TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Jennifer

Es war Mitte Juni, und Jennifer lief zu einer, vom Hauptzweck ihres Ausfluges aus betrachtet, viel zu frühen Jahreszeit in einer ihrer Stadt fernen Landschaft. In der sie Beeren suchen und sich auch an der Einsamkeit, welche das Hauptmerkmal diese Gebietes war, laben wollte.
   Eine Einsamkeit, die ihr immer gut bekam. Und beinahe dürfte man das, was sie nun innig erbaute, nicht als Vereinsamung bezeichnen. Zwar schien sie sich weit und breit alleine auf der Welt zu befinden, doch da waren auch die kahlen Hügel, die auf oder an ihnen in Gruppen vorkommenden Bäume und auch Blumen, die man nicht vergessen durfte. Zwischen ihnen allen lief sie ja gemächlich dahin: Und hinter jedem Hügel konnte vielleicht ein neuer liegen, konnten sich andere Blütenfarben auftun oder sich ein Tümpel befinden oder sonst etwas, das sie vorher nicht erwartet hatte; vielleicht auch ein Greifvogel, der sich bei ihrem Anblick kraftvoll davonschlagen würde, und nicht etwa, weil sie besonders furchterregend war, sondern weil es zu seiner Natur gehörte.

Nun war Jennifer schon nahezu zwei Stunden durch die Landschaft gelaufen und hatte gerade einen ihrem Gefühl nach angenehm weitgestreckten Hügel erreicht, als sie in der Ferne plötzlich eine andere menschliche Person wahrnahm. Gleichermaßen war sie erbost wie berührt-erschrocken; wußte aber nicht, wie es zu dieser Spaltung kam. Sie fühlte nur den deutlichen Zwang, sich erst einmal von der fremden Person fernzuhalten, schlich sich aber trotzdem durch einige Sträucher näher an sie heran. Bald konnte sie die Person zweifelsfrei als Mann erkennen und um ihn noch zahlreiche Schafe. Im Vertrauen zu ihrem Gefühl, das ihr abgeraten hatte, sich allzu schnell dem Manne mit den Schafen zu nähern, wollte sie ihm aber noch eine Weile zuschauen. Und was sie sah, verwunderte sie, und bald verlor sie immer mehr ihren warnenden Instinkt.

Inzwischen war Jennifer schon eine Weile bei dem Mann, von dem sie erst aus der Nähe bemerkt hatte, dass er höchstens vierzig Jahre alt sein konnte.
   Sie hatte ihm gleich, nachdem sie ihn gegrüßt hatte, ausführlich, ja ausführlicher, als sie es wollte, vom Zweck ihres Ausfluges berichtet, denn er sprach kein Wort, sah sie nur hin und wieder flüchtig an und beobachtete sonst immer nur seine Tiere und nagte dabei ständig an einem Knochen.
   Plötzlich aber, sie war dabei, aus Verlegenheit etwas Schönes über seine Schafe zu äußern, begann er abrupt zu sprechen und sagte mit tiefer Stimme: “Ich weiß schon, was Sie wirklich denken, aber sie täuschen sich, meine Beziehung zur Natur ist rein. Sie dürfen nicht zwei Ebenen durcheinander bringen. Ich tötete dieses Kaninchen hier nur…” und er hielt den Knochen in die Höhe, “… weil ich mich ernähren muß, nicht aus Lust oder Ehrgeiz. Bin ich gesättigt, könnte ich auch mit demselben Tier, gäbe es jenes noch und hätte es Vertrauen zu mir, auf der Stelle tief befreundet sein.” Und ohne Jennifer zu Wort kommen zu lassen, sprach er weiter: “Ihr aus der Stadt! – Sie sind doch aus der Stadt? – Aber natürlich, ich sehe es deutlich an Ihren Augen, meine waren einmal ähnlich vor vielen Jahren, ihr fehlinterpretiert das alles hier, obwohl ihr es genau genommen nicht einmal vorfindet. Aber eigentlich passiert hier auch nichts. Es gibt immer nur die Spannung auf den nächsten Tag und darauf, ob vielleicht ein Lamm geboren wird. Trotzdem wollte ich beinahe einmal einen Film darüber machen. Damals sprach ich noch mit mich zufällig frequentierenden Spaziergängern, obwohl es sehr wenige nur waren, in altgriechisch, damit sie mich wieder schnell verlassen würden. Aber wie Sie sehen oder besser hören…” und der Mann lachte hallend, “… habe ich es wieder aufgegeben… Ich glaube der Mensch wird gut hier draußen. Und vielleicht erkennen Sie es auch an einem anderen Beispiel: Sehen Sie dieses Mutterschaf dort?”, und der Mann zeigte auf ein bestimmtes, gerade zu ihm blickendes Tier. “Ihm habe ich etwas versprochen. Und wenn ich dieses Versprechen nicht einhalten würde, so, hat es mir versprochen, müßte ich schmachvoll sterben: Und ich lebe heute weniger in der Angst vor dem Tode als vielmehr in dem belebenden Gefühl, dass jemand ein so großes Vertrauen zu mir hatte: Denn, was würde geschehen, erzählte ich das Verbotene? Ich würde sterben, aber Sie und viele andere erführen, was niemanden angeht. Und das wäre das Schlimmste. Sie verstehen?”

Doch Jennifer, obwohl sie ständig mit dem Kopf nickte, wollte nur schnellstens weg und schwor sich schon zu diesem Zeitpunkt, nie wieder alleine die Einsamkeit der Natur zu suchen, sprach aber ruhig, um sich dem Manne nicht verdächtig zu machen und um ihn nicht zu provozieren, in ihrer lieblichsten Stimme: “Auf Wiedersehen, mein Herr, ich muß nun gehen. Wünsche Ihnen aber für die Zukunft alles Gute.”
   Worauf er ohne Umschweife antwortete: “Sehen Sie, ich wußte, dass Sie wieder gehen würden, denn es lebt noch der Geist des Urbanen in Ihnen. Wir alle hier haben es gleich bemerkt, doch keiner wollte so unhöflich sein, Ihnen zu sagen, dass wir lieber alleine wären, denn wir besitzen die Toleranz, die…”
   Weiteres konnte Jennifer nicht verstehen, denn die Entfernung zwischen ihr und ihm ließ es nicht mehr zu; doch war ihr, als riefen die Schafe nach ihr.
   Auch senkte sich der Abend schon langsam über das Gebiet. Also fanden die Tiere ohnehin langsam zu der Ruhe die ihrem Schlaf vorausgeht, wie jeden Tag um die Zeit, denn sie erwachen früh, als nutzten sie mit Hingabe das Licht des Morgens, das in der freien Natur ein besonderes sein soll.

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