Die mediale Aufbereitung von Personen, Handlungen und Ereignissen zeigt seit längerer Zeit (wie lange eigentlich schon?) die Tendenz zu einer Automatik des Kontrapunkts.
Ein Interviewer etwa trifft sich mit einem Superstar und leitet den Artikel ein mit der beliebten Sentenz: „Wie sie mir in der Hotellobby entgegenkommt, mit schlabbernden Trainingshosen und ganz ungeschminkt, sieht sie gar nicht aus wie die berühmte XY sondern eher wie eine Hartz-IV-Empfängerin an der Kasse eines Mediamarkts…“
Gern genommen wird auch: „Kaum zu glauben, dass dieser Mann mit seinen weichen Händen und seinem jungenhaften Lächeln derselbe Mann ist, der in der oberen Riege der Manager als knallharter Hund gefürchtet ist, der die Macht hat, mit einer Kurzwahltaste auf seinem Handy einen Konzern zu ruinieren…“
Die Reihe ließe sich fortsetzen mit dem Vollkontakt-Kampfsportler, „der alle verblüfft, weil er eine ganze Goethe-Strophe auswendig zitiert“ oder mit dem Lyriker, „von dem man nichts weniger angenommen hätte, als dass er in seinem Keller einen Punchingball mit seinen Fäusten bearbeitet…“
Der Archetyp all dieser Nicht-so-sondern-ganz-anders – Registraturen ist sicher der Massenmörder, der eben (wieder mal) nicht den stechenden Blick und das vernarbte Gesicht hatte, sondern vielmehr der netteste und bestrasierteste Familienvater der Welt war. Oder ist. (sogar 3 Kinder u.s.w.)
Zeigt sich hier nun eine mediale Liebhaberei oder ein etwas verstaubter journalistischer Tic, der dem Rezipienten immer wieder unter die Nase reibt, das alles immer „eben nicht so, sondern ganz anders sich verhält.“?
Inzwischen weiß man es als Selbstverständlichkeit zu nehmen, dass der knallharte Manager „in Wirklichkeit“ ganz anders, also zum Beispiel weich und jungenhaft rüberkommt. Ebenso wie es niemanden mehr überrascht, dass der Hollywoodstar einen sympathisch bescheidenen Menschen gibt, also mein und dein Kumpel in Schlappen und mit CO2 – Bewusstsein. Keine Nachricht mehr.
Trotzdem werden einem diese Beobachtungen immer noch gerne irgendwie verblüfft, unerwarteter Weise, ganz erstaunlich, gleichsam wie mit einem stumpfen Ausrufungszeichen – eben kontrapunktisch serviert.
In Wirklichkeit ist also die Wirklichkeit immer ganz anders, als sie in Wirklichkeit scheint – ist einfach keine Nachricht mehr.
Dabei würde man zu gern mal wieder einem knallharten Manager begegnen, der kein jungenhaftes Lächeln zeigt und auch im Interview knallhart rüberkommt. Oder einem Megastar XY, der arrogant ist, in der Gegend herumvögelt, seinen Gesprächspartner von oben herab behandelt, Familienleben ätzend findet und keine Hybrid-Autos fährt – wäre mal eine echte mediale Erholung, um nicht zu sagen: Eine Sensation.
Aber darauf wird man wohl lange warten. Zu beliebt ist einfach die Automatik des Kontrapunkts. Die so genannte Wirklichkeit verweigert Redundanzen. Oder ihre Aufbereitung mag sie nicht. Aber welche Redundanzen ? Das NICHT SO SONDERN EBEN GANZ ANDERS ist zu einem beliebten aber stumpfen Taschenwerkzeug der Recherche verkommen. Es lockert keine Schrauben mehr. Und dreht auch keine mehr fest.
Der gepflegte gutbürgerliche Widerspruch als harte weiche Währung an der Börse der Mitteilungen.
Aber vielleicht ist es ja gar nicht so, sondern eben ganz anders.
Vielleicht täusche ich mich ja auch. Warum soll der Regieberserker, der auf der Bühne mit Blut, Kot und Sperma herumspritzt, nicht ein ruhiger freundlicher und liebevoller Mensch sein, der beim Interviewtermin seine Tochter in die Kamera hält? Vielleicht sogar mit einem Reinlichkeitsfimmel daheim. Was habe ich denn erwartet?
Vilém Flussers Definition für Information lautet: „Information ist der Eintritt des Unwahrscheinlichen.“
Wenn man sich darauf geeinigt hat, dass die „Knallhärte“ eines Managers in unwahrscheinlichem Widerspruch zu seinem jungenhaft freundlichen Auftreten steht, dann ergäben die jungenhaften Gesichtszüge eine Information, eben weil sie unwahrscheinlich scheinen. Da mir aber mittlerweile in den meisten Portraits die knallharten Manager jungenhaft freundlich und die Megastars sehr kumpelhaft und sympathisch bescheiden in Trainingshosen begegnen, stumpft das Unwahrscheinliche ab und der Informationsgehalt der kontrapunktischen Meldung tendiert gegen Null.
Vilém Flusser wird an dieser Stelle pessimistisch und sagt: Die Information stirbt den Wärmetod. Oder noch düsterer: Wer kommunizieren will, darf nicht informieren.
Nur ein guter Witz schafft manchmal noch eine Öffnung hin zur echten Mitteilung. (Suche Mann mit Pferdeschwanz, Frisur egal.)
Also liebe Vollkontaktkampfsportler, tut uns den Gefallen und lasst Goethe in Ruhe. Und ihr Mörder, schafft bitte nicht nur das Familienleben anderer ab, sondern auch euer eigenes. Und den Managern rufe ich zu: Werdet bitte wieder so knallhart, wie man es auch im Interview von euch erwartet! Und freudig schließlich begrüßen wir den Künstler, den empfindsamen, der den Boxsport nicht mag und keine Motorräder in seiner Freizeit restauriert.
Schaf im Schafspelz, Wolf im Wolfspelz – ich weiß ja, dass es Euch gibt.
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