“So wie Herr K. stets seinen nächsten Irrtum vorbereitet, so treffen Menschen immerzu die notwendigen Vorkehrungen, um zu bleiben, wie sie bis zu dieser Minute waren. ”
(Peter Sloterdijk)
Wenn Dir das Leben eine Zitrone schenkt, mach Limonade daraus.
Peter Sloterdijk hat wieder ein Buch geschrieben und es gehört, nach Meinung des Rezensenten, zu den Interessanteren des Philosophen.
Das Buch folgt einem klaren Gedanken. Sloterdijk spricht von Übungen, Trainings, Exerzitien, Askesen und Athletiken; was er aber meint, sind Wiederholungen, Rekursionen und Kommunikationen. Leben ist zu einem guten Teil Wiederholung. Menschen, und nicht nur Menschen, wohnen nicht (nur) in Räumen, zudem auch in einer permanent sich wiederholenden Oszillation von Übungen, Trainings, die er zum Ende des Buches hin als „Gewohnheiten“ bezeichnet. An diesem Punkt, muss der Leser kurz anmerken, dass auch Sloterdijk stark wiederholt. Allerdings Gedanken von Vorgängern, die namentlich nicht immer genannt werden.
Wiederholungen also können ebenso gute als auch fehlerhafte („maligne“) Gewohnheiten sein. Entscheidend sei, sagt Sloterdijk, dass wir unser Augenmerk auf diese Wiederholungen richten, dann werden sie bewusst und modifizierbar. Er plädiert dringend, am Vorabend des globalen Großproblems, für eine Bewusstmachung und Inventur unserer Übungspläne, denn – und das ist die Pointe des Buches auf Seite 642: „Der Mensch ist das Wesen, das nicht nicht üben kann.“
Diesen wichtigen Satz wiederholt er von Paul Watzlawick. Sloterdijk hat hier statt „kommunizieren“ jetzt „üben“ eingesetzt, was richtig ist, aber er nennt Paul Watzlawek nicht. Sloterdijk schreibt: Seit die wenigen explizit üben, wird evident, dass implizit alle üben, ja mehr noch, dass der Mensch ein Lebewesen ist, dass nicht nicht üben kann – wenn üben heißt, ein Aktionsmuster so wiederholen, dass in Folge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Ausführung verbessert wird.
So wie Herr K. stets seinen nächsten Irrtum vorbereitet, so treffen Menschen immerzu die notwendigen Vorkehrungen, um zu bleiben, wie sie bis zu dieser Minute waren. (Siehe hierzu Eric Bernes therapeutisches Buch „Spiele der Erwachsenen.“ Oder auch Watzlawiks Begriff von der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ im Buch: „Anleitungen zum Unglücklichsein“.)
Der Mensch kann – vielleicht – die schlechten Wiederholungen so verändern, dass sie sich zu Übungen wandeln, die zu vorteilhaften Steigerungen führen. (Hier wiederholt Sloterdijk Villem Flusser, nur sagt dieser nicht Übungen, sondern Diskussionen, die sich im schlechten Fall in einer Diktatur der Diskurse zirkulär verfestigen oder im guten Fall Dialoge erzeugen, die produktive (technische) In-Formationen hervorbringen – auch Flusser nennt Sloterdijk hier nicht als weiteren Mastermind seiner Wiederholung.)
Sloterdijk hat nun entdeckt, dass wir zum Üben und Diskutieren kein physisches Gegenüber brauchen, dafür die „Vertikalspannung“. Jede Übung wirkt „steigernd“ in dem Sinne, dass sie den Menschen in eine „Vertikalspannung“ hineindehnt. Die Vertikalspannung ist eine metaphysische Kraftlinie, ein unsichtbares Gerät, an der wir unser Dasein übend, wiederholend, ausrichten. Menschen sind prinzipiell dazu verurteilt, sich übungstechnisch, spirituell asketisch oder athletisch, oder modern anthropotechnisch in diese Vertikale einzuüben, die ihn im günstigen Fall gelingend aufsteigen lässt und im schlechten Fall unter die Grasnabe bringt. Nur dauerhaft sich plan legen, das kann die Gattung nicht. Dafür sind wir nicht gemacht. Wir können uns übend selbst steigernd helfen, weil wir uns immer schon selbst geholfen haben.
Darin ergeht zugleich die Mahnung, den schnarrenden Lautsprecher des Religionen-Begriffs leiser zu drehen, das allzu aufdringliche Glaubens-Geräusch einzumischen in ein allgemeineres Grundrauschen der selbststeigernden Übungen von Menschen.
Vertikalspannung. Goethe lässt zum Ende von Teil 2 seinen Faust sagen: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“
Sloterdijk aber besichtigt die Überlieferung, an der er seine These übend im Selbstgespräch trainiert, bringt eine Menge Beispielen, wühlt sich durch Askese-Techniken, eremitäre Einsamkeits-Exerzitien, Stoiker, budhistische Mönchsübungen, Selbstgesprächstechniken, besucht die Vertikal-Überspannten, die Höhenverstiegenen, den ikarischen Abstürzler, den Hungerkünstler, den Säulenheiligen, die frühchristlichen Athleten des Sterbens und Erduldens, gelangt vom geübten Hochleistungspessimisten Cioran bis hinein in die schwachsinnstrainierten Gefilde der Pop-Moderne – um all den Volksweisheiten, die auf diesem Gebiet immer nur frei flottierten, einen reflektierten Hafen zu bauen: Übung macht den Meister. Wenn Dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade daraus. Und das – ganz unironisch gesagt – macht auch Sloterdijk. Er nimmt die sauren Zitronen der Religionsspiele, presst sie aus und macht daraus eine servierfähige Limonade des Übens, Trainierens und der Widerholung. Er entdeckt das Wunder des Übens, das Besserwerden durch Wiederholung, den Willen zum steigernden Training.
Und noch in den „Sprachspielen“ von Wittgenstein ebenso wie in den „Diskursen“ von Foucauld erkennt Sloterdijk das Wirken von Gewohnheiten, Übungseinheiten von „Kulturordensregeln“, die auch als modifizierbare Gewohnheiten angesprochen werden, wenn man sie als „Diszipliniken.“ begreift.
An dieser Stelle wäre George-Spencer-Browns „Laws of Form“ zu wiederholen gewesen, wo eingehend behandelt wird, wie man eine bewusste Formerzeugung dadurch bewirkt, dass man einen „Unterschied macht“ Eine „Distinktion“ Sloterdijk sagt statt „Form“ hier „Disziplinik.“ Und benennt statt „Distinktion“ die „Sezession“ als Beginn aller Kultur.
Spencer Brown nennt er nicht.
Gelungen scheint mir Sloterdijks komplementäre Umspielung der Arnold Gehlenschen Mängelwesen-Problematik, die „Geschichte des Krüppels“, erzählt an dem armlosen Geiger Unthan, der aus der sauren Zitrone seiner armlosen Existenz durch härteste Übung und einem Hochleistungstraining schließlich die genießbare Limonade eines erklecklichen Virtuosen-Lebens gepresst hatte. Wenn auch “nur” im Licht der Sensationierung eines Freaks, der sich auf ein erstaunliches Niveau hoch trainiert gehabt hatte, so dass er schließlich mit den Füßen fiedelnd den Zuhörer Franz Liszt doch (nicht ganz) beeindrucken konnte.
Während Arnold Gehlen ja als Mängelwesen-Philosoph die Grundausstattung des Menschen als ein Hineingeborenwerden ins Mangelhafte, also in die Krüppelgrundausstattung beschrieb und deshalb alle kulturellen Institutionen und Techniken als unvermeidliche Prothesen abbildete und einforderte, scheint der armlose Fuß-Geiger Unthan uns zuzurufen: Im Gegenteil – die Prothesen wegwerfen und daraus die Energie und den Übungsmut schöpfen, etwas besonderes aus uns zu machen, nicht einfach nur den Mangel kompensieren, sondern sogar hinaufpflanzende, steigernde, akrobatische, mehr als nur gelingende Wirkung verursachen!
Dieser Eingangsvergleich ist von Sloterdijk gut gewählt, weil es zwingt, darüber nachzudenken, aus welcher Art Materie oder auch Energie eigentlich die kompensierende Prothetik des Lebens ist oder sein könnte. Recht eigentlich wird die Geschichte des Fußgeigers Unthan hier also nicht gegen Gehlen ausgespielt, zumal sich bald herausstellt, über die umfassende „Krüppeltypologie“ eines gewissen Hans Würtz aus den 20iger Jahren, dass das Privileg, ein Krüppel zu sein, beinahe allen Menschen zukommt. Man muss die Krüppeltypologie nur weit genug ausdifferenzieren, dann ist eigentlich jeder ein Krüppel. Der überkompensatorische Trainingseffekt, der immer noch etwas mehr zu leisten im Stande ist, als “nur” die Kompensation des Mangels, vergleicht Sloterdijk mit dem Hineinstoßen eines Körpers in die Bewegung, die immer auch etwas mehr bewegt als die bloße Überwindung des Hemmungsgrundes. Das ist interessant. Eine anthropokriminelle Energie?
Aus der Ferne kann nicht geprüft werden, wie stark das Krücken- und Krüppel-Buch des „Krüppel-Forschers Würtz“ möglicherweise dem 1. Weltkrieg geschuldet war. Interessant ist, dass Sloterdijk dazu nur einen vagen Hinweis in einer Fußnote gibt.
Der Leser selbst denkt darüber nach, dass hier vielleicht ein brisanter Gedanke vom Philosophen selbst nicht aufgeschrieben wurde. Es könnten Überlegungen sich anschließen, nach denen Kriege möglicherweise auch der „Krüppel-Erzeugung“ dienen, auch der Seelenkrüppel, die dann durch anthropokriminelle Kompensationsenergie die prothetisch plastische Fortzeugung des Menschen in die Friedens-Technik hinein beschleunigen. Friedenstechnik als Kriegsprothese. Die Geschichte des “Aufschwungs” der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg könnte hier ein Beispiel geben als die notfröhliche Überkompensation einer Generation von seelisch Verkrüppelten. Die saure Zitrone des Aktions-Wortes “Krüppel” in den 30iger Jahren, hat sich über die Zwischenstufen der “Behinderung” heute wieder zur “Aktion Mensch” hoch geübt und damit eben wieder in die servierfähige Korrekt-Limonade verdünnt. Das erwähnt dann auch Sloterdijk wieder.
Natürlich ließe sich auch umgekehrt fragen: Ist jeder akrobatische Hochleister an einer verborgenen Stelle notwendig verkrüppelt? Da gerät man unweigerlich in eine Dialektik hinein, die Sloterdijks gewählten Ansatz gefährlich werden könnte, der ja ausdrücklich „parteisch“ also einseitig vorgetragen für eine positive Akrobatik plädiert, wie der Autor gleich am Anfang seines Buches betont.
In Sloterdijks Licht auf den armlosen aber diszipliniert trainierenden Fuß-Geiger Unthan ließe sich dann erhellen, warum die Aufbaugeneration nach dem 2. Weltkrieg mehrheitlich eben nicht “trauerte” oder gelähmt dem Grauen inne wurde, so wie die Mitscherlichs das gerne gehabt hätten, sondern dafür auf den Stümpfen ihrer Seele fiedelnd dieses Deutschland wieder hoch musizierten. Damit aber wäre dem gesamten 68iger – Projekt auch noch der allerletzte Moral-Teppich entzogen.
Dies denkt sich aber nur der Rezensent. Sloterdijk geht derweil schon in hinauf kreisenden Spiralierungen seinem roten Faden der Übungen nach, der Wiederholungen, der anthropotechnischen Trainings, bis dieser Faden dann auch folgerichtig vom roten ins dunkelrote und schließlich ins blutbraune taucht und leider tauchen muss. Die Hybris des trainierten Könnens und Machens, machte schließlich auch nicht vor dem Menschen als Übungsgerät selbst halt und mündete in die Blutbäder der Menschenverbesserungspraktiken, den roten Ideologien und braunen ismen, samt ihrer “Lagerkulturen” und antrainierten Verirrungen und Katastrophen.
So weit so schlecht. Viel Menschen-Gras, das in die Vertikale hinauftrainiert werden sollte, wurde brutal ausgerissen, man weiß es, und dann tief unter die Grasnabe gepflügt.
Aber Sloterdijk betreibt hier weder Religions, – noch Ideologie,- noch Aufklärungskritik. Es geht ihm darum, wie er am Anfang sagt, die ganze Bühne der Betrachtung zu drehen, allerdings vorsichtshalber nur „um 90 Grad“ (?) um klar zu machen, dass dieser Mensch konstant unter “Vertikalspannung” steht.
Und Friedrich Nietzsche dient ihm dabei als Helfer um Abstand zu gewinnen, indem er sich der Abstandsgewinnung von Nietzsche anschließt. Nietzsche ist ihm eine Art Gewohnheits – oder Übungskoordinate. Der Probenraum ist klassisch dreidimensional. Nietzsche sagt: „Der Mensch ist das Seil, geknüpft zwischen Mensch und Übermensch.” Die Brücke, die der Mensch zugleich anthropotechnisch, sich immer mehr fortsteigernd, verkörpert, aber auch gefährdet selbst hinüberbalancieren muss, ohne zu verschwinden, und dabei eben immer schön diesen Zug in die Vertikale zu beachten hat, sich gerade halten muss, in der Vertikalen, wenn er als Seiltänzer nicht abstürzen will.
Aber Nietzsche bleibt eben doch ein Problem. Nietzsche ist ein mit antiprotestantischem Zorn gedopter Menschenprotz aus dem Fitnessstudio der Altgriechen. Ein gefährlicher, weil unterbelichteter Türsteher zum Eingang des 20igsten Jahrhunderts. Kaum wirklich subtil einsichtig in die naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung seiner eigenen Zeit. Und in diesem Sinne eben “metaphysisch” gedopt. Wettkampftechnisch problematisch. Problematisch an Nietzsche, und da kann man ihn noch so sehr hin-und her wenden, und man merkt es an der Kraftanstrengung Sloterdijks, der das auch weiß – Nietzsche ist ein Figurendenker und eine Rampensau; und nicht selten ist er auch ein Knattermime. Das Personale und Figurative hat ihn so attraktiv gemacht, aber es macht ihn heute eigentlich untauglich als Trainer, der immer selbst noch mitboxen will, wenn über “Anthropotechnik” klar nachgedacht werden soll, jedenfalls dann, wenn man Nietzsche, so wie Sloterdijk, allzu ernst als Trainer nimmt und ihn allzu wenig selbst als ernstes Symptom betrachtet. Sloterdijk ist sich dieser Sache zwar bewusst, aber er behandelt es für den Geschmack des Rezensenten nicht befriedigend. Nietzsche wusste ja, dass die Metaphysik eine sehr weltliche Treibladung ist. Deshalb hat er sich damit gedopt. Eben gerade nicht „meta“, „hinter“ oder „nach“ oder „über“ der Physik sich verortet, sondern inmitten. Deshalb spannt Nietzsche sein Menschenseil zum Übermenschen in die Horizontale, nicht in die Vertikale. Aber statt es dabei zu belassen, macht sein Zarathustra dann Theater, stellt auf dieses Seil einen Akrobaten und sofort ergibt sich wieder die selbe falsche parareligiöse Höhensemantik von Himmel und Erde. Aufstieg und Absturz. Es ist eine schlechte Gewohnheit, Metaphysik und Religion in den selben vertikalen und so verschwitzten Verpackungszusammenhang zu verorten. Eine Angewohnheit des nacharistotelischen christianisierten Menschen. Ebenso wie es eine schlechte Gewohnheit ist, heute von einem „nachmetaphysischen Zeitalter“ zu sprechen, was auch Sloterdijk manchmal noch tut. Und ebenso wie es eine Fehleinschätzung von Nietzsche war, sich selbst als “letzten Metaphysiker” zu bezeichnen.
Wenn man die Umdeutung, den der Begriff Metaphysik seit Aristoteles verwirrender Weise erfahren hat, nicht sehr genau behandelt, dürfte man sich in Zukunft auf dem Feld der “Anthropotechniken” nur schwer verrenkt bewegen können. Man kommt dann nie aus dem Nietzsche-Fittness-Studio hinaus und hinein in ein grundlegendes Verstehen. Metaphysik baut keine Türme, sie treibt. Heute könnte man die Metaphysik der Energoformation zuordnen oder wenigstens der Polspannung zwischen Energie und Form. Aber im Kapitel: „Zur Kritik der Vertikalen“ baut sich Sloterdijk ein Höhenbarometer aus anthropologischen Beobachtungen zusammen. (Beispiel: Kinder, die zu ihren Eltern vertikal hinaufschauen.) Ohne auf die Begriffsgeschichte der Metaphysik näher einzugehen, gelangt er dann recht bald wieder zu einer “Artistenmetaphysik”, die jetzt schon wieder eine Vertikal-und Höhen-Semantik mit “Gipfeln des Unwahrscheinlichen” ausbildet. Diese „Gipfel des Unwahrscheinlichen“ holt er sich vom Biologen Richard Dawkins. Sloterdijk scheut sich nicht, von einer „Artistik der Natur zu sprechen.“ welche die Evolution in „unwahrscheinliche Höhen“ treibt. Dann switcht er auf die menschliche Gesellschaft und baut daraus “Artistenpyramiden”, Menschenhaufen, die er hoch geturnt in Zirkusarenen entdeckt, zitiert dann mit Nietzsche- Zarathustra den Seiltänzer in großer Höhe, zu denen das untenstehende Publikum aufschaut, kurzum: Er knetet die christianisierten Höhenhierarchien von Himmel und Hölle in ganz weltliche Vertikalverhältnisse um. In weltliche Könnens-Kathedralen aus Lei(d)-Differenzen, die ich hier extra mit „d“ schreibe, obwohl sie mit „t“ geschrieben werden. Die Menschen sollen sich eben um den „prominenten“ Platz dort oben jetzt wettbeneiden, hochspannen und deshalb trainieren, damit sie auch nach oben kommen. Sloterdijk wird hier plötzlich kathedralisch athletokatholisch.
Sloterdijk sagt nicht: Raumfahrt ist die Fortsetzung der Himmelfahrt mit anderen Mitteln – was präzise wäre, dafür leiht er bei Nietzsche und Dawkins und baut „unwahrscheinlich hohe“ Menschenpyramiden zu akrobatisierenden Türmen hoch, wobei die eigentliche Dynamik in eine semantische Verrenkung gerät. Die Tatsache, dass der Begriff des „Unwahrscheinlichen.“ neben seinem umgangssprachlichen Gebrauch im Sinne von „Hoch-Steigerung“ auch auf die kühlere Wahrscheinlichkeitsrechnung und damit eher auf Verteilungen verweist, spricht Sloterdijk nicht an.
Die Einsetzung Nietzsches als Trainer oder Pfadfinder initialisiert dann auch die notfröhliche Aktion, seinen Übermenschen als “Prominenten”, als „heraus stehenden“ Menschen vorzustellen. Sloterdijk will den belasteten Begriff des Übermenschen von Nietzsche dadurch entschärfen, dass er ihn ironisch auf einen “Prominenten” heruntertrainiert, als den „Herausstehenden“ gleich welcher „Disziplinik“, ob nun auf dem Seil oder auf einem roten Teppich, der dann „von unten“ gesehen wird und zur Nachahmung anstiften soll. Der Rezensent denkt sich: Prominente, das wären jetzt Daniel Kübelböck, Dieter Bohlen, Jan Ulrich und in gewisser Weise dann auch Peter Sloterdijk auf einem Seil als Übermensch. Krüppel oder nicht Krüppel – das ist dann eine Frage der Perspektive. Wie trennt man aber eskalatives und de-eskalatives Training?
Nö, da nimmt man als Leser dann doch Abstand und sagt: Herr Sloterdijk, gucken Sie mal, wo sie da entlanggehen; und man möchte beinahe den alten schlimmen Übermenschen wiederhaben. Aber diese seltsam verrenkte Operation belastet das ansonsten interessante Projekt orthopädisch. Es wirkt unfreiwillig komisch, verursacht Rückenschmerzen. Für diese spezielle Turnübung kann man dem Philosophensportler Sloterdijk höchstens eine 3 minus Note geben.
Dies aber in einem Buch, das ansonsten auch Witziges enthält, und wieder jede Menge schöner Sloterdijk-Sätze bereit, wie zum Beispiel diesen hier: „Wer mit sich selbst identisch bleibt, bestätigt sich hierdurch als ein funktionierendes Expertensystem, das auf fortlaufende Selbstwiederherstellung spezialisiert ist.“ In der Nähe davon liest man auch, dass der Homo Sapiens ein „überraschungsoffener Typ“ ist, der seine Identitätspflege als Re-Trivialisierungsoperation betreibt. „Retrivialisierung meint die Operation, dank welcher lernfähige Organismen imstande sind, Neues zu behandeln, als wäre man ihm nie begegnet – sei es durch eine mechanische Gleichsetzung mit Bekanntem, sei es durch offene Leugnung seines Belehrungswerts.“
Der Leser stimmt zu, und fühlt sich deshalb auch aufgefordert zur umgekehrten Operation, die einen lernfähigen Organismus dazu befähigt, dem Bekannten so zu begegnen, als wäre es etwas Neues. Aus diesem Grunde unterlässt er es hier, auf die Lerntheorien von Gregory Bateson hinzuweisen oder auf die Definition des „Neuen“ nach Villem Flusser.
Und macht sich stattdessen darüber Gedanken, ob Sloterdijk demnächst eine „Anthropotechnik des Vergessens“ in Aussicht stellt. Immerhin nennt Sloterdijk in seinem Buch die Erfindung der Anästhesie als ebenso zwiespältige wie revolutionäre Ohnmachtspraxis.
Den Homo Expander als (hoffentlich langsam) explodierendes Wesen anzusprechen, und damit den Begriff der Vertikalspannung selbst allrichtungsweisend zu entfesseln, unternimmt Sloterdijk im Rückgriff auf Nietzsches „nach vorn abrollendes Rad“, das angerufen wird. Und dann mit Gotthard Günther. Dieses Rad aber hat kein Bewusstsein, ist nicht anrufbar, weil es keine Person ist, sondern ein Potential, das zu einem Aktual wird, ein Rad, das im Abrollen das Selbst-Bewusstsein zu verlieren droht, wenn….. Dieses „Rad“ ist die reine technische Praxis. Deshalb äußert sich Sloterdijk zu dem empfindlichen Thema der Willens-Freiheit, die ja mit dem Ohnmachts-Thema gekoppelt ist, nur undeutlich nuschelnd. Auf Seite 643 schreibt er: „Setzt man sich einer anspruchsvolleren Selbstbeobachtung aus, gerät man in den psychosomatischen Maschinenraum der eigenen Existenz. Dort ist für die übliche Spontanitätsschmeichelei nichts zu holen, auch Freiheitstheoretiker bleiben besser oben. Bei dieser Untersuchung dringt man in ein nicht-psychoanalytisches Unbewusstes vor, dass alles umfasst, was zu den normalerweise unthematischen Rhythmen, Regeln und Ritualen rechnet, gleich ob es auf kollektive Muster oder ideosynkratische Spezialisierungen zurück geht. In diesem Bereich ist alles höhere Mechanik, intimere Einbildungen von Nichtmechanik und unkonditioniertem Für-Sich-Sein inbegriffen. Die Summe dieser Mechaniken erzeugt den Überraschungsraum Persönlichkeit, in dem doch nur äußerst selten Überraschendes geschieht….“
Hier sucht man dann vergeblich nach einem Hinweis, um welche Art von „anspruchsvoller Selbstbeobachtung“ es sich handelt. Man findet dazu auch keine Fußnote. Wenn die Freiheitsproblematik so in der Schwebe bleibt, klingt plötzlich auch die Aufforderung: „Du musst dein Leben ändern.“ leicht geschwächt.
Sloterdijk glaubt, dass die verstiegenen Vertikalisierungen der vergangenen Jahrhunderte mit der Moderne wieder zur Horizontalen gefunden haben, oder wenigstens beobachtet er eine Tendenz zur Einflachung, die er lobenswert findet. Zugleich aber mahnt er dringendDem kann man zustimmen. Hoffen wir das Beste.
Das Buch unternimmt, wie vom Autor versprochen, eine 90igGrad-Drehung(?) der anthropotechnischen Bühne.
Wie dreht man sie weiter?
Die Raumfahrt oder der Tod sind die beiden Pole, zwischen denen der langsam explodierende Homo Expander heute balanciert. Beide Optionen aber führen durch die Landschaft der Ohnmacht (Raumfahrt der Erfahrung) und das heißt: Kleists bewusstlose Marionette mit Nietzsches Seiltänzerin zu vermählen.
Mit dem Einüben des Lebens, dem Raumfahrttraining der Erfahrung, muss sofort begonnen werden. Hingewiesen sei deshalb auch auf die Kapitel mit einer zu Recht ätzenden Kritik am deutschen Bildungssystem, an dem Sloterdijk kein gutes Haar lässt. In Zeiten von Amokläufen muss diese Kritik sehr in den Ohren klingen. Die deutsche Bildungspolitik ist analog zum Kunstmarkt, den Sloterdijk ebenfalls niederkartätscht, schwer verrottet und lässt scharenweise Desorientierte ohne Weltbezug auf die Gegenwart los.
Die Kritik zur Bildungspolitik findet sich deshalb auch ganz in der Nähe der Warnung vor einer Globalkatastrophe als unserem vielleicht letzten Monogott, demgegenüber wir uns als planetar trainierende Zivilgemeinschaft zu beweisen haben. Glück auf beim Kampf um freie Übungsräume und hoffentlich genügend verbleibende Zeit im übervollen Trainingskalender.
Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Suhrkamp 2009
Schreibe einen Kommentar