TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Leben in Deutschland

Nicht Heiligendamm, es war 1988, Ostdeutschland. Und auch absurd.

Die Straße, auf der sie fahren, alle sind sich mindestens vom Sehen bekannt und wollen in das gleiche Gebiet wie M., wird jetzt immer schmaler; also bilden auch die Baumkronen über der Straße einen lichten Tunnel, durch den sich M. im Bus sitzend mit all den anderen in die gleiche Richtung begibt.
Der Bus fährt nun im tiefen Wald.
Kaum noch einem anderen Fahrzeug wird begegnet.
Längs der Straße sieht M. ab einer bestimmten Stelle im Wald jetzt in kurzen und regelmäßigen Abständen zwischen den Bäumen andauernd Schilder an auffälligen rot-weißen Pfählen.
Später kommen zu den Schildern noch riesige Straßenlampen hinzu.
Sie brennen nachts sehr hell.
Ungefähr mit dem Einsetzen der Lampen an der Straße fasst jeder, auch M., wie gesteuert dorthin, wo man seinen, M., wo er seinen Personalausweis hat und befindet sich nach Ablauf dieser Tätigkeit mit dem jetzt geöffneten Ausweis in der Hand an einem Ort, wo noch mehr Schilder und Lampen und auch noch, inmitten exakt geharkter Flächen, einige kleine, mit Mauersteinen und Betonzaunpfählen eingefasste junge Fichten zu sehen sind. Und gewaltige Scheinwerfer sind auch da; die nachts stets hell brennen.
Der Bus muss mittlerweile stehen bleiben; und wenn man nicht M. ist, M. kennt dies ja alles, würde man seitlich des Busses eine lange hell getünchte Mauer und direkt vor dem Bus einen gewaltigen rot-weiß geringelten Schlagbaum sehen können.
Wenn dann die Tür des Busses aufgeht, halten schon alle ihren Personalausweis in der Hand, zeigen dem eben eingestiegenen bewaffneten Soldaten die für diesen Augenblick wesentliche Seite, jene, die das Passieren des Schlagbaumes möglich macht, stecken den Ausweis, nachdem der Soldat diesen zur Kenntnis genommen hat und bereits aussteigt, wie immer wieder weg und warten auf das Anfahren des Busses.
Dann fährt das große Fahrzeug auf die sich öffnende Schranke zu und passiert sie.
Steigt M. etwas später aus dem Bus, ist er an seinem Ziel; einem ganz besonderen Grenzgebiet, das nur für Anwohner betretbar ist.
Das erste, was M. jeden Freitag, eine große Ruhe mit inbegriffen, zu spüren bekommt, ist ein Geruch der Luft, der ihn jedes Mal in ein durchdringendes Glücksgefühl versetzt: Mit einem Schlag vermittelt sich dann, kommt man so wie M. gerade aus einer großen umweltverbrauchten Stadt, die Anwesenheit von Wasser, von Moor, von Wiesen und von frischem Sauerstoff der in reichem Maße vorhandenen Bäume des Waldes.
Etwas später denkt M. dann, denn M. ist hier groß geworden, hat hier seine frühe Kindheit verbracht, eine Zeit, die sich bei spontanem Zurückdenken als ein Aufwachsen in unberührter Natur aufdrängt, dass er auch heute niemals an einem anderen Ort glücklicher sein könnte: Da war das Schilf am Ufer, in dem er früher, wenn möglich mit alten Schuhen umherlief, um mit Gläsern oder mit selbstgebauten Reusen kleine Fische und Kaulquappen zu fangen oder um sich die Nester und Eier verschiedenster Wasser- und Singvögel anzusehen, um zu angeln oder auch nur im Dickicht der vielen Rohrhalme für eine Stunde vielleicht vor den Augen anderer sich zu verbergen, weil er mit sich und seiner diesmal gerade gewählten Rolle alleine sein wollte.
Und da waren auch die vielen alten Bäume im Uferbereich. Zu fast allen hatte M. eine besondere Beziehung.
Da war das Eis im Winter, das Einbrechen in ihm, da waren Erfolge und Misserfolge beim so geliebten Eishockeyspiel; da ging er von der Wohnung aus, in der er sich schon seine Schlittschuhe angezogen hatte, bis hinaus auf das Eis, und da ruderte er im Sommer oder segelte mit dem selbstgebauten Segel manchmal so weit, und der Fluss ist dort sehr breit, dass er die Grenze zu Westberlin verletzte, nur, um es einmal gemacht zu haben.
M. ist nun zu Hause.
Manchmal, so wie heute, sieht er von den eben erwähnten Rückblicken erfüllt auf sein damaliges Reich. Nur ist es jetzt anders. Das Wasser und der Schilfgürtel liegen inzwischen schon lange hinter der die Uferlinie begleitenden Betongrenzmauer. Und wo früher in M.s Garten die schönen, großen Bäume standen und einen kleinen verwilderten Park bildeten, befinden sich heute, einen Streifen von etwa zehn Metern in Besitz nehmend, die Grenzbefestigungen:
Vor der hohen Mauer, sie steht am weitesten zum Wasser hin, kommt eine maschinell sauber geharkte, absolut sterile Sandfläche, gefolgt von einer Betonstraße für die Streifenfahrzeuge; dann schließt sich abermals eine gelbe Sandfläche an, und den Abschluss bilden zuerst ein elektrischer und dann noch ein die Grenze zu M.s noch verbliebenen Garten ausmachender ganz normaler Zaun.
Mitten darin stehen, und das ganze Ufer entlang, große moderne Straßenlampen.
Durch sie ist es nachts sogar in den Wohnungen hell.
Als einst die vielen schönen alten Bäume gefällt und gerodet wurden, wusste M. nicht, er war damals sehr niedergeschlagen, dass er eines Tages wieder zufrieden in seiner Wohnung leben könnte.
M. sitzt inzwischen bereits auf der Veranda, hat Besuch bekommen – einen der auch einen Stempel im Ausweis hat – und trinkt mit diesem am offenen Fenster Rotwein; stört sich, wie auch sein Besuch nicht daran, dass auf der schon erwähnten Betonstraße, die für die Streifenfahrzeuge gebaut wurde, nicht weit von ihnen, zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten mit Stahlhelm auf einem grünen Motorrad vorbeifahren; hört trotzdem, wie wahrscheinlich auch sein Besuch, mit fast anhaltendem Genus aus dem Radio die Musik von Chopin und zeigt seinem Besuch in dem schon erwähnten abgetrennten Schilfdickicht, wo sich jetzt die Vögel und Schwäne wohl und ungestört fühlen, einige der so scheuen Graureiher.
Am übernächsten Tag wird M. dann durch den Schlagbaum das Grenzgebiet wieder verlassen und sich im Verlauf der Woche auf seine Rückkehr freuen.

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