.“
Und Lady Jelinek Domina vom Feinsten peitscht Ihren interviewenden Journalistensklaven mit dem feministischen Büffelhautstriemer, an dessen Ende besonders harte Diskurshülsen montiert sind. Leider können wir Laudenbachs lustvolles Stöhnen nicht akustisch wahrnehmbar machen, während die Jelinek antwortet:
Ja. Es ist das Sprechen einer Verliererin, die nur begehren kann, indem sie sich zu einem zu begehrenden Objekt für den männlichen Blick macht. Die Frau leistet die Liebesarbeit, der Mann eignet sie sich an. (Die Autorin Irmgard Keun zum Beipiel hat das schon vor dem Krieg eindrucksvoll beschrieben) Aber der, der die Liebesarbeit leisten muss, eigentlich: die, denn es ist ja immer die Frau, die diese Arbeit macht, spricht in Objektsprache von sich und ihrem Körper…
Ja Elfride, gib’s deinem Journalistensklaven!! Peitsch Ihn mit deinem feministische Siebenstriemer…peitsch ihn härter….
… während dem Mann die verlogene ausschweifende Metasprache, die Sprache der Dichter zur Verfügung steht. Im ersten Teil des Textes spricht eine Frau von sich selbst in der Objektsprache, wie ein Handwerker, der ein Werkstück bearbeitet, sich selbst, sie richtet sich für den männlichen Genuss her und zu.
Laudenbach, obschon völlig rot gezüchtigt und gestriemt und der Semantik nicht mehr ganz Herr, stöhnt und stammelt seiner Elfriede jetzt in einer Tautologie seine stimulierenden Diskurshülsenvorlieben zu und fragt:
Der Text ist eine Art vielstimmige Stimmencollage…..
Vielstimmige Stimmencollage – Laudenbach ist am Höhepunkt seiner verdorbenen Diskurshülsengeilheit: Vielstimmige Stimmencollage, ja gib’s mir vielstimmig in vielen Stimmen als Collage, Elfriede! Ahhh… endlich mal eine vielstimmige Stimmencollage, wo doch Theatertexte oft so langweilig einstimmig sind. Bei Shakespeare hört man immer nur eine Stimme, aber Frau Jelinek ist die Domina der vielstimmigen Stimmencollage. Ihre Spezialität… ahhh gibs mir… gib’s dem Laudenbach, der jetzt noch weiterstöhnt:
…oder um einen Ausdruck von Germanisten zu verwenden, eine „Textfläche“. Wie soll das Theater damit umgehen?.
Und Lady Jelinek Domina vom Feinsten antwortet herablassend, wie es sich für eine echte Lady gehört:
Das überlasse ich dem Theater, ob es damit umgehen will und kann. Der Text ist fürs Theater geschrieben, weil er ein Hörtext ist, zum Unterschied von Schreibtexten, die für’s Lesen gedacht sind. Natürlich überschneiden die beiden Arten der Rezeption sich, denn man kann den Text ja auch als Lesetext benutzen. Er gehört allerdings, von mir aus gesehen, schon auf ein Pordest gestellt und gezeigt, vorgeführt….
Mann, Mann, Mann, Elfriede….“benutzen“, „auf ein Podest stellen“, „zeigen“, „vorführen“… das ist schon raffiniert, was du deinem Sklaven hier verklickerst, was man mit einem Theatertext so alles machen kann, du bist wirklich eine ganz Abgefeimte:
... diese Vergrößerung durch die Bühne gehört in diesem Fall für mich zum Text dazu, denn die Alltagsmonstrositäten bekommen so etwas quasi Sakrales, werden herausgehoben, obwohl sie Alltag bleiben und als solche auch erkennbar sind…
Laudenbach ist kurz vor dem Höhepunkt und jetzt ist es soweit, dass er den DRITTEN mit ins Spiel bringt, Jelineks Gehilfen und zweiten Sklaven, Nicolas Stemann. Laudenbach stöhnt:
In Nicolas Stemanns Inszenierung „Ulrike Maria Stuart“ (ein anderes Stück von Jelinek) treten zwei Schauspielerinnen als zwei Meter große Vaginas auf und sprechen in breitestem Östereichisch Passagen aus einem alten Interview zwischen Ihnen und der Schriftstellerin Streeruwitz. Weshalb vertrauen Sie Stemann ihre Stücke an?
Und jetzt antwortet die Jelinek ihrem Sklaven Laudenbach mit dem spätestens seit Brecht (Verbot der Einfühlung) verabredeten Klassiker der kulturmilieuinternen Praktik der „produktiven Reibung“ Nur die Jelinek sagt nicht „produktive Reibung“, sondern drückt es anders aus:
Ich habe erkannt, dass man meine Texte am besten gegen sich selbst (man könnte auch sagen: gegen den Strich) bürstet, in diesem Fall: auf den Strich schickt.)
Hmmm …..gegen sich selbst bürstet. Am besten mit der Drahtbürste! Hier kommt jetzt der klassische in kulturquälenden Kreisen bekannte Switch-Effekt des verabredeten Kontrapunkts, ohne den im Kulturmillieu mit seiner prästabilisierten von Brecht erfundenen und Heiner Müller dann weiter gegekauten kontrapunktischen Theaterdialektik heute gar nichts mehr läuft. Jelinek weiter:
… Man muss eine starke Persönlichkeit gegen meinen Texte setzen, um sie zur Kenntlichkeit zu entstellen. Und das macht Stemann und das macht er genial, auch wenn ich manchmal ein wenig schlucken muss, aber genau so will ich es haben. Er ist mein Co – Autor, unbedingt, das verlange ich von ihm.
„Das verlange ich von ihm.“ Ist das nicht ein diskustechnischer sadomasochistischer Dreier in reinstem Format? Mit dem Vierten also mich als Leservoyeur. Ist die Jelinek nicht ein unglaublich raffiniertes Diskursluder, die hier sogar mal schlucken muss? Abgesehen davon, dass hier „bis zur Kenntlichkeit entstellt“ als ein uraltes Brechtzitat und staubige Kulturdiskurshülse an ihrem feministischen Siebenstriemer hängt, den sie aus ihrem Werkzeugkoffer gekramt hat. (man kann die Wortgruppe wunderbar googeln) und damit knallig hin- und herpeitscht, ohne dass auch nur der geringste Feuerfunke an Information herausgeschlagen wird. Letztlich auch: Ohne das jemand ernsthaft verletzt wird – Gottseidank. Die Jelinek am allerwenigsten.
Was daran so interessant anweht: dass hier nicht Wirklichkeit „bis zur Kenntlichkeit entstellt“ werden soll – so wie es Brecht damals gemeint hat, sondern es sollen die Energie – und Affektlagen der Jelinek als Diskursluder, des Regisseurs als Hilfssklaven und Produzenten massiert werden, und letztlich auch die des Lesers oder Publikums, der sich hier als Kaputtheiterkeitskonsument eine verabredete gesprächssexuelle Dienstleistung gönnt, für die er schließlich bezahlt und eine Eintrittskarte kauft oder in diesem Falle eine Stadtillustrierte.
Die Reinform von Kultur als Sado-Maso-Studio oder als Widerspruchswunschmaschine in totaler Selbstreferenzialität, komplett abgedichtet gegen jede Art von Neuigkeit
Die letzte Frage von Laudenbach, kurz bevor er das erste Mal kommt, lautet:
Unterzeichnen Sie Ihre mails eigentlich immer noch mit einem lustigen typografischen Ferkel?
Und damit hat Laudenbach devot ein Signal gegeben, das die umgewälzten Luftmoleküle hier durchaus auf gesprächskulante Zimmertemperatur geregelt bleiben. Niemand hat sich weh getan. Die Jelinek malt ein typografisches Ferkel. Keiner wurde verletzt. Jetzt noch schnell ein Kleenex und ab in die Pause.

Pause. Umbau. Pinkeln gehen. Rotwein. Zigarette.

3. Akt –

Auftritt Stemann. Cooler Typ. Erich Mielke – Sporthut, Lederjacke etc…

Laudenbach kommt auch hier zunächst mit seiner unsäglichen „Ich stell mich mal ganz dumm-Taktik“ Wahrscheinlich ist das bei ihm so eine Art Erregungsritual. Er fragt:
in Ihrer Inszenierung „Ulrike Maria Stuart“, die eben beim Theatertreffen zu sehen war, lassen sie eine als zwei Meter große Vagina verkleidete Schauspielerin Passagen aus einem alten Jelinek-Interview sprechen. Das zeugt von einer gewissen Aggression des Regisseurs Stemann gegenüber den Texsten von Elfriede Jelinek. Ist das so?I
Eigentlich wäre ja die Frage eine Einladung, die herunter gedimmte Glühlampe von Laudenbach einmal ploppen zu lassen. Stemann könnte antworten: Ich mag Vaginas einfach. Ich finde Vaginas irgendwie sexy. Und wenn ich die Möglichkeit habe, sie zwei Meter groß zu bauen, dann mach ich das auch. Na klar,Vaginas sind geil. Aber Stemann ist eben nicht wirklich ein cooler Typ oder eine starke Persönlichkeit, sondern ein Diskursprimus und Jelineksklave. Und deshalb antwortet er:
Aggression stellt sich schnell ein, wenn ich an diesen Texten arbeite. Das hängt sicher mit einer Forderung und einer Überforderung durch die Texte zusammen. Ich versuche erstmal auf Augenhöhe zu kommen, da ist Aggression eine gute Energie um Waffengleichheit herzustellen. Diese Texte sind ja auch nicht ganz unaggressiv.
„Augenhöhe“, „Waffengleichheit“, „Aggression“. Hier soll ein Kampf ausgetragen, oder vielmehr eine Kampfsimulation im Jelinekschen Studio des affirmativen Kontrapunkts inszeniert werden. Aber kein Kampf, der etwas nach außen abstrahlt oder auch nur das Geringste durcheinander bringt. Es wird wieder die Widerspruchswunschmaschine angeworfen, dank Laudenbachs Maschinisten -und Masochistentalent. Die Frage ist nur: Wie relevant ist dieser Kampf von der Informationsseite her? Was interessiert mich daran, was ich nicht auch in einem guten Hollywoodfilm besser haben kann? Wen ich Kampf sehen will, hol ich mir eine Gladiator – DVD – oder telefonier mit meiner Freundin. Da bin ich alle Mal besser bedient als mit diesem e-bay-gepflegten Aufstand der kleinen Männer. Und schon rutscht Laudenbach immer weiter in den mäßigen Boulevard und fragt:
Sie haben drei Jelinekstücke uraufgeführt. „Über Tiere“ ist ihre vierte Inszenierung eines Stückes von Elfriede Jelinek. Wie muss man sich das Verhältnis zwischen Ihnen und Elfriede Jelinek vorstellen? Fragen Sie die Autorin, wie ihre nicht ganz unkomplizierten Stücke zu verstehen sind?
Gähn. Wir sind jetzt bereits schnell wieder am selben Punkt, wie beim Jelinekinterview. Auch hier könnte Steman die heruntergedimmte Glühlampe von Laudenbach einmal ploppen lassen, zum Beispiel mit der Antwort: Ja, wir schlafen manchmal mit einander. Die Elfriede ist ein geiles Luder, ich mag das. Aber nein, Steman antwortet wie ein Schuljunge:
Ich habe sie jetzt eine Weile nicht getroffen, aber hin und wieder mailen oder telefonieren wir. Ich habe sie öfter im Vorfeld von Inszenierungen besucht und rede sehr gerne mit ihr. Aber ich frage sie nicht nach Erklärungen. Ich glaube, dass eine gewisse Art von produktivem Missverständnis den Dingen ganz gut tut…
… und jetzt kommt gleich ein ganz olles Heiner-Müller-Repertoire. (Für alle die wissen wollen, warum Heiner Müller nicht mehr ganz so oft gespielt wird: Die Antwort ist einfach und die Frage ist falsch. Er wird oft gespielt. Nur eben oft ganz indirekt, eben in diesem Sinne eines nachgeahmten, fraglos ausgeborgten theaterästhetischen Habitus, dass man so ähnlich in seinen Interviews zu seiner Theaterästhetik aus den 70igern nachlesen kann. Und Stemann reproduziert das als Diskurssprimus jetzt so:
Wenn man die Texte nur strikt rational liest und nach klaren Bedeutungen fragt, kommt man nicht weit. Auf einer künstlerischen, energetischen Ebene sind sie dagegen sehr klar. Die muss ich aber selber finden….
Steman hat seine Grundschul-Hausaufgaben gemacht. Das ist Heiner Müller fast wörtlich, nachzulesen im Band „Heiner Müller-Material“ DDR-Reclam-1989 und in einigen Interviews. Problematisch daran bleibt: Es sind eben Hausaufgaben. Nicht originell, nicht neu befragt: Es kommt aus dem altbekannten Sumpf des „energetischen“ Artaud-Brecht-Müller-Mischwaldes, der damals von Müller als Notwehr gegen die überideologisierende Lesart von Texten, insbesondere im Ost/West-Clash gepflanzt wurde und gegen die „erkennungsdienstliche Behandlung“ von Theaterstücken, auch seiner eigenen, gegen die er deren „energetische Offenheit“ behauptete. Aber diese alte Müllertechnik aus dem Brecht-Artaud-Müller-Mischwald ist mittlerweile totes Ritual, x-mal variiert, geschleeft, geschlingensieft, gegoschelt oder gecastorfelt worden, eine Art Zweitsemesteraufgabe oder beinahe wieder eine Ideologie, die den Kontakt mit einer Wirklichkeit verweigert, die mittlerweile eine ganz veränderte ist. Wie auch das Diskursgelabere vom „Material“. Von Müller weiß Stemann, dass ein guter theatertext immer klüger als sein Autor ist, abeer das muss nun nicht gleich als Persilschein für allee Texte gelten. Aber Stemann macht weiter:
Der Prozess der Annäherung ist bereits Material für die Inszenierung, den kann mir keiner abnehmen – kein Germanist, kein Dramaturg, und auch keine Autorin. Diese gängigen Derrida-Lacan-sonst-was-Erklärungen zu Jelineks Texten bringen mir für die künstlerische Inszenierung gar nichts.
Das ist phänomenal. Obwohl er ein ältliches Theoriekonstrukt aus dem Artaud-Heiner-Müller-Mischwald nachspricht, das sich unter Umständen sogar an Derrida oder Lacan koppeln lässt, lehnt er zugleich Theorie-Kontexte ab. Spielt den antiintellektualistischen Rüpel, der er gerne wäre, weil es modern ist, aber leider hat er studiert. Na gut. Laudenbach registriert davon überhaupt nichts. Null. Oder er ignoriert es. Würde er ihn auf diesen Widerspruch ansprechen, könnte ja die Wüste des Wahrscheinlichen bewässert werden.
Heiner Müllers schlaue (scheinbar) antiintellektualistische Praxisenergietheorie von Annodunnemals, ist zu einem klappernden Automatismus geworden, der fraglos funktioniert, aber eben: Fraglos. Als hätte sich die Welt seit ein paar Jahren nicht ein wenig gedreht.
Zu den klassisch kontrapunktischen Reflexen gehört, dass Intellektuelle sich heute gerne antiintellektuell geben. Aber so bleibt oder wird er eben genau das, was die Jelinek haben will: Ein gut geölter Regiesklave im schwarz glänzenden Leder-Latex mit Mielke-Hütchen zwischen den stampfenden Kolben der affirmativ kontrapunktischen Widerspruchswunschmaschine. Und die hält Laudenbach sabbernd in Gang, in dem er fragt:
„Über Tiere.“, Elfriede Jelineks neues Stück hat eine sehr klare Struktur: Es beginnt als Selbstgespräch einer unglücklich Liebenden, das geht über in eine Stimmencollage aus den Telefongesprächen mit Wiener Zuhältern und ihren Kunden und am Ende spricht jemand, der einem religiösen Wahn verfallen ist. Wie verbindet sich so was?
Man beachte die chamäleonhafte Unterwerfungswandlung von Laudenbach: Noch bei der Jelinek war das Stück eine „vielstimmige Stimmencollage“ ja sogar eine „Textfläche“, von der Laudenbach ganz entgeistert wissen wollte, „wie das Theater damit umgehen soll?“. Dann war das Stück „nicht ganz unkompliziert“ Jetzt hat es auf einmal eine „ganz klare Struktur.“ Aber gut. Vielleicht hat er ja dazugelernt. Denn der Jelinekgehilfe Stemann hat ihm ein paar Absätze weiter oben schließlich soufliert: „Wenn man die Texte nur strikt rational liest und nach klaren Bedeutungen fragt, kommt man nicht weit. Auf einer künstlerischen, energetischen Ebene sind sie dagegen sehr klar.“
Der Diskursmasochist Laudenbach passt sich also der Gesprächslage wie ein Chamäleon an, anstatt die Gesprächslage durcheinander zubringen, zu stören, für Information zu öffnen, wie es als professioneller Journalist, der für Information zuständig ist, seine Pflicht wäre. Aber er hat kein Interesse daran, die Diskurslage zu stören, weil er von ihr lebt. Sich von ihr ernährt. Also agiert er nach Verabredungen, die er sich blitzschnell zueignet. Steman antwortet berechenbar kontrapunktisch, ganz im Sinne des alten Müllerschen Kontrapunktsgebot, die sich zu unserer Gegenwart hin in eine beliebige Mechanik entleert hat:
Man glaubt zunächst, es gehe um Frauen und Männer. Der Anfang steht für das weibliche Sprechen, das mit Liebe und Gefühl zu tun hat, dann kommt das männliche Sprechen, in dem es nur noch um „Sex“ „Titten“ und „Kommen“ geht, eine Pornosprache. Und am Schluss wird eine Frau von Männersprache zu Tode geredet. Das ist aber eine Verkürzung, die dem Ganzen nicht gut tut. Man ist da ganz schnell bei: „Frauen kommen von der Venus und wollen Gefühle“, Männer sind Schweine und wollen immer nur das Eine usw… siebziger Jahre Plattitüden oder Dieter Bohlen- Positionen. Wenn man das so liest ist das unglaublich ideologisch und ich unterstelle der Jelinek, dass sie das so platt nicht meint, auch wenn sie wohl wirklich sehr wütend war über diese Protokolle…
Aber was ist, wenn die Jelinek es tatsächlich ideologisch gemeint hat? Sucht Steman hier nach einem Kontrapunkt, um Lady Elfriede gerecht zu werden? Der verabredete Aufstand des Sklaven? Die Suche nach dem Kontrapunkt, dass es der Jelinek – Text es vielleicht GAR NICHT SO, SONDERN GANZ ANDERS GEMEINT HAT? Stemann stimuliert weiter und gerät dabei noch tiefer ins Fragwürdige:
Ich glaube, es wird an dem Punkt interessant, wo man zeigt, dass der pornografische Teil nicht die Realität eines Männerbegehrens ist, sondern eine Frauenfantasie über das männliche Begehren.
Wie bitte? Was ist denn das für ein Bullshit? Meint er das ernst? Steman war noch nie in einem Pornokino? Noch nie eine Pornoheftchen geblättert? Und er will uns etwas erzählen über…, ja über was eigentlich? Über Frauen? Über Männer? Stemann, Mielke-Hut, Lederjacke, jetzt wird’s aber doch ein bisschen… na ja. Die unbedingte Mechanik des Kontrapunkts überschlägt sich hier und gerät dabei in den Straßengraben des Schwachsinns.
Selbst Laudenbach fühlt sich jetzt in seiner Ehre als Frau, die ja ein bisschen in uns allen steckt, von dem Hanebüchen irritiert. Und wagt einen kleinen Aufstand:
Erstmal sind es Abhörprotokolle der Wiener Polizei, also Dokumente und keine Frauenfantasien. So sprechen Männer, die sich Frauen aufs Zimmer bestellen.
Und Stemann antwortet wieder aus dem Heiner-Müller-Mischwald.
Es ist weibliches Schreiben über männliches Sprechen. Es ist ja ein überschriebenes Dokument. Jelinek jagt die dokumentarischen Texte durch ihre Sprachmaschine und macht sie dadurch uneigentlich.,..
„Sprachmaschine“ (Hamletmaschine, Faktory) „Uneigentlich“ Der Antiintellektualist Stemann benutzt ein Wort aus einem intellektualistischen Diskurs: „Der Jargon der Eigentlichkeit“ war eine Kritik Adornos an Heidegger. Darauf hat Derrida und die kulturaffine Gemeinde reagiert, und offenbar irgendwann das Wort „Uneigentlichkeit“ erfunden. Derrida, den Stemann als Dramaturgiehelfer selbstverständlich ablehnt. Man muss das alles nicht so genau nehmen oder wissen. Nicht wichtig. Es reicht, wenn man hier und da ein paar Diskurshülsen absondert. Stemann weiter im Text:
Dass es Zwangsprostitution gibt und dass das abstoßend ist, und dass wir uns darin alle einige sind, ist doch klar. Aber das reicht nicht für einen Theaterabend. Damit rennt man offene Türen ein. Es interessiert mich nicht die Bohne, dass in Wien konservative Politiker und Staatsanwälte in den Puff gehen,
Stemann steckt hier in einer Klemme der Bedeutungen. Noch vor kurzem hat er behauptet, dass die pornografische Dimension von Männerfantasien eigentlich weibliche Projektionen sind. Er ahnt, dass man mit Plattheiten keinen künstlerischen Theaterabend aber auch kein aussagekräftiges Interview zu Stande bringt, Deshalb entschließt er sich jetzt erneut zu einem diskursfähigen kontrapunktischen Salto :
Und ich finde es höchst bigott, sich darüber aufzuregen. Das ist einfach gratis, dafür stehe ich morgens nicht auf und gehe zur Probe. Aber auf dieser platten moralischen Ebene ist Jelineks Stück nicht geschrieben. So dumm und unkünstlerisch ist Jelinek eben nicht…
Die Kunst muss gewahrt bleiben. Irgendwas muss ja dran sein, an dem Stück. Na mal sehen. Also dass die Staatsanwälte da in den Puff gehen, kann es nicht sein. Das machen schließlich alle, außer Steman. Die Jelinek hat den Nobelpreis. Richtig, und dumm ist sie auch nicht. „Unkünstlerisch“ – das ist offenbar das Letzte, das man sich vorwerfen lassen will. „Unkünstlerisch“, das Drohwort. Der Supergau. Stemann weiter:
Es ist für sie auch ein Genuss, sich mit der Sprache in diesen Abhörprototokollen auseinander zusetzen, vielleicht ein masochistischer Genuss. Die Art, wie diese Protokolle aneinandergereiht werden, ist ja gerade nicht dokumentarisch. In dem Stück werden über 20 Seiten lang immer wieder die Beschreibungen der Frau als Sexobjekt wiederholt und variiert. Das hat eben auch etwas Mechanisches, etwas Hysterisches. So spricht eben kein Mann in der Realität, auch nicht, wenn er sich eine Frau aufs Zimmer bestellt. So spricht die Frau, wenn sie sich darüber aufregt. Und sich an dieser Aufregung erregt…
Mechanisch ist hier zunächst einmal die Art und Weise, wie Steman den Kontrapunkt bedient. Das etwas EBEN NICHT SO SONDERN VIELLEICHT GANZ ANDERS IST. Aber er bedient das eben nur. Betätigt den Kontrapunktschalter. Und handelt an der Börse des kulturellen Millieus mit Widerspruchstiteln, Affekt- und Gefühlstiteln. Weil es mit der Jelinek und im Kulturmillieu so verabredet ist. (Gegen den Strich bürsten) Und weil es die Kultur als Widerspruchswunschmaschine so verlangt. Er will und darf einfach nicht vermuten, dass Lady Elfriede etwas produziert, dass entweder vielleicht einfach nur Scheiße ist oder banal oder langweilig, oder dass man eventuell Eins zu Eins so stehen lassen müsste. Dass ein ausgebufftes Diskursluder wie die Jelinek den Kontrapunkt der Diskurs-Masochistin selbstredend mitverfolgt, wäre auch keine Neuigkeit.
Deshalb turnt Stemann „künstlerische“ Salti und Volten der Kontrapunkte, handelt mit Affekt- und Gefühlstiteln, die Frau Jelinek aufgelegt hat, und die leider nur zu wahrscheinlich sind, statt informativ. Er tut dies auch verständlicherweise, um seine eigene Funktion als Regisseur zu legitimieren, der ja ein Theater voll kriegen und dass er schützen muss, vor der Redundanz und der langen Weile, die im Saal sich ausbreiten könnte, wenn er gemeinsam mit dem Publikum und seinen Schauspielern einfach mal die Widerspruchswunschmaschine der Kultur ausstellen würde. Diese Redundanz auszustellen wäre ein Wagnis. Aber für Wagnisse ist Stemann offenbar nicht bestellt worden. Er hat einen Unterhaltungsauftrag. Was er ausstellen möchte, ist die gewollte und konstruierte Begehrens-Widerspruchswunschmaschine der Jelinek, die noch dazu in Österreich konstruiert wurde. Ausserdem hat er ja von der Jelinek die Drahtbürste in die Hand bekommen. Deshalb sucht und pult und schält und bohrt und knabbert er weiter an dem Jelinekbrötchen, dass möglicherweise eben einfach nur lappig oder steinhart ist und kontrapunktiert es schließlich zu Bahn brechenden Erkenntnissen um:
Wenn man das Ganze liest als Klage einer Frau, die im ersten Teil wirklich sehr schön und poetisch ist, ein berührender Text, an dem es nichts zu ironisieren gibt, dann ist das geschrieben in der Form eines Briefes. Ich komme nicht umhin, mich erstmal in die Position des Empfängers, des angeschriebenen Mannes zu begeben.
Laudenbach: Weil sie ein Mann sind.
Ich kann doch gar nicht sofort in die Position der leidenden älteren Frau springen. Da müsste ich doch lügen. Das ist für die Inszenierung dieses Textes natürlich ein Problem. Aber für mich sind genau diese Probleme Energie- und Erkenntnisquellen. In diesem Fall führt das entweder zum völligen Fiasko – oder dazu, dass man ein anderes Licht auf die Situation wirft und sich nicht in einer unspezifischen Betroffenheit über das Leid der Zwangsprostituierten (oder das der Frauen, was immer das eigentlich ist) einkuschelt.
Klar. Stemann hat da so ein Bauchgefühl. Zudem hat er ja von Jelinek ausdrücklich den Auftrag erhalten, gegen den Strich zu bürsten. Und er weiß, dass er irgendwie mehr leisten muss, als eine Betroffenheitsveranstaltung. Ich bin immer noch gespannt, was das ist. Laudenbach spielt nun wieder den herunter gedimmten KonterPart des kritisch Oberempörten und Kulturverwunderten und ruft dazwischen:
Was nichts daran ändert, dass es Zwangsprostitution und sexuelle Gewalt gibt.
Und Stemann antwortet:
Natürlich. Man kann diesen Text so lesen, dass einem schlecht wird. Und auch auf Sex hat man dann keine Lust mehr. Die Art wie in diesen Textpassagen über Frauen gedacht und geredet wird, ist ziemlich unangenehm. Aber Jelinek beschreibt ja nicht das Leben und die Realität der Zwangsprostituierten, sie beschreibt, was die Lektüre der im Wiener Stadtmagazin „Falter“ veröffentlichen Abhörprotokolle mit ihr macht…
Möglicherweise ist die Realität ja noch viel schlimmer, als sie die Jelinek beschreiben kann, Stemann. Mensch, dann bin ich ja wie die Jelinek. Ich schreibe hier, was die Abhörprotokolle im Berliner Stadtmagazin TIP mit mir machen!! Kriege ich vielleicht auch bald den Nobelpreis? Aber ich muss Stemann zu Ende reden lassen:
Das ist der ehrliche Punkt an dem Text. Die Frau die da spricht, redet darüber, dass sie als Frau in Konkurrenz zu diesen Prostituierten steht, weil die vom Mann auf eine Art begehrt werden, wie sie es sich selber wünscht. Das sind die begehrten Objekte. Und die Frau beneidet sie dafür. Und ihr Begehren des Begehren des Mannes gerät in Kurzschluss mit der Sprache der Prostitution in ein ganz neues Licht, hebelt es praktisch aus, und das ist ein Schock für sie. Das ist eine Doppelbödigkeit, die den Text interessanter macht, als es eine simple feministische Position wäre. Im Grunde geht es in diesem Text um Begehren und Einsamkeit, das ist das Thema hinter dem Thema. Was wirklich rührt an dem Text, ist, dass die Frau die da spricht, einsam und unerlöst ist.
Das Thema hinter dem Thema. Das Thema unter der Kruste des Brötchens, der weiche Teig: „Einsamkeit und das Begehren einer Frau, die unerlöst ist“ Wenn das jetzt als Erkenntnis hervor scheint, frage ich mich natürlich schon: Wozu der ganze Aufwand? Für mich hört sich Stemanns Conclusio an, also ich weiß nicht… wie eine doch recht, nun ja, einfach organisierte Erkenntnis. Also gewissermaßen simpel sozusagen. Und frage mich, ob das die Aufwandsentschädigung sein kann? Nicht dass es einsame Menschen, die unerlöst sind, und etwas begehren, nicht geben würde, das will ich gar nicht bestreiten. Aber das Sujet kommt mir dann irgendwie bekannt vor. Dann hätte Stemann sozusagen die Betroffenmachungskulisse des Jelinektextes angehoben, nach oben transformiert auf das Niveau einer Betroffenmachungskulisse eines Bastei-Lübbe-Romanhefts. Die Frage ist dann, warum nimmt er einen Jelinektext und nicht irgendeinen anderen? Die Antwort lautet: Weil die Widerspruchswunschmaschine, sich gerne an Widersprüchen abarbeitet. Hier lautet er: Eine feministische Position IST NÄMLICH GARNICHT SO wie man immer denkt, also ein Empörungsreflex gegen das männlich pornografisches Begehren und den beigeordneten Besitz – und Machtansprüchen, SONDERN EBEN GANZ ANDERS, nämlich hier in diesem Jelinektext eine Art Körper- und Jugendneid einer Frau, die gerne begehrt werden will, aber nicht wird…. also platt freudianisch gesprochen: Der Clash von Ich und Über-Ich. Wenn dass die Bahn brechende Erkenntnis aus dem Interview oder aus Jelineks Stück ist, bleibt die Frage: Wo ist das Surplus? Wenn ich am Ende wieder etwas habe, das da lautet: Frauen wollen begehrt werden. Männer begehren. – also was ist da dran, außer einem sehr aufwendig arrangierten Kneipenwitz, der sich über „Emanzen“ immer schon lustig gemacht hat. Wo ist das Unwahrscheinliche bei so viel Wahrscheinlichkeit? Aber vielleicht kann man noch eine andere Deutung erwägen.
Vielleicht soll eine Doppelmoral „demaskiert“ werden, die da heißt: Pornografie ist doof. Aber alle gucken sie an. Sogar Feministinnen. Oder so ähnlich. Dann hätte man aber auch nur einen Kneipenwitz sehr aufwendig zu einer kurz- und guten Pointe erzählt.
Aber nein, Stemann hat ausdrücklich gesagt, dass ihn die Betroffenmachungskulisse so platt nicht interessiert. Berührend an dem Text ist die einsame Frau, die begehrt werden möchte und unerlöst bleibt.

Aber ich schau jetzt mal, was draus geworden ist.

4. Akt. Die Aufführung.

Aus Gründen der Diskretion, weil ich Widerspruchsforscher bin und kein Theaterkritiker, und weil ich keiner einsamen Frau beim Begehrtwerdenmöchten und Unerlöstbleiben zusehen wollte, bin ich nicht in die Vorstellung gegangen, sondern habe mir nur die Pressebesprechungen angesehen. Hier sind sie:

»Viel mehr kann man zur aberwitzig-brutalen Geschlechterhierarchie wohl tatsächlich nicht sagen. Der Jelinek-Experte Stemann, der bereits drei Stücke der Nobelpreisträgerin uraufgeführt hat, setzt nun in seiner deutschen Erstaufführung [von »Über Tiere« ] Jelineks Textflächen, ihren jedwede identifikatorische Kuscheligkeit unterlaufenden Collage-Stil, einmal mehr ästhetisch kongenial um. Er lässt die Herren in Billig-Minis und Pumps auftreten, die Frauen – allen voran Regine Zimmermann in einem großartig-pragmatisch hingeschwäbelten Zuhälter-Monolog – klassische Männerparts sprechen, die tolle Almut Zilcher in einem riesigen, auf den Boden projizierten, sexsymbolischen Frauenmund verschwinden, ihre Kollegin Nora von Waldstätten in der Rolle des personifizierten Frischfleischs daraus nuttig bestiefelt wieder aufsteigen und eine umwerfende Margit Bendokat die begehrenssehnsüchtige Frau mit einer Power, ja Aggressivität sprechen, die jedwede Opfer-Assoziation umgehend ad absurdum führt.« Spiegel Online

»Stemann unternimmt mit seinen Schauspielern eine staunende, verzweifelte, und sympathisch nichtswisserische Reise durch Jelineks Wortspielwüste.« Der Tagesspiegel

[…] Alles wird von Nicolas Stemann mit sicherem Sinn umgesetzt. Sechs Schauspieler geben dem Prosatext Gestalt und Stimmen – mal osteuropäisch gebrochen, mal munter schwäbelnd oder sich in anderen einschlägigen Dialekten versuchend, werden die gewerblichen Damen und ihre Freier vorgestellt und durchaus auch vorgeführt – dabei aber immer den Intensionen des Textes folgend. Die triebgesteuerten Typen sind bei diesem Regisseur auch mal Mütter – Puffmütter – oder sie schlüpfen in die knappen Kleider der Konkubinen – alle Figuren sind austauschbar und beliebig und dieser spielerische Umgang mit Rollen und Geschlechtern, dieser wie immer bei Nicolas Stemann beherzte Zugriff auf die Jelineksche Vorlage lässt die Worte und Thesen lichter werden, auch leichter, und sie gewinnen an Strahlkraft. Dazu tragen auch die oft sehr sinnlichen Bilder bei – zum Beispiel wenn ein riesiger roter Kussmund als Videoproduktion über die Szene wandert und schließlich die Protagonisten verschlingt oder ausspuckt. Nicolas Stemann und Elfriede Jelinek – wieder einmal ein Traumpaar. So kann, so sollte man die Texte dieser Autorin lesen und verstehen. Für alle Seiten ein Gewinn.« NDR

»Nicolas Stemann, der versierte, zum Selberdenken entschlossene, bilderstürmende Jelinek-Regisseur, dessen Uraufführungs-Inszenierung von Ulrike Maria Stuart soeben beim Berliner Theatertreffen zu sehen war, hat am Deutschen Theater Berlin am Sonntag die deutsche Erstaufführung von Über Tiere herausgebracht. Es ist eine polyphon arrangierte Textinstallation zum Thema Geschlechterrollen und Körper-An- und -Verkauf geworden, in der keiner geschont wird.« Frankfurter Rundschau

Nicolas Stemann, der jetzt die »Deutsche Erstaufführung« in den Kammerspielen des Deutschen Theaters inszeniert, kanalisiert den überschwappenden, mit Assoziationen und Wortkalauern (»kommen« , »besorgen« ) gesättigten Textstrom mit nicht nachlassender theatralischer Energie, spielerischem Witz und optischer, ihrerseits assoziierender Bilderflut. Sechs Spieler, zwei Männer, vier Frauen, sind hier zitierend und agierend auf Hochtour. Sie werden schon mal von riesigen lüsternen Lippen verschlungen oder wieder ausgespuckt. Der Supermarkt des menschlichen Fleischhandels (»Männer bestellen sich Frauen wie Pizza« ), wird als Panoptikum von Exhibition und Willfährigkeit ausgespielt. Berliner Morgenpost

Margit Bendokat setzt den monologischen Merkpunkt: Diese Schauspielerin, die ihre Stimme aus jenem fernen Ziehen, das seine Lust auf Nervensägeschärfe nie verleugnet, ins grell Sirenische hochjagen kann – sie steht da, im schwarzweiß gesprenkelten Kleid, so ganz wunderbar unschön gegen die bis zur Pein reizende, beinspreizende Glitterwelt gesetzt, und sie erzählt mit der bitteren Heiterkeit des endgültigen Wahns noch einmal von Liebe, die es nicht gibt.«Neues Deutschland

Stemann macht Diskurs-Karaoke und postideologisches Ensemble-Kabarett. Indem er Jelineks Haltung selbst als ideologisch entlarvt, entlockt er dem Text zugleich seine Polyvalenz. So landet der düpierte Briefempfänger [Sebastian Rudolph] in einer Fallgrube, nachdem drei Jelinek-Erinnyen (Nora von Waldstätten, Almut Zilcher und Regine Zimmermann) ihn lasziv hauchend und zynisch fauchend durch den Hexenkessel trieben. Pitschnass steht er dann an der Rampe, streckt nur noch devot seinen Hintern in die Höhe und zeigt mit den Dessous, die er unterm Anzug trägt, die schillernde Unterwäsche vermeintlicher Rollenzuschreibungen. Stemann schickt Jelinek in den infamsten Parodien auf den Comedy-Strich: als tölender Transvestit, als nölende Kaffeehaus-Harpyie, als bigottes Opferhascherl, als Kitschtante und weiblicher Menopausenclown, den ein riesiger Video-Kussmund verschlingt wie eine Vagina mit Zähnen. Und für den zweiten Teil wieder ausspeit als verjüngtes Playboy-Bunny. […]« Süddeutsche Zeitung»

Der Abend rüttelt an der Unterscheidung, die noch immer ein Fundament unserer Kultur bildet: dass Liebe, für die bezahlt wird, als etwas Künstliches erscheint, freiwillige Liebe dagegen Natur ist. Wie Stemann die Vermischung zeigt, ist es ein Grauen – und Romantik etwas, was es nur auf der Leinwand gibt.« www.nachtkritik.de

Nicolas Stemanns Umgang mit den Texten von Elfriede Jelinek ist nicht von übermäßiger Ehrfurcht getragen, genau das macht seine Inszenierungen so spannend. In seiner neuesten Auseinandersetzung mit einem Jelinek-Stück in den DT-Kammerspielen („Über Tiere“) montiert er in den Stücktext Passagen des Jelinek-Interviews aus der letzten Tip-Ausgabe – wobei er klar macht, wohin die feministischen Statements seiner Meinung nach gehören: Ins Ideologie-Kabinett. Zwei Schauspieler sprechen sie mit denkbar größtem Knallchargenfaktor. Die Gespräche zwischen Wiener Zuhältern und den Kunden, die bei ihnen Frauen bestellen, schrumpfen in Stemanns Inszenierung zu einer Art Comicstrip, der Text läuft leer. Die einzigen Akte, um die es hier geht, sind spöttisch vorgeführte, eher hämisch servierte Sprechakte, in denen von der Härte und Wut des Textes wenig übrig bleibt. Schon der Beginn ist nicht spottfrei: Der Schauspieler Sebastian Rudolph liest Jelinek-Texte von rosa Briefpapier ab – ein kitschiger Liebesbrief. Aber einer, der hohen Irritationswert entwickelt.« Tip

 

5. Akt – Epilog und Selbstkritik

Stemann hat offenbar ganze Arbeit geleistet. Da ich die Inszenierung selbst nicht gesehen habe, kann ich nichts über eigene Eindrücke sagen. Nur was mir als Widerspruchsforscher an den Kritiken auffällt, deren Auszüge genau so auf der Seite des deutschen Theaters zu finden waren. Es fällt auf, dass sie sich weitgehend affirmativ, also zustimmend, ja begeistert zu den Kontrapunkten äußert, die Stemann und sein Ensemble offenbar als Diensleistungsunternehmen der verabredeten Kontrapunkte, auftrags- und fristgerecht abgeliefert haben: So kann, so sollte man die Texte dieser Autorin lesen und verstehen. heißt es da zum Beispiel. Auftrag erfüllt.
Ebenso Wendungen wie so ganz wunderbar unschönoder auch erzählt mit der bitteren Heiterkeit zeugen von erfüllten Erwartungen, weniger von Überraschungen. Auch die Formulierung ein kitschiger Liebesbrief. Aber einer, der hohen Irritationswert entwickelt erzählt nicht etwa von einer „Irritation“ sondern von einem „Irritationswert“, der hier nicht irritiert, sondern als Irritationswertpapier gehandelt wird. Möglicherweise erzählt er aber auch davon, dass eine kulturinterne Verabredung getroffen wurde, dass etwas schon wertvoll sei, wenn es nur genügend irritiert. Auf dieser Verabredung beruhen dann auch kontrapunktische Registraturen die sich auf andere Auftragslieferungen des Stemannschen Ensembles beziehen, wie etwa:
Die triebgesteuerten Typen sind bei diesem Regisseur auch mal Mütter – Puffmütter – oder sie schlüpfen in die knappen Kleider der Konkubinen –
(Männer. Außen hart mit Kruste, innen ganz weich.)
Oder umgekehrt: ….Regine Zimmermann in einem großartig-pragmatisch hingeschwäbelten Zuhälter-Monolog – in klassischen Männerparts sprechen…
Frauen – äußerlich Pfirsich, aber innen drinnen der harte Kern eines sogar pragmatisch schwäbelnden Zuhälters Zudem eben nicht nur „pragmatisch“, sondern „großartig pragmatisch.“
Was für mich als Widerspruchsforscher daran noch interessant ist: Dass hier Bewertungen erster Ordnung („pragmatisch“, „unschön“) vom Rezipienten mit Bewertungen zweiter Ordnung (“großartig – pragmatisch”, „wunderbar – unschön.“, „bittere – Heiterkeit“) gekoppelt erscheinen. Vielleicht beobachte ich hier gerade eine ganz neu entstehende Grammatik oder sogar eine ganz neue Sprache im Embryonalstadium. In der selben Tip-Zeitschrift findet sich in Bezug auf eine anderes Kulturereignis auch die Kombination „wunderbar verstörend.“
Daneben gibt es auch andere Einschätzungen, die noch in einer klassischen Attributierung stehen:
Der Abend rüttelt an der Unterscheidung, die noch immer ein Fundament unserer Kultur bildet: dass Liebe, für die bezahlt wird, als etwas Künstliches erscheint, freiwillige Liebe dagegen Natur ist. Wie Stemann die Vermischung zeigt, ist es ein Grauen – und Romantik etwas, was es nur auf der Leinwand gibt.
Hier ist es noch kein „wunderbares Grauen“, sondern nur ein „Grauen.“ Und das lass ich auch einfach mal so stehen. Denn damit ist Stemann schließlich auch ausgewiesen, als jemand, der sein Publikum noch „echt“ gruseln lassen kann. Obwohl die Gruselei und die Ahnung, dass bestimmte Unterscheidungen, also Widersprüche, nicht mehr haltbar sind, im Moment nur um den Preis des Selbstwiderspruchs zu haben sind, dass der Widerspruch gegen den Widerspruch, eben wieder nur ein Widerspruch bleibt, der noch dazu als Widerspruchsdienstleistung eingefordert und abgeliefert wird.

Aber an dieser Stelle ist der Widerspruchsforscher versöhnt mit Jelinek,Stemann,Laudenbach &Leser Er entschuldigt sich noch einmal für gewisse Grobheiten, Verzerrungen und Zuweisungen, denn schließlich wurde ihm ja doch ein sehr aufregendes Material geliefert, dass es ohne die Beteiligten so nicht gegeben hätte.

Stemanns Generation, die jetzt leistungsfähig ist, hat das generelle Problem, dass sie in einem Dienstleistungsgeschäft für Widerspruchswünsche arbeiten muss, und je besser sie den Job erledigt, um so tiefer in den Selbstwiderspruch der Affirmation hineingerät.

Irgendwer hat mal gesagt, dass die 68iger kein Emanzipationsprojekt waren, sondern eine geschichtlich nicht zu personifizierende Dynamik, durch die einfach die Märkte geöffnet und vergrößert wurden. (Genau dafür muss man sie eben auch nicht kritisieren) Eine sexuell befreite Singlegesellschaft ist einfach viel kaufkräftiger, leistungsfähiger (und auch kommunikativer) als eine Gesellschaft, in der die normale klassische Familie dominiert. Jeder Single braucht ein Fernseher, ein Auto, ein Telefon etc… In einer großen Familie reicht jeweils eins davon für 5 Personen.
Insofern hat der Vietnamkrieg damals einerseits die Fronten verhärtet, aber der Widerspruch gegen den Vietnamkrieg plus Woodstock plus Blumenkinder hat die Märkte geöffnet, auch die Märkte für Widersprüche.

Wie könnte es weiter gehen? Vielleicht, dass man eine antiideologische Kultur verfolgt, das schon, aber eben nicht so, dass die Anti-Ideologie wieder selbst zur Ideologie erstarrt. Die glaubt, ihren Auftrag erfüllt zu haben, wenn nur noch Ratlosigkeit, Gestammel, Verwirrung und Geschrei produziert worden ist. (Was ich dem Theaterabend nicht unterstellen möchte)

Aber der bloße Kontrapunkt gehört gehört eben immer noch zur Musik, kann sie aber nicht verlassen.

Gäbe es nicht auch für eine Theaterkultur im 21. Jahrhundert Wichtigeres und Aufregenderes zu entdecken, als Männer in Frauenkleidern und umgekehrt?

Könnten aus den schönen und wichtigen Energien von Stemann und Ensemble im 21 Jahrhundert nicht so viel Besseres und Interessanteres erwachsen, als ein Menopausenclown?

Kennt ein Deutsches Theater, das immer noch für die so genannte Hochkultur steht, im 21 Jahrhundert nicht noch interessantere Themen als die ewig großartige KAPUTTHEITERKEIT? Das ewige Umwälzen der Frage, wie dumm, gekränkt, blöd, blutig, sexuell, tragisch-komisch oder unfähig der Mensch war/ist/sein wird?

Und damit meine ich jetzt weder einen Retroswitch von Jelinek auf Schiller. Keine 12-Ton Musik oder eine Reanimation von Kulturmumien und auch keine Polemik gegen das Regietheater. Gegen Regietheater wäre ja garnichts einzuwenden.

Ich meine die Frage, ob da nicht in den letzten 100 Jahren irgendwie noch mehr passiert ist, außer 2. Weltkrieg, Bader – Meinhoff, Jelinek, Maueröffnung und Harz IV. Oder wie wäre es mal mit den nächsten 100 Jahren?

Sind Einsteins Entdeckungen nicht bühnentauglich?

Steckt in einer Supernova nicht mehr Drama als in einem Manager auf Stöckelschuhen?

Hat das Universums so wenig Strahlkraft?

 

Krieg den Wahrscheinlichkeiten. Friede dem Widerspruch.

Eine Antwort zu „Analyse: Kultur als Widerspruchswunschmaschine“

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