Zwei Jahre hat es gedauert, bis ich mich zu der Entscheidung durchgerungen habe. Kein Wunder, wenn man mich vorher gehört hat: Ich eine Schönheitsoperation? Hahaha!
Und dann wurde Paula Radcliffe Weltmeisterin. Vor zwei Jahren. Im Marathon. Seitdem gehen mir die Bilder nicht aus dem Kopf. Wie die Leute sie angefeuert haben. Und Catherine Ndereba eben nicht.
Zwei Jahre habe ich überlegt. Am Wochenende war die Operation. Danke, es geht mir gut. Seit heute bin ich wieder daheim. Und die neuen Schweißdrüsen funktionieren auch schon.
Ich habe nun doppelt so viele Schweißdrüsen wie Du. Wenn wir beide jetzt das Gleiche tun, dann sieht es bei mir so aus, als müsste ich mich doppelt so anstrengen.
Hast Du Paula Radcliffe schon einmal laufen sehen? Sie läuft unter Qualen. Und trotz der Schmerzen kann sie nicht anhalten, weil sie sowieso und durch eigene Schuld schon viel zu spät kommt. Der Kopf wackelt hin und her, der Mund steht offen, das Gesicht verrät Angst.
Wie damals Dustin Hoffmann in dem Scheidungsfilm Kramer gegen Kramer: Als Herr Kramer rennt er in Todesangst um seinen kleinen Jungen, den er in den Armen trägt, zum nächsten Krankenhaus. Weil er sich denkt: Mit Krankenwagen wär das nix besonderes. Aber wenn ich laufe – und die Scheidungsrichterin sieht den Film – dann kriege ich das Sorgerecht!
Paula Radcliffe läuft gehetzt, und sie muss sich mit jedem Schritt gewaltsam von der Erde abstoßen, die sie festhält. Bei jedem Schritt sieht es so aus, als würde sie den nächsten nicht schaffen – eine Angst, die nicht unberechtigt ist. Bei der letzten Olympiade trat sie ebenfalls als Favoritin an, lief mit der gleichen Qual und brach irgendwo nach Kilometer 30 und 40 zusammen. Zwei Touristinnen mussten sie zum Arzt bringen. Wenn sie also gewinnt, dann tut sie es trotz der Schmerzen.
Ich muß kurz absetzen, weil mich allein die Erinnerung so anstrengt und mir der Schweiß über die Stirn läuft. Macht nichts. Ich tue es gerne.
Alle fiebern mit Paula Radcliffe.
Niemand fieberte mit Catherine Ndereba, ihrer größten Konkurrentin. Catherine Ndereba läuft auch noch den 40. Kilometer mit einer Leichtigkeit, als würde sie einem geliebten Menschen entgegentänzeln. Ihr Laufen ist ein schwebendes Verfahren. Catherine Nderebas Schritte sind freundschaftliche Stupser an Mutter Erdes Schulter. Sie hat eine leichte Übereinkunft mit der Welt: wenn die sie nicht über die Maßen mit Gravitation belästigt, dann hinterläßt Catherine auch keine hässlichen Fußstapfen.
Sie läuft, weil es ihr so gefällt.
Catherine Ndereba möchte gerne als Erste ins Ziel kommen. Paul Radcliffe krepiert, wenn sie nicht als Erste ins Ziel kommt.
Mit Paula sein heißt mit Paula leiden. Mit Paula schwitzen. Den dornigen Erlösungsweg Schritt für Schritt körperlich nachempfinden. Frau Sisyphos hat ihren Stein als erste durchs Ziel gerollt. Bis zum nächsten Wettkampf. Catherine hat eine selige Leichtigkeit. Paula hat unsere Schmerzen.
Danke, dass Ihr mir bis hierhin gefolgt seid. Wir sind im Ziel. Ich bin klatschnass. Kein anderer Schreiber schreibt unter solchen Anstrengungen. Ich schaffe das nur mit Eurer Unterstützung. Bitte helft mir auch beim nächsten Text wieder. Sonst schaffe ich es nicht.
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