TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Laufen Lernen

Der Speiseraum wird von einem Sternenhimmel aus Halogenlampen erleuchtet, an den Wänden hängen getrocknete Blumenkränze und einige Aquarelle ehemaliger Patienten. Pferde im Profil, auf der Galopprennbahn mit Jockey, grasend auf grüner Wiese, Blick über den Lattenzaun. Zu meiner Verwunderung ist das Frühstücksbuffett bereits morgens um 6.30 Uhr dicht umlagert. Die riesigen Wurst- und Käseplatten sind mit Peperoni und Gurkenscheiben garniert, mittags gibt es vier Salate zur Auswahl: Rotkohl, geriebene Mohrrüben, gekochter Blumenkohl, weiße oder grüne Bohnen. Wer an zwei Krücken geht und seinen Teller nicht selber tragen kann stellt sich an das Ende der Theke und wartet auf eine Serviererin.

  „Frau Dreifke, Sie können das nicht verallgemeinern! Jede OP ist anders…“ Wie bei jeder Mahlzeit wird an meinem Tisch bereits lebhaft über das Lieblingsthema diskutiert: Knie- und Hüftoperationen – und das Thema ist ergiebig: künstliche Knie- und Hüftgelenke, nette oder inkompetente Ärzte, private und gesetzliche Krankenversicherung, homöopathische Medikamente, all das. Ich überlege, ob ich mir nicht auch ein abgeschrägtes Sitzkissen kaufen sollte. Wir sprechen auch über Ostergeschenke für die Enkel, Haustiere und unselbstständige Ehemänner, die sich jetzt mal wundern, weil sie selber kochen müssen. Frau Kositzke war Musikschullehrerin in Hellersdorf und hat zu viele Akkordeons gewuchtet, jetzt findet sie endlich Zeit zum eigenen Musizieren. Frau Dreifke malt jetzt Aquarelle. Der Platz mir gegenüber war lange leer, jetzt ist sie wieder da: Frau Jäger aus Mariendorf, das ist bei Tempelhof. Frau Jäger weiß, dass irgendwann nach der linken die rechte Hüfte dran ist.

  Dann wird es ruhig im Saal. Ein großer Mann in Shorts, Sandalen und schwarzem Whinnetou T-Shirt ist aufgestanden und räuspert sich: „Also, ick möschte jetzt in aller Öffentlichkeit klarstellen, damit dett auch mein Herr Nachbar hier kapiert, dass meine Frau keine Prostituierte ist, auch wenn Sie aus Asien kommt. Es gibt hier in Deutschland noch immer ’ne Menge Leute, die meinen, dass sie alle Ausländer undso so behandeln können…“ Sein Tischnachbar, der rote Anwalt, guckt weg und sitzt bei der nächsten Mahlzeit an einem anderen Tisch.

  Zu Ostern hat die Freizeitgruppe kleine Tischblumentöpfe bemalt und mit grünem Ostergras und bunten Eiern geschmückt. Frau Jäger trägt wie jeden Tag ihre rostrote Weste aus Lederimitat mit Reißverschluss und am Kragen die goldene Schnecken-Brosche: „Iss niedlich, wa? Aber wenn ick aus der Klinik rauskomme, kaufe ick mir einen Kanarievogel.“ Plötzlich weiß ich, es war Frau Jäger, die weiße Frau vor dem Fahrstuhl.

  Den Country-Tanzabend am Karfreitag mit der bunten Tänzergruppe Wunder Liners habe ich verpasst, das Eröffnungsrennen auf der Galopprennbahn ist wegen Bodenfrost und Trainingsrückstand der Pferde verschoben, aber am Ostersonntag findet das traditionelle Ostereiersuchen statt. Auf Fensterbrettern, zwischen Topfpflanzen, Gardinen und den Geräten im Trainingsraum hat der Zivi Süßigkeiten versteckt. Ich soll ihm nachher berichten, wie sich die alten Leute gefreut haben, mache ich gerne, denn sie freuen sich sehr. Mit ungeahnter Schnelligkeit krücken wir durch die Gänge. Die ganz Flinken ergattern einen großen Schokohasen, dessen lange Ohren dann triumphierend aus den Stoffbeuteln hervorlugen. An den Feiertagen gibt es keine Anwendungen, die Flure sind wie ausgestorben, hinter verschlossenen Türen vereinzelt Fernsehklatschen. Ich strecke die Füße in die Luft, zur Abenddämmerung kommen Rehe auf die Wiese und extra zu Ostern heulen nebenan die weißen Schäferhunde.

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