TEUTONIKA – Leben in Deutschland

La Bla oder Blicke aus verschiedenen Winkeln

„Gewiss“, seufzt Irmintraut leise, und die anderen wagen nicht mehr, mit den Macchiato-Gläsern zu klappern, um nur ja nichts von der fragil dahingewehten Einsicht zu übertönen. „Du sprichst wahr, Josef aus dem Odenwald. Ich bin ein Anachronismus. Und doch ist diese Zeit die einzige, die mir bleibt.“

„Liebenswürdiger“, brummt Joseph sympathieheischend und modelliert mit der Rechten nervös das Ende seines unregelmäßigen Bartes, bis es ihm als schwarze Spitze unter dem schwachausgebildeten Kinn steht, „ich sagte ‚liebenswürdiger Anachronismus’.“ Doch Irmintraut hat sich in der Rolle des unverstandenen Sonderfalls bereits eingerichtet und scheut routiniert vor jeglichem Augenkontakt. Ihr Blick springt von Gesicht zu Gesicht und flüchtet in weitere Ferne. „Wie das scheue Reh, das sich den Weg durch die Gasse der Treiber sucht“, denkt Joseph und lässt fast ein „Wir haben doch keine Gewehre!“ fahren. Wenn sie ihn doch nur einmal ganz lieb mit ihr ficken ließe. Das würde so vieles erklären.

Irmintraut indes hat sich in ihrem ziellosen Schweifen ungewollt dem reichlich Betrunkenen zugewandt, der am Tresen Gleichgewicht findet. Einige Zeit schon hat der einsame Schlucker den nachbarlich positionierten Gästen bedeutungsvolle Blicke zugeworfen, um sich an ihnen wie an Enterhaken auf Deck der fremden Aufmerksamkeit zu schwingen. Wo sich ein Gesicht nicht schnell genug abdreht, da feuert er auch noch eine schnelle Sprachbreitseite in Richtung des möglichen Mitmenschen. So hat sich mittlerweile ein lockerer Halbkreis von ablehnenden Rücken um ihn und die Tresenmitte gebildet.

In diese Nichtsprechblase nun sticht Irmintraut mit ihrem waidwunden Fernblick. Und sie lässt ihn lang genug ruhen, dass selbst die eingelegten Sinne des Trinkers das neue Leben vermerken. Suchen, verlieren, erneut fixieren, abrutschen, endlich Halt finden: Sein Blick saugt sich an ihrer zerbrechlichen Larve fest. Hoppla! Nun wird auch Irmintraut klar, dass sie gefunden hat, was sie nicht suchte. Sie wendet sich mit einem gütigen Lächeln ab und sendet zugleich und mit Flammenschrift eine telepathische Botschaft: „DU BIST ZU BETRUNKEN, UM HERZUKOMMEN!“

Leider nein, Irmintraut. Das klare Ziel vor Augen lässt auch den Wankenden festen Schrittes werden. Am Zieltisch angekommen, dient ihm sogleich Josephs Schulter als Stütze und Tresenersatz. Irmintraut schaut dem Besucher mutig und gütig in die halbverglasten Guckmurmeln und vernimmt seine Botschaft: „…Bulle, der mich letztens festgenommen hat, war so von den Nerven gekommen aufn Tisch geplatzter Papier später dann schöne Sau!“ Irritierender noch als die Botschaft selbst ist das kleine Spuckebröckchen, das der Trunkenbold seiner Stütze, von Joseph unbemerkt, aufs Haupthaar platziert. Trotzdem ist niemand nach kichern. Mit solchen Leuten muss man vorsichtig sein. Wer weiß, ob er nicht jetzt schon nach seinem Klappmesser kramt! Die Blicke gehen unisono zu Boden.

Nur Joseph handelt. Die „schöne Sau“ geht Irmintraut zu weit; er hat das kurze Flackern in ihren friedensgebietenden Augen gesehen. Er spürt die schwere Säuferhand auf seiner Schulter. Der Kerl fiele von alleine um, wenn es hart auf hart käme. Steif, aber bestimmt beugt Joseph sich zu seiner Herzensdame und nimmt seinen Schultergast in der Bewegung mit, ohne ihn durch übertriebene Geschwindigkeit gleich stürzen zu lassen. Noch ist Bedachtheit der passende Schlüssel. „Belästigt er Dich?“ Irmintraut sieht nun aus nächster Nähe das Bröckchen Schleim auf Josephs Haar. Sie schüttelt ihren Kopf.

Der trunkene Spucker hat das vergebliche Kramen in seiner Tasche eingestellt. „Zigaretten? Zigaretten?“ fragt er und stiert auf den messingfarbenen Cochtisch, um den sich die Gruppe platziert hat. Da sind keine. Alle schütteln nachdrücklich den Kopf. Mit missvergnüglichem Grunzen schwankt der ungebetene Gast die drei Meter hin zum Ausgang. Als die Tür nicht so aufschwingt, wie er will, dreht er sich noch einmal um und schaut in niemandes Augen. Auch Irmintraut hat genug von ihrer Zufallsbekanntschaft und belässt ihren Blick bei Joseph. „Da komm ich wegen Körperverletzung mit Genick für die Scheiße alte Fotze!“ brüllt der weichende Trinker, winkt ab und schafft es nun doch, das Draußen zu betreten.

Irmintraut benutzt ihn schnell noch ein letztes Mal, um sich aus der Nähe des immer noch nicht zurückgelehnten Spucke-Joseph und seines zunehmend vertraulichen Blickes zu lösen: Ihre Augen wandern wiederum, diesmal wissend, in weite Fernen. Dann seufzt sie dem Säufer hinterher: „Habt Ihr gesehen? Da war so unendlich viel Sehnsucht in seinem Blick.“

Die anderen verstehen. Und sie nicken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert