Die Geschichte von der Frau, die ihr Nein sehen wollte. (3)
Trotzdem ist Lina ein ganz normales Mädchen. Eher durchschnittlich.
Also vielleicht ein wenig überdurchschnittlich durchschnittlich. Wie ist Lina?
In etwa so: Nein, Lina trägt keine runde Brille. Nein, ihr Gesicht wird nicht von einer so genannten Stirn überwölbt, oder von einem nie ganz auswachsenden, viel zu großen Säuglingsschädel. Nein, sie befremdet sich und andere auch nicht mit frühen Tics, Marotten oder abwesenden Gesichtszügen. Ebenso wenig zeigt sie putzige Fehlstellungen der Zähne, Pigmentfehler in den Pupillen, auch keinen frühschiefen Silberblick oder Anzeichen von Sozialferne.
Obwohl man das vielleicht ganz gerne sähe bei ihr. Aber sie tut einen nicht den Gefallen. Sie entwickelt keine frühen Schrullen, besucht keine abgelegenen Lieblingsverstecke und auch keine „Phantasie anregenden“ Dachböden mit alten Koffern, Büchern oder Truhen aus Großvaters Zeiten. Das hat sie alles nicht nötig.
Sie ist auch nicht unsportlich, wie man vielleicht erwarten würde. Nein, Lina erreicht bei allen Übungen, ob beim Hüftaufschwung an der kalten Reckstange, bei der Ansprungrolle auf der müffelnden Gummimatte oder auf der 400 m – Stadionrunde ein „Gut“.
Nein, sie ist durchaus kein sonderbares Kind.
Zugegeben, Lina hat eine Schulklasse übersprungen. Und dann noch eine. Aber auch das war völlig normal bei Ihr. Ein ganz unauffälliges Verhalten, nichts Besonderes eben. Niemand hätte etwas anderes erwartet.
Sie ist eben ein überdurchschnittlich durchschnittliches Mädchen. Wenn Sie eine besondere Begabung hat, die noch stärker ausgeprägt scheint, als die Begabung, alle Neins sehen zu können, sofern sie es will, dann die Begabung, dabei völlig normal, durchschnittlich und unauffällig zu wirken. Andererseits ist Lina aber auch wieder nicht dermaßen durchschnittlich, dass man annehmen könnte, sie sei unauffällig. Nein, ihre Durchschnittlichkeit ist vielmehr so fein ausgeprägt, dass sie eben nicht auffällt. Ihre Durchschnittlichkeit fällt nicht auf. Lina dagegen schon. Niemand, der sie sieht, käme auf die Idee zu sagen: Die ist aber durchschnittlich. Ihre Durchschnittlichkeit ist eben mit kleinen Auffälligkeiten getarnt, die sie gerade so individuell erscheinen lassen, dass dann wieder gesagt werden kann:
Lina ist nicht unnormal durchschnittlich, sondern bleibt ein ganz normales Mädchen, das lediglich zwei Klassen übersprungen hat. Ein Mädchen mit ganz normalen Auffälligkeiten.
Und deshalb verguckt sie sich auch mit 13 Jahren, wie jedes normale Mädchen, in einen älteren Jungen aus eben dieser Klasse, in die sie hineingesprungen ist. Dieser Junge ist aber nicht zwei Jahre älter als sie, wie sie zunächst rein rechnerisch vermutet hatte, sondern drei Jahre, weil dieser Junge eben noch einmal ein Jahre älter ist, als die anderen Jungs in dieser Klasse. Ein Sitzenbleiber.
Warum, weiß sie nicht.
Sie steckt ihm Zettel zu, auf denen nichts geschrieben steht.
Sie sieht ihn an, aber sie lächelt nicht.
Er schaut zurück und hält die Mundwinkel gerade.
Dann lächelt sie doch.
Und er dreht sich wieder nach vorn.
Sie sieht seinen Rücken, seinen Kopf. Von hinten.
Oder leicht von der Seite, wenn er versucht, von seinem Banknachbarn abzuschreiben.
Verguckt. Nicht: Verliebt. Das wäre zu früh. Verguckt?
Er heißt Paul.
Er hat eine Clique, an die sie nicht herankommt.
Selten trifft sie Ihn allein.
Sie ist auch nicht die Einzige in der Klasse, die ihn einmal allein treffen möchte.
Ein einziges Mal gelingt es ihr. Auf dem Weg zum Schulschwimmen.
Sie redet.
Er murmelt.
Nach den nächsten Sommerferien ist er nicht mehr da.
Weggezogen – so heißt es.
Sie kann nicht sehen, wie er auf seinem Platz sitzt.
Wo er einmal saß, sitzt jetzt ein Anderer.
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