TEUTONIKA – Leben in Deutschland

In der Fremde

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Soweit ich mich erinnern kann, muß es so gewesen sein: Ich war an einer höheren, kargen Felswand fast verdurstet zusammengebrochen. Und als ich mich im Fallen abstützen wollte, traf ich mit der Hand einen kleinen sternförmigen Stein, wodurch sich nicht weit von mir nach und nach eine dicke steinerne Platte beiseite schob.
   Obwohl ich nur wenig Einblick durch die Öffnung hatte und das minimal zu Sehende wegen meiner großen Schwäche auch nicht genauer bestimmen konnte, erfaßte ich doch sofort und deutlich, dass sich dort etwas Außerordentliches befinden mußte.
   Angeregt durch diesen Eindruck, rutschte ich ein wenig näher zu dem Eingang. Ich konnte jetzt in einen Raum blicken, welcher mir sogleich, trotz seiner Fremdheit, vertraut erschien und so auf mich wirkte, als gäbe es dort keine Zeit.
   Vor mir erstreckte sich ein Reich, das etwa sechzig Meter in der Länge und fünfundzwanzig Meter in der Breite maß und von ungefähr dreißig Meter hohen Mauern zum Himmel hin begrenzt wurde, die mir trotz ihrer Dimension seltsamerweise nicht zu hoch vorkamen.
   Niemals vorher in meinem Leben hatte ich so plötzlich und dabei auch so eindringlich gefühlt, wie und was jenes ist, das wir als Natur bezeichnen, obwohl hier fast alles nur aus Stein bestand.
   Mir fiel auf, nichts erschien zu klein, nichts zu groß, alles, was ich sah, auch die Farben, bezog sich auf das andere: und so sah ich immer nur eine Einheit, die mich schier überwältigte.
   Langsam, nachdem ich meinen ersten überraschenden Eindruck etwas verarbeitet hatte, erschlossen sich mir auch ergänzende Einzelheiten. Erst jetzt begriff ich, dass alles von einem hellen, aber angenehmen Licht durchflutet wurde, welches sich mit jenem, das vom zwischen den Mauern hoch liegenden Himmel kam, verbunden haben mußte. Nur konnte ich nicht feststellen, wo es eigentlich entstand, da es nirgends Schatten gab. Selbst in den Körpern schien das Licht zu leben.
   Ein Wasserfall, der sich nicht weit von mir aus einer Maueröffnung ergoß, erzeugte das einzige mir vernehmbare Geräusch, indem er sein klares blaugrünes, und auch lichttragendes und lichtreflektierendes Wasser aus einer beträchtlichen Höhe in ein großes und tiefes Becken stürzte. Es machte den Mittelteil dieses einmaligen Territoriums aus. Parallel zu den Seitenmauern liefen Säulengassen, zwischen denen auf jeder Seite ein Ab- oder Zugang lag; aus weißem Marmor gearbeitet. An dem einen befanden sich zwei lebensgroße Statuen, an dem anderen zwei hellrosafarbene flache Marmorschalen, in denen blühender Agapanthus stand. Auf den Mauern sowie auf der Grundfläche und selbst unter Wasser, in der Tiefe des Bassins erstreckten sich in Stein gesetzte, farblich kaum wahrnehmbare, aber doch äußerst anrührende Mosaiken, die auf der begehbaren Ebene von schmalen Erdgräben begleitet wurden, in welchen knöchelhoch beschnittene Buchsbaumhecken wuchsen. Die einzigen großen Pflanzen, von den wenigen, die überhaupt existierten, gediehen in einem voluminösen Kübel aus dickwandigem Sandstein und standen auf einer kleinen, durch Stufen erhöhten Insel, in der auch sämtliche Muster zusammenliefen. Es waren drei noch nicht ausgewachsene Ginkgobäume.
   Inzwischen war ich bis unmittelbar an das große Bassin gelangt und wollte mich trotz meines übergroßen Durstes – denn alles, was um mich war, hatte mich davon abgehalten, etwas hastig zu vollziehen – mit dem Gesicht dem klaren Wasser nähern, als sich erst der eine in den Mauern befindliche Ausgang zwischen den Statuen und dann auch der andere, ihm gegenüberliegende, öffnete und aus beiden mich augenblicklich beeindruckende menschliche Gestalten erschienen. Sie mußten mich schon eine Weile beobachtet haben, denn ohne Hemmungen zu zeigen, gleichsam die Harmonie verkörpernd, schritten einige auf mich zu, und andere verrichteten Pflegearbeiten an Stein und Pflanzen, als habe ein jeder seine Aufgabe.
   Vornehmlich waren es Frauen, die, wie auch die wenigen Männer, welche durch eine gewisse, nicht unangenehme Sanftheit in ihrem Wesen feminin wirkten, keinerlei Kleidung trugen und so ihre wunderschöne bronzefarbene Haut deutlich zu erkennen gaben.
   Die, welche von Anfang an von mir Notiz genommen hatten, kamen immer näher und bedienten mich alsbald mit frischen, fremdartigen Früchten, boten mir gebackenen Fasan, Fisch und Wein und auch Quellwasser in Pokalen und Schalen an, die, im Gegensatz zur kargen Architektur, ausgesprochen üppig gestaltet waren.
   Nachdem ich auf die gestischen Hinweise zum Essen eingegangen war und es beendet hatte, begannen die während der ganzen Zeit in Bewegungen oder leise in, ich nehme an, griechischer oder lateinischer Sprache sich unterhaltenden Frauen mit Bemühungen, mich in ihr Tun einzubeziehen. Bald entwickelte sich auf diesem Weg, obgleich ich ja ihre Sprache nicht verstehen konnte, ein sehr intensives und herzliches Gespräch, das mir sowieso, aber auch ihnen überaus zu gefallen schien und das sie, wie sie mir mit allerlei der schönsten Bewegungen klarzumachen in der Lage waren, am nächsten Tag fortsetzen wollten.
   Fünf von ihnen nahmen dann mit mir noch ausgelassen ein wohltuendes Bad in dem tiefen Wasser des Bassins und begleiteten mich danach zu einer anscheinend für mich hergerichteten Schlafstätte, wo sie wohl alle solange verweilten, bis ich, im Banne ihrer Anwesenheit entspannt und zufrieden wie noch nie vorher in meinem Leben, eingeschlafen war.
   Die folgenden Tage verliefen in ähnlichem Zeremoniell wie der erste: Einige der Mädchen bemühten sich ständig um mich, und die jungen Männer, mit denen ich weniger Kontakt hatte, grüßten mich aus der Entfernung höflichst und wohlwollend freundlich.
   Erst mehrere Tage später jedoch erfuhr ich, durch einen Zufall, dass alle seit schon vielen Generationen Sklaven sein sollten. Und da ich mich mit einigen, besonders mit einer dieser unbeschreiblichen Wesen, schon sehr gut verstand und verständigen konnte, machte ich ihr den Vorschlag, einen Aufstand zu begehen, und die anderen stimmten diesem Vorhaben anschließend ohne Zögern zu. Doch bemerkten wir erstaunt, dass man den Aufstand gegen niemand richten konnte, da keiner wußte, wer und wo denn eigentlich der Herrscher sein sollte. Hilflos und verwirrt verließ ich darauf mit vielen Frauen und drei Männern jenes wundervolle Reich über den Zugang, durch den ich gekommen war, in die offene steinige Wüste.
   Unser Proviant und das Wasser waren bald aufgebraucht, und als ich nach zwölf Tagen von einer Karawane aufgefunden wurde, lebte, ich wage es kaum auszusprechen, keiner meiner Begleiter mehr.
   Meine Retter aber, die Beduinen, glaubten mir, wenn ich ihnen von meinen Erlebnissen erzählte, nicht das kleinste Detail, obwohl sie ständig mit dem Kopf nickten, was ich trotz meiner Schwäche und meiner großen Trauer sicher zu erkennen vermochte.

Gelesen von Sandra Hüller linkhausklein.png

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