TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Natur der Technik 15

Es war nicht ungewöhnlich, dass ich in der Abenddämmerung auf der Autobahn A6 kurz vor Kaiserslautern lang ausgestreckt auf dem Mittelstreifen lag, während aus beiden Richtungen die Autos zwischen Mannheim und Saarbrücken mich in ihren zähfließenden Verkehr einbetteten. Ich wunderte mich nur darüber, dass ich bis auf das ferne Klicken eines Metronoms nichts weiter hörte. Die Scheinwerfer bewegten sich stumm an meinen beiden Ohren vorbei und streiften von gelb nach rot über meine Wangen. Dabei ragte mein Blick als Baustellenschild aus meinem Gesicht starr in den dunkelblauen Himmel hinein. Blinzeln konnte ich offenbar nicht.
Dann setzte das Metronom aus. Es blieb dunkel. Ich hörte das Zirpsignal des Verkehrsfunks aus dem Radio, das vor dem Bett stand, dort, wo sich nun auch meine Zehenspitzen bewegten, vor den Umrissen einer Gitarre, die an der Wand lehnte.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und fragte Ulrike, die neben mir lag:
„Hast Du das Radio angemacht?“
Auch sie lag auf dem Rücken, nackt, ohne Decke, wie eine frisch geformte Marzipanfigur. Die Figur hob langsam die Hand und setzte sie zwanzig Zentimeter weiter links zwischen meinen Beinen wieder ab.
„Nachmittags ist es am schönsten.“ – sagte sie. – „Ich bin ziemlich verklebt.“
„Und ich habe gerade auf der Autobahn gelegen.“
„Mit mir?“
„Ich weiß es nicht genau.“
Wir haben unsere Lieblingsplätze, Ulrike und ich. Zu ihnen gehört auch ihr Zimmer am Nachmittag.
Zwischen Ulrike und mir hat sich etwas ergeben. Sie ist gelegentlich frigide und ich bin gelegentlich impotent, und weil das so gut passte, entwickelte sich daraus ein Sexualleben, das wir uns beide eigentlich nicht zugetraut hätten.

Ein anderer Lieblingsplatz von uns ist die „Notbremse“. Eine Heavy Metal Kneipe, in der es keine Heavy Metal Fans gibt, außer einem älteren Herrn, der hinter dem Tresen steht. Und da ist es auch nicht irgendein Platz, sondern der Platz vor einem Schränkchen im Gelsenkirchener Barock, auf dessen Ablage eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Pappe liegt, unter einem Haufen hölzerner Schachfiguren, die aussehen, als hätte jemand bei einer Notamputation 1945 mangels Morphium auf ihnen herum gebissen.
Wir amüsieren uns regelmäßig über dieses Stillleben, so als würden wir es jedes Mal zum ersten Mal entdecken.
Vielleicht aber treffen wir uns auch immer mal wieder gern in der Notbremse, weil wir uns hier kennen gelernt haben.
Dass heißt, wie haben uns natürlich nicht in der Notbremse kennen gelernt, sondern im Internet auf einer Partnerplattform.
Dort hatte sie schon ein paar „Nicks abgeklappert“ gehabt, und ich auch, und irgendwie waren wir dann damals aneinander hängen geblieben. Mir war die Art sympathisch gewesen, wie sie herumironisierte. Jeder, der etwas auf sich hielt, ironisierte zunächst ein wenig herum an dem Fakt, dass man „nun auch hier bei diesen ganzen Idioten“ gelandet war (wobei man regelmäßig in die Verlegenheit kam, die Anführungsstriche der Anführungsstriche in Anführungsstriche zu setzten. Schließlich merkte man aber, wie sinnlos diese Ironie war, da man ja erstens selbst zu den Idioten gehörte und man zweitens einsah, dass die Masse der Leute, den Fotos auf dieser Plattform nach zu urteilen, unmöglich alles Idioten sein konnten. Oder doch?)
Ulrike jedenfalls hatte mich aber mit einer Ironie geködert, die ich als intelligent empfand, wenigstens aber als interessant.
„Endlich mal jemand, der hier keine feste Beziehung sucht.“ – schrieb sie mir ungefragt in mein Postfach. Vielleicht denke ich ja manchmal zu sehr um die Ecke, aber für mich las sich das damals ironisch, intelligent ironisch, was mir gefallen hatte. Denn wir hatten ja vorher nicht eine Nachricht miteinander gewechselt und mein Profil war zu diesem Zeitpunkt ziemlich nichts sagend gehalten. Dabei war mir auch aufgefallen, dass sie auf ironische Zwinkersmileys verzichtete. (Später erfuhr ich von ihr, dass Zwinkersmileys einfach out of Order waren. Und auch dieser Hinweis war nicht ironisch, sondern ernst gemeint gewesen.)
Dann hatte sie den unironischen Vorschlag gemacht, eine Liste zu schreiben, auf der stehen sollte, was wir auf gar keinen Fall zusammen machen dürften, selbst wenn wir uns, die wir ja keine feste Beziehung wünschten, sympathisch fänden. Diese Liste sollte nach dem Ausschlussverfahren gemeinsame Restmengen ermitteln. Auf Ihrer Ausschlussliste stand damals:

1. Auf eine Anti-Amerika-Demonstration gehen.
2. Sich gegenseitig Bücher schenken.
3. Gemeinsam Filme angucken, die nicht aus Hollywood kommen.
4. Rucksackurlaub.
5. Die Frage nach der Religion aufwerfen.
6. Wendungen benutzen wie „Poesie des Alltags.“ Komma
„Reiz der kleinen Dinge“ Komma „Magie des Banalen“ Komma „unprätentiös“ Komma „menschlich“ sowie „das Ungesagte hinter dem Offensichtlichen“

Das war es schon gewesen bei ihr. Andererseits: War das erwachsen, was wir da machten? Was sie da machte? Listen aufstellen? Um sie ein bisschen aufzuziehen, hatte ich ihr geschrieben, dass ich das eigentlich nicht von ihr erwartet hätte, sie, die keine Zwinkersmileys benutzte, käme nun mit Listen. Immerhin waren wir beide schon über 30, und ich erinnerte sie und mich daran, dass solche Listen weit vor dem 11. September (Pardon) durch ihren Zenit gegangen waren; außerdem müsse man doch dem Leben in seinem spontanen Verlauf eine Chance geben und dürfe es nicht mit einem Korsett vorgefasster Zulassungs – oder Ausschlusskriterien bedrängen usw…
Natürlich hatte sie mir daraufhin in der Antwortmail mein „Leben in seinem spontanen Verlauf“ wie eine müffelnde Socke unter die Nase gehalten. Es war mir nichts weiter übrig geblieben, als zu erwidern, dass ich das selbstverständlich ironisch gemeint hätte, was sie offenbar nicht verstanden habe.
Das war natürlich gelogen, und kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, fürchtete ich, dass sie mir antworten könnte, wir seien längst in einem Zeitalter des neuen Ernstes, der Ehrlichkeit, der Authentizität und des würdigen Pathos eingetreten, weshalb ich mich nun wiederum als Ewiggestrigen der ironischen Spät-und Spaßneunziger entblößt hätte.
Man wurde nicht jünger. Das stand fest.
(Fortsetzung nach der Werbung.)
Die Sache mit der Liste ist seit damals zwischen Ulrike und mir nur noch selten direkt zur Sprache gekommen. Dabei sind wir jetzt schon seit über 3 Jahren zusammen. Was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass wir eigentlich keine feste Beziehung wollten. Aber auch das war ja zunächst nur eine ironische (?) Unterstellung von ihr gewesen. Vielleicht ein Spiel, eine Masche. So hatte ich es damals jedenfalls verstanden gehabt. Aber ich hatte ihr darin auch nie direkt widersprochen. Wenn wir manchmal in der Notbremse sitzen, reden wir über alles Mögliche, nur nicht über unsere Anfänge. Es gibt ja auch keinen Grund zurückzuschauen. Warum ich in letzter Zeit trotzdem immer mal wieder daran denke, weiß ich auch nicht genau.
Ulrike hatte damals nur geschrieben, dass sie neugierig auf meine Ausschlussliste sei und war dann mit freundlichen Grüßen verblieben.
Das machte es nun nicht einfach für mich, zumal ich, wie schon erwähnt, überhaupt kein Listentyp war. Außerdem war ich jetzt beeinflusst, da sie vorgelegt hatte.
Auch blieben wir uns zu diesem Zeitpunkt noch ganz unsichtbar. Unseren Profilen waren keine Bilder angehängt und geschickt hatten wir uns auch noch keins. In ihrem Profil war zwar „gutaussehend“ eingetragen, nur – was sagte mir das damals?
Wenigstens fand ich es ungewöhnlich genug, dass eine „gutaussehende“ Frau mit so einer Liste gekommen war, und es genügte, für den Moment und für eine gewisse Neugier. Ich musste natürlich damit rechnen, dass sie eine gestörte Persönlichkeit war. Aber wer war das nicht.

Ulrike. Ich sehe, wie sie am Tisch sitzt und ein Asia-Stäbchen zwischen Nase und Oberlippe einklemmt. Sie bringt sich und mich zum Lachen.

Ich hatte mich mit Ulrikes Liste damals notgedrungen beschäftigt. Punkt 1 schloss den gemeinsamen Besuch einer Anti-Amerika-Demonstration aus. Ich überlegte, ob oder warum mir das irgendetwas sagen sollte. Mich hatte das Thema zu diesem Zeitpunkt nicht besonders interessiert. Es gab ja nicht mehr so viele Anti-Amerika-Demonstrationen bei uns. Und die es gegeben hatte, waren ja eher Antikriegs- oder Anti-Bush-Demonstrationen. Tatsächlich hatte ich mich selbst auch noch nie an einer beteiligt, auch nicht damals, als sie gerade im Trend lagen. Ein guter Grund, sich auf eine Anti-Bush-Demonstration zu begeben, war vielleicht der, dass man auch dort eine Frau hätte kennen lernen können. Anstatt im Internet. Das hatte ich aber verpasst gehabt. Meine alte Beziehung war damals gerade in die Brüche gegangen. Und dann hätte man auch gegen den Irakkrieg sein müssen, was auf mich aber nicht zutraf. Ich gehörte damals zu den Menschen, die an Politik stark interessiert waren und den Irakkrieg deshalb befürworteten. Und einfach nur so mit einem Coffee-to-Go-Becher in der Hand mitzulaufen, halbherzig eine Pace-Flagge schwenkend, während ich nach interessanten Frauen Ausschau hielt, wäre mir zweideutig vorgekommen.
Warum Punkt 1 ganz oben auf Ulrikes Liste stand, blieb vielleicht Zufall, aber sonst mir völlig unerklärlich.
Punkt 2, die verbotenen Büchergeschenke, leuchteten mir damals ein. Wenn man sich mochte, schenkte man sich Kinderüberraschung, Gummitiere, Dessous oder in einem indischen Ramschladen erstandene Buddabilder mit Leuchtdioden. Entweder besaß man irgendwann gemeinsame Bücher oder aber – wie ein Kollege von mir es einmal ausdrückte: Sich Bücher zu schenken galt als sicheres Zeichen dafür, dass mit einer Beziehung etwas nicht stimmte.
Punkt 3 hatte mich länger beschäftigt. Was meinte Ulrike damit? Ich glaubte, ihre Aversion gegen so genannte Independentfilme nachvollziehen zu können. Filme, die nicht aus Hollywood kamen, sahen immer aus wie Filme, die nicht auch Hollywood kamen. Schon die Plakate kündigten Probleme an, die man entweder selbst schon kannte oder aber nicht kennen wollte. Zudem konnten sich allzu realistische, allzu problematische, aber auch allzu poetische Filme kannibalisch auf die eigene vitale Substanz auswirken, wie ich es bei einem guten Freund erlebt hatte, Michael, der besonders anfällig gewesen war. Vor Zeiten ein exzessiver Programmkino-und Matineebesucher. Bei Michael hatte es eine Zeit gegeben, in der er, wie er es ausdrückte, „seinem Leben verloren war“. Er hatte so viele Antonioni-, Ingmar Bergmann- und Tarkowskifilme gesehen gehabt, aber auch alles von Godard, oder Greeneway oder Lars von Trier, bis er schließlich sein eigenes Leben nicht mehr empfand. Nicht mehr als einmalig, nicht mehr als Original, sondern nur noch als schlecht nachgemachten Sampler all dieser Versionen von Lebenserzählung. Schließlich hätten ihm die Dogmafilme den Rest gegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch die Hoffnung gehabt, dass alles Schlechtbeleuchtete und Ungeschminkte, alles Verwackelte, Verschwitzte und Großporige ein sicheres Anzeichen dafür war, dass er sich in seinem eigenen Leben befand. Aber mit dem um sich greifenden Realismus der verwackelten Handkamera war ihm dass nun genommen. Die Grenze war bei ihm erreicht, als er nur noch den eigenen Tod als „echtes Primärerlebnis“ anerkennen konnte. Nachdem er, wie er sich verzweifelt ausgedrückt hatte, „sich nicht einmal mehr in der Lage fühlte, seine Frau zu betrügen, ohne dabei an eine bestimmte Szene aus einem preisgekrönten Film der letzten Berlinale zu denken“, versuchte er es noch mit Bungeejumping, Extrembergsteigen und zwei Abenteueraufenthalten in Ruanda und im Irak. Aber nichts hatte ihm mehr helfen können. Was ihn einzig daran hinderte, sich umzubringen, war die Tatsache, dass ihm keine eigene Art des Abgangs mehr einfiel. Er hatte schon so viele verschiedene Selbstmorde mit den dazugehörigen verwickelten Konflikten, verrückten Geschichten und raffinierten Motiven im Film gesehen gehabt, dass er diesen nichts eigenes mehr hinzuzufügen konnte. Da er sein Leben verloren hatte, konnte er es nicht mehr beenden. Sich von radikalen Entführern zerhacken zu lassen, wäre für Michael damals kein Tod gewesen, von dem er hätte sagen können, dass es eine originelle Erfindung gewesen wäre.
Beinahe zu spät hatte er sich dann aber doch Gott sei Dank in professionelle Behandlung begeben. Kurz bevor er sich freiwillig in eine geschlossene Abteilung einliefern ließ, sagte er traurig, dass nun auch Hollywood, die Werbung und sogar die Pornoindustrie damit beginnen würden, die Realität in Illusion zu verwandeln. Auch sie produzierten jetzt schlecht beleuchtet, verwackelt, ungeschminkt und grobkörnig. Er fürchte sich jetzt vor dem, was noch kommen konnte: dem Geruchskino. (Soviel ich weiß, hatte Michael sich dort zu therapeutischen Zwecken von einem Dokumentarfilmer beobachten lassen, der einen Dokumentarfilm über Insassen einer geschlossenen Abteilung machte. Es hat ihm geholfen. Die Tatsache, dass er selbst Objekt einer Kamera wurde, gab ihm das Gefühl zurück, ein eigenes Leben zu haben.)

Ulrike. Ich sehe, wie sie an dem Pedal ihres Fahrrads dreht. Es steht verkehrt herum, auf dem Sattel. Der Freilauf surrt. Die Speichen glitzern in der Sonne. Ihr Gesicht strahlt.

Punkt 4. Laut Liste mochte Ulrike keine Rucksackurlaube. Jedenfalls keine gemeinsamen. War mir das sympathisch gewesen? Ich weiß es nicht. Ich hatte und habe nichts gegen Individualtourismus und Rucksackurlaube einzuwenden. Das einzige, wovor mir immer wieder graut, sind die Berichte danach. Auch meine eigenen. Obwohl wir alle in verschiedenen Weltgegenden unterwegs sind und verschiedenes erleben, ähneln sich unsere Erzählungen. Zurückgekehrt berichten wir von „skurilen Typen“, die wir getroffen hätten, „unerwarteten“ oder „unfreiwilligen“ Abstechern oder Aufenthalten, Wahnsinnslandschaften, Magenverstimmungen „nichtvertrauenserweckenden“ Schiffen, Flugzeugen oder Reisebussen, handlesenden Greisinnen, „irre ausdrucksvollen“ Gesichtern, Sonnenbränden, Durststrecken, Kamelgegenfrauentauschangebote, Saufgelagen auf Fährüberfahrten, „ganz sauberen“ Unterkünften, Mahlzeiten, die „total lecker“ waren, obwohl sie ganz „merkwürdig“ aussahen. Und irgendwann sagen wir alle: „Unglaublich, wie gastfreundlich, herzlich, lebensfroh, liebenswert die Leute da und da sind, wo sie doch so arm seien usw…
Wenn Ulrike Rucksackurlaube nicht mochte, konnte mir das nur Recht sein.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Noch bevor ich Ulrike kennen gelernt hatte, war ich allerdings auf einer Reise, an die ich mich ebenso oft wie ungern erinnere.
Ich hatte diese Reise genau eben mit meinem problembeladenen Kumpel Michael eingefädelt gehabt. Er war damals schon in seiner schweren Krise befangen und auf eine ganz neue „endgültige“ Idee gekommen. Er hatte mir anvertraut, dass er nun einen Selbstmord plane, den er noch nie in einem Film gesehen hatte und den er deshalb auszuführen gedenke, damit er endlich sein eigenes Leben bekäme. (Sein Irakaufenthalt in dieser Angelegenheit war gescheitert. Er wurde damals zwar entführt, und alles sah auch schon sehr endgültig aus, bis sich herausstellte, dass die Entführer keiner tödlichen Splittergruppe angehörten, sondern einer Familie, die auf gewaltsame Art einen Bräutigam für eine noch unverheiratete Tochter beschaffen wollten, nachdem kurz nacheinander deren erster Bräutigam bei einer Schießerei und auch dessen Nachfolger bei einem Sprengstoffanschlag getötet worden waren. Ein herum irrender Deutscher, auf den man unkompliziert zugreifen konnte, ohne irgendwelche Angehörigen zu fragen, schien dieser Familie nun, die einigermaßen entnervt war, als eine obschon nicht einwandfreie aber doch pragmatische Lösung, die für eine Ehe der Tochter mehr Zukunft versprach, vielleicht sogar in Deutschland, denn Michael hatte mit seiner Depression auf diese Familie offenbar einen vielversprechend unaufgeregten und wenig fanatisierten Eindruck gemacht.
Ich hatte die Einzelheiten von Michaels Schwester erfahren, die davon Kenntnis bekam, weil die irakische Entführerfamilie auch noch den Schneid aufbrachte, sich über Michaels Flucht sehr ausführlich beim Auswärtigen Amt zu beschweren, das dann einigermaßen ratlos bei den Angehörigen nachfragte. Michael selbst, der bald wieder zu Hause angekommen war, hatte immer behauptet, er sei „unverrichteter Dinge“ aus dem Irak zurückgekehrt, nachdem ihm klar geworden sei, dass seine Idee „jeder Originalität entbehrte“. In Wirklichkeit aber war er in einem unbewachten Moment vor der anstehenden Zwangsverheiratung geflohen. Nach dieser Geschichte war er lange Zeit sehr depressiv gewesen.)

Ulrike. Sie sitzt wie eine Kutscherin auf einem Stuhl. Leicht vorgebeugt. Die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. Sie schaut mich an. Schläfrig. Ihre Lippen sind leicht geöffnet.

Ich hatte Michael damals gefragt, warum er sich nicht auf diese Sache im Irak eingelassen habe, dann hätte er doch genau das bekommen, wonach er immer suchte. Aber er hatte nur resigniert abgewunken. Nannte mir irgendeinen Film von einem Independent-Regisseur, der beinahe genau so eine Story schon erfunden hatte, dessen Titel und Namen ich nicht behalten habe.
Kurz darauf schien sich aber sein Gemüt aufgehellt zu haben. Er erzählte mir von seiner „neuen Idee“. Er hatte gehört, dass im Bermudadreieck vor Puerto Rico manchmal aus der Tiefsee große Methanblasen aufstiegen, die den natürlichen Auftrieb von Schiffen dermaßen beeinträchtigten, dass sie schlagartig im Meer verschwanden. Er wollte nun eine Reise in dieses Gebiet unternehmen und dort „sein letztes Schiff“ chartern.
Eine Art finaler Rucksackurlaub also, sein ultimativer Individualtrip. „Das ist ja nun wohl die abgegriffenste Idee dieser Welt.!“ – wollte ich ihn anbrüllen. Aber ich hatte es mir anders überlegt. Bei Michael überraschte mich nichts mehr. Mir schien dieser Einfall dermaßen absurd und idiotisch, dass ich beeindruckt mit dem Kopf nickte und vorschlug, ihn zu begleiten. Ich hatte mir vorgenommen, ihn auf dieser Reise freundschaftlich zusammenzustauchen, ihm die Leviten zu lesen, ihm zu zeigen, wie interessant das Leben sei, sein Leben und die Welt, wie umwerfend, verrückt, bunt, überraschend und voller Wendungen. Ich hatte ihn von seiner blöden Obsession abbringen wollen, und wenn mir das nicht gelang, dann konnte ich ihn immer noch in Hinblick auf seinen Plan desillusionieren, indem ich ihn rechtzeitig davon überzeugte, dass das Versinken in einer Methanblase, die aus der Tiefsee vor Puerto Rico aufstieg, ganz und gar nicht originell, sondern höchstens eine angestrengte und an den Algen herbeigezogene Variante des guten alten Ertrinkens war, einer Todesart, die gewisse hysterische Fräuleins bevorzugten, die man längst aus irgendwelchen damals verbotenen aber trotzdem mittelmäßigen Defa-Filmen kannte und die aus verschmähter Liebe oder sozialer Verwahrlosung „ins Wasser gingen.“ Wasser, das meistens in seichten Brandenburger Seen dümpelte. Ich war davon überzeugt gewesen, dass er sich einen solchen schlecht gemachten Sampler für seinen eigenen Abgang unmöglich würde antun wollen. Auch nicht vor Puerto Rico.
Meine leichtfertigen Pläne und Annahmen sollten noch Gelegenheit bekommen, sich auf äußerst mühsame Art in der Realität zu bewähren.

Mir fällt ein, dass ich auch Ulrike diese Geschichte noch gar nicht in allen Einzelheiten erzählt habe. Ulrike, die auch eine gute Zuhörerin ist. Ulrike, die keine Rucksackurlaube mag. Ulrike, die sich beim Küssen in ein Weingummi verwandelt. Ulrike, die neben dem Schränkchen in der Notbremse auf mich wartet. Ich muss mich beeilen.

(Fortsetzung nach der Werbung.)
Ulrike und ich hatten uns damals gegenseitig keine Bilder geschickt. Wir wollten es auf ein Überraschungstreffen ankommen lassen. Vielleicht zeigte ja diese unausgesprochene Verabredung letztlich doch schon ein Bild, dass wir uns gegenseitig schickten, wenn auch ein unsichtbares. Das mag sich vielleicht riskant anhören, aber da diese Art des Kontakts auf einer Internetplattform, eigentlich müsste man es ja Verkupplung nennen, es von vorn herein auf eine gewisse Rauschunterdrückung oder Risikominimierung anlegt, wollten wir uns diesen kleinen Kick, diesen kleinen Luxus von Überraschung oder auch Enttäuschung oder sogar herber Enttäuschung gönnen. Und um die Möglichkeit von Enttäuschung und Überraschung noch zu steigern, hatten wir uns auch nicht an den Rat gehalten, sich vor dem ersten Treffen möglichst wenig schriftlich zu verbreiten, sondern wir hatten uns im Gegenteil eine Weile geschrieben, so als wollten wir es unbedingt wissen, als wollten wir eben mal erforschen, wie groß der Unterschied zwischen einem Gesicht und einem Gedanken, einem Körper und einem Satz, einem Geruch und einem Ausdruck sein konnte. Aber um ehrlich zu sein, hatten wir das alles so nicht direkt verabredet. Es hatte sich so ergeben. Nur war es uns ab einem bestimmten Punkt klar geworden, als wir bemerkten, dass wir uns „ja immer noch nicht gesehen haben.“ Und dann hatten wir entschieden, es bis zum ersten Treffen dabei zu belassen.
Ulrike hat mir verraten, warum ich Ihr damals unbekannterweise sympathisch gewesen war. Ich hatte in meinem Feld Beruf/Tätigkeit: „Plüschgrill“ eingetragen. Was eher eine Verlegenheit von mir gewesen war. Ein Wort, das ich aus Schusseligkeit dort stehen gelassen hatte. Ich wollte meine eigentliche Tätigkeit nicht so genau beschreiben, oder vielmehr: ich konnte es nicht. Ich war beim Ausfüllen dieses Feldes ins Grübeln geraten und hatte dann bemerkt, dass mir die Bezeichnung Produktmanager einfach zu allgemein klang. Andererseits war mir der Eintrag meines Berufes schon auch wichtig. Beeinflusste es eine Partnerfindung nicht auch, welcher Tätigkeit er oder sie nachging? Vielleicht hatte ich das damals überschätzt gehabt. Ich wollte mich aber auch nicht irgendwie interessanter machen als ich bin. Insofern war mir der Plüschgrill in dem Tätigkeitsfeld hinterher peinlich. Im Nachhinein bewerte ich es als kleines Wunder, dass Ulrike ausgerechnet an dieser Nachlässigkeit hängen geblieben war. Denn mein Job kann wie jeder Job sehr hart sein und oft ziemlich dröge. Tatsächlich arbeite ich bei einer Katalogfirma, die Werbegeschenke als so genannte Verstärker an Firmen vertreibt. Firmen, die mit diesen Werbegeschenken Gewinnspiele ausstatten, Kunden binden oder Neugeschäft generieren oder einfach irgendwelchen High-Potentials eine Freude machen wollten. In dieser Katalogfirma bin ich Produktmanager. Der Plüschgrill war damals mein Aufgabengebiet. Hochbezahlte Scouts hatten mittels einer noch höher bezahlten Studie herausgefunden, dass Grillen oder Barbecue im amerikanischen Stil ein zielgruppenübergreifender Attention-maker war, dessen Potential man noch viel stärker ausschöpfen konnte. Wir hatten schon verschiedene Grills und Grillsets im Angebot. Das reichte von niederpreisigen „Bayburnern“, Sets, die nur eine durchlöcherte Alufolie, ein Tütchen Holzkohle und eine unernste Blechzange enthielten, bis zur hochpreisigen Premiumklasse „Hector“, ein erdgaskompatibles Propan-Butan-Aggregat mit kalt gezogener und gesockelter Multifunktions-Kupferschütte, Wok-Kehlung, präzisionsgebohrter Dünndüsenbeflammung und einem exklusivem Besteckset, handgeschmiedet aus so genanntem Wehr-Stahl. (Im Katalog war nie erläutert, was „Wehr-Stahl“ bedeutete. In der Firma sprach aber mal ein Kollege davon, dass dieser Stahl aus einer Zeit stammte „als die Gummistiefel noch aus Leder waren.“)
Der Trend zum Plüsch war schon seit Jahren ungebrochen. In unserem Katalog gab es eigentlich keine Gegenstände, die man nicht auch in Plüsch oder Schaumgummi haben konnte. Diese Dinge waren einfach gefragt. Irgendein Plüschvirus schien aus irgendeinem geheimen Plüschlaborlabor Mitte der Neunziger Jahre ausgebrochen zu sein und sich in den Plüschköpfen der Leute festgesetzt zu haben. Ein Virus, der bewirkte, dass es viele Menschen schlagartig sehr wichtig fanden, sich Plüschuhren, Plüschtomaten, Plüsch-Geldstücke, Plüschangelhaken, Plüsch-Steigbügel, Schaumgummiwäscheklammern, Plüschtelefone, Plüschkaffebohnen, Plüschradios etc… zu schenken, zu besorgen, an den Kopf zu werfen oder in ihren Büros damit Fußball zu spielen. Und nun kam eben auch der Plüschgrill.
Unserer Firma konnte das Recht sein. Es war eine glatte Verdoppelung des Geschäfts.
Ein Geschäft, das dazu führte, dass erwachsene Männer und Frauen, die nach ihrem ernsthaften Studium relativ ernsthafte Berufe angestrebt hatten, sich plötzlich in drei- bis sechsstündigen Meetings wieder fanden, in denen erwachsenen Frauen und Männer mit Nachtcreme-Gesichtern bei ernsthaften Diagrammen, penibel gezeichneten Flipcharts und genauso vollem Terminkalender ein Produktportfolio managen mussten, das immer mehr einem explodierten Spielzeugladen glich.
Auch über diese Dinge habe ich dank Ulrike inzwischen länger nachgedacht. Denn sie haben ja mit unserem Kontakt etwas zu tun, weshalb ich sie etwas ausführlicher darstelle.
Was mir damals, kurz bevor ich Ulrike kennen lernte, zu schaffen machte, war nicht der Plüschgrill an sich, den ich „auf meinem Tisch“ hatte, sondern eine Art mentale Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Knochenjob eines 16 Stunden – Tags und dem Ziel, dem diese Anstrengung diente – einer Verdoppelung der Welt in Plüsch.
Da es sich um ein ernsthaftes Business handelte, mit dem eine Menge Geld zu verdienen war, konnten wir aber nicht mit Pappnasen zu Kundentreffen erscheinen oder die anstrengenden Meetings mit Papiertröten, Handpuppen oder dem gelegentlichen Ausblasen von Luftschlangen auflockern.
Nun weiß vielleicht jeder, dass ein berufsmäßiger Komiker einem sehr anstrengenden und ernsthaften Job nachgeht. Beruflich Qualitätshumor zu produzieren ist mindestens so anstrengend wie der Job einer Nachtschwester auf einer Intensivstation. Relativierend möchte ich aber auch sagen, dass ein Komiker sich seinen Job meistens ausgesucht hat, weil er dass eben gut kann oder sein Talent ihn dazu befähigt. Im Idealfall ist es sein Traumjob, genauso wie im Idealfall die Nachtschwester ihren Traumjob ausübt. In diesem Idealfall ist also die Arbeit weniger anstrengend, als es dem Außenstehenden erscheint, da sie durch Talent befördert gelegentlich auch Spaß macht und so Erfolgserlebnisse bringt.
In unserer Firma aber lag der Fall ganz anders. Die hier arbeiteten, wollten keine berufsmäßigen Komiker werden und waren es auch nicht, sondern es waren Marketingleute, Vertriebsexperten, Produktmanager oder Leute, die wussten, wie man einen Katalog mit zumeist brauchbaren Dingen ausstattete. Relativ normale Menschen, die auch einen relativ normalen Beruf nachgehen wollten. Und genau diese Leute, zu denen auch ich zählte, waren nun berufsmäßig Verteiler, Verhandler und Manager von komischen Dingen, zu denen ein erwachsener Mensch, wenn er kein Komiker war, absolut kein ernsthaftes Verhältnis aufbauen konnte. Da sie sich das aber nicht eingestanden oder eingestehen wollten, produzierten sie etwas, das in gewissen Situationen noch peinlicher auffiel als gar kein Humor, nämlich – ich würde es nicht unfreiwillige Komik nennen, aber eine Art milchigen Humor, eine milchige Komik.
Milchig komisch wirkte es zum Beispiel, wenn sich zwei Außendienstlerinnen in einem Meeting ernsthaft stritten über die Frage, ob man „Bunnyphone“ (das war ein Schaumgummihandy mit Hasenohren) für den unterpreisigen Bereich der Streuartikel mit ins Testportfolio aufnehmen sollte. Störend daran war nicht, dass sich hier zwei Frauen anzickten oder dass hinter dieser Zickerei irgendwelche karrierebetriebenen Egopropeller schnurrten. Ein gesundes Ego und ein Durchsetzungswille gilt ja durchaus in jedem Beruf als wünschenswert und vorteilhaft. Der für mich empfindliche Punkt war berührt, weil dieser Streit sich am Gegenstand eines Schaumgummitelefons mit Hasenohren erhitzte.
Ich bin damals empfänglich für solche Vorgänge geworden aus einem ganz einfachen Grund. Ich, der ich damals Single war, und deshalb vielleicht auch gerade meine Antennen für Frauen verlängerte, musste mir eingestehen, dass Frauen, die sich verbissen stritten wegen der Aufnahme eines Schaumgummitelefons mit Hasenohren in das Testportfolio für den unterpreisigen Bereich der Streuartikel, dass diese Frauen also für mich jede Erotik verloren, jede Anziehungskraft, jede Ausstrahlung, auch wenn sie noch so hübsch waren. Ich muss es so hart sagen: Sie hörten für mich auf, Frauen zu sein. (Diesen Effekt habe ich für mich mehrmals psychologisch überprüft, in dem ich mir vorstellte, dass Anna Galiena oder Claudia Cardinale oder Kate Moss oder Marlene Dietrich dort an Stelle der Außendienstlerinnen miteinander stritten. Das Ergebnis war das Selbe. Sie verloren jede Anziehungskraft.) Ganz anders übrigens hätte es sich dargestellt, wenn das Objekt jenes Streits ein ernstzunehmendes Produkt gewesen wäre, etwa die Steuereinheit für eine Lackiermaschine oder wenigstens ein echtes brauchbares Telefon. Frauen, die sich zu den Belangen eines Frequenzumrichters für Dosiermaschinen anzickten, wären für mich interessante und ernstzunehmende Frauen geblieben.
Selbst auf Betriebsfeiern, auf denen wir uns alle privat gaben und wo unser aller Resthumor nach ein paar Red Bull-Mumm-Sekt-Zündungen förmlich zu explodieren hatte, konnte ich mich gegenüber diesen Frauen von meinen dienstlichen Eindrücken nicht mehr befreien.
Ich möchte es einmal so sagen: die fortschreitende Verplüschung unseres Produktportfolios – oder noch anders ausgedrückt: Die Tatsache, dass sich unsere Firma zu großen Teilen schleichend in einen Scherzartikelvertrieb verwandelte, ohne dass die Belegschaft gleichermaßen durch echte und geübte Komiker ersetzt wurde, führte zu einem unmerklichen mentalen Abfließen seelischen Eigentums. Das, was ein Mensch normalerweise als sein unveräußerliches Eigentum in sich trägt, seine Grazie, seine Leichtigkeit, seine Verspieltheit, seine Ironie, sein Humor, auch eine gewisse Kindlichkeit, und noch der hölzernste Mensch besitzt etwas davon, ging nun über auf viele verschiedene Dinge; Dinge die handelbar, diversifizierbar und katalogisierbar wurden, von denen ein Mitarbeiter sich innerlich distanzieren musste, damit sie in einer Sphäre sich einlösten, mit der sie normalerweise (außer eben bei echten Komikern) nichts zu tun haben sollten: Die Sphäre des ernsthaften Geschäfts. In unserem Arbeitsalltag, in dem wir auf sehr ernsthafte Art von lauter unernsten Plüschkaffeebohnen, Hasenohrenplüschtelefonen oder aufblasbaren Wäscheklammern auf eine penetrant sinnvolle und geschäftlich bedeutungsvolle Art umstellt wurden, war es sehr schwer, so etwas wie einen eigenen Humor oder eine eigene Erotik zu behaupten oder zu entfalten. Denn wir alle waren keine Berufskomiker. Über was sollten wir noch lachen, wenn das, worüber man normalerweise lacht, als 11 Uhr-Termin zur Plüschwäscheklammer im Dienst-Kalender piept? In unserem Laden voller schaumgummiverplüschter Scherzartikel ging es deshalb humorloser und unerotischer zu als in irgendeinem gottverdammten Spanplattenpresswerk.
Da nun die Frauen in meiner unmittelbaren Umgebung durch die benannten Eros-abtötenden Effekte unseres Geschäftsfelds als potentielle Flirt- oder Lebenspartnerinnen ausfielen, wurde im Gegenzug auch meine Selbstgefühl als Mann und damit auch meine virile Ausstrahlung für die mich umgebenen Frauen sicher nicht gerade erhöht, als ich mich mit der materiellen und organisatorischen Genese eines Plüschgrills befassen musste. Während ich in unserem Großraumbüro in verstocktem Berliner Businessenglisch mit chinesischen Herstellern über Margenpreise und Lieferfristen des Plüschgrills und der dazugehörigen Plüschbratwürste im Brötchen (ha ha, die gab es auch dazu) telefonierte, sehnte ich mich nach dem Kompaktset der Premiumklasse zurück, Hector, dem Grill mit der präzisionsgebohrten Dünndüsenbeflammung und dem Edelhartbesteck, handgeschmiedet aus Wehrstahl, dem Stahl aus einer Zeit, als die Gummistiefel noch aus Leder waren.

So war also auch meine berufliche Umgebung, in der ich ja die meiste Zeit meines Lebens verbringe, einer Partnersuche nicht zuträglich. Einer der Gründe, warum ich dann dankbar auf das Internet ausgewichen bin.
Dass Ulrike dann ausgerechnet wegen dieses Plüschgrills in meinem ansonsten ziemlich nichts sagenden Profil mich kontaktierte, kann ich heute nur als Anomalie des Schicksals begreifen.

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Der 6. Punkt auf Ulrikes Liste war mir damals am unverständlichsten. Es war auch der Punkt, zu dem mir selbst kaum etwas einfiel. Er war sozusagen sehr exotisch und interessierte mich deshalb am stärksten. Schriftlich hatte sie sich dazu nicht weiter geäußert. Auf meine Fragen hatte sie mir nur geschrieben, Punkt 6 sei nur so eine Laune von ihr gewesen. Ich müsse ihn nicht so ernst nehmen. Erst später, nachdem wir uns real begegnet waren, kamen wir darauf noch einmal zurück. Ich erinnere mich daran noch gut. Ich war das dritte oder vierte Mal in ihrer Wohnung. Sie war gerade dabei, eine größere Zimmerpflanze umzutopfen, als sie irgendwie ausrutschte und hinfiel. Der Topf ging in Scherben und das Bäumchen kullerte mit samt seinem frei liegendem Wurzelgewölle halb unter einen Stuhl. „Ach“ – hörte ich sie zu mir ins Bad rufen, – „Ach lass mich liegen, ich habe noch einen weiten Weg vor mir und muss nun ein wenig ausruhen.“
Ich kam ziemlich eilig aus dem Bad und sah sie grinsend auf dem Rücken liegen, mit einer Kunststofftüte in der Hand, die auf einer nassen Stelle des Parketts gelegen hatte und auf der sie offenbar ausgerutscht war. „Ich spüre meine Beine nicht mehr. Das ist jetzt die Poesie des Alltags. Der Zauber des Banalen. Das Unprätentiöse. Der Reiz der kleinen Dinge. Das Unausgesprochene hinter dem Offensichtlichen.“
Da sie aber ihre Beine dabei munter bewegte, hatte ich keinen Grund, mir Sorgen zu machen. (Das war wieder einer dieser Momente, an denen ich manchmal dachte, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war. Aber wer war das schon.)
„Das musst Du mir sowieso mal erklären.“ sagte ich, hob das Bäumchen auf und legte es wieder hin.
„Ich würde jetzt gerne etwas trinken.“ – antwortete sie und blieb einfach auf dem Fußboden liegen, wie auf ihrem Bett.
Dann hatte ich mich dazugelegt und wir beobachteten die Stubenfliegenralley unter ihrer Deckenlampe. Nachdem ich sie noch einmal an die „Poesie des Alltags“ erinnert hatte, begann Ulrike zu erzählen.
Ihr Vater war in der DDR Professor für Geologie und Hochschuldozent, ihre Mutter Dolmetscherin. Sie erzählte, dass ihre Eltern so weit wie möglich versucht hatten, und soweit das zu DDR-Zeiten möglich war, sich von gesellschaftlichen oder politischen Momenten fernzuhalten. Dem Vater, offenbar ein einigermaßen brillianter Kopf in seinem Fach, war es gelungen, eine Partei-Mitgliedschaft zu vermeiden und die Mutter hatte sich in ihrer Position eine – wie Ulrike es nannte – Interpretationsprovinz geschaffen.
Ulrike hatte nach wie vor ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Es gab also kein Elterntrauma oder so etwas. Und beide waren auch sehr liebevoll. Trotzdem herrschte ihrer Meinung nach ein kleines aber elementares Missverstehen im Milieu ihrer im Grunde störungsfreien Kindheit. Obschon gesellschaftlich nicht engagiert, waren die Eltern nicht unpolitisch. Nur interpretierten sie das Politische offenbar auf eine andere Art. Ein Lieblingssatz der Mutter war zum Beispiel: „Die Kunst besteht im Weglassen.“ Oder eben auch: „Das Offensichtliche steckt im Ungesagten.“ Und auch der Vater sagte manchmal: „Es sind die Kleinigkeiten, die Freude machen.“ Oder: „Es ist oft das Unscheinbare, aus dem das Große zu uns spricht.“ Und immer mal wieder: „Das ist doch alles wieder sehr prätentiös.“– etwa wenn er irgendwelche offiziellen Verlautbarungen in der Zeitung las. Nun war es nicht so, dass ihre Eltern diese Sätze ständig wie Mantras vor sich hin gemurmelt hätten. Aber sie bestimmten wohl mal mehr mal weniger das Klima, in dem sie aufwuchs. Sie lagen sozusagen in der Luft.
Bis dahin hatte ich Ulrike zugehört. Dann fragte ich sie: „Na gut, okay, aber was ist dabei? Ich meine, deine Eltern haben vielleicht einen kleinen Tic ausgebildet, eine kleine Technik, um sich irgendwie zu schützen. Oder dich. Sie wollten Dir damit vielleicht ein bestimmtes, ein – pardon – unprätentiöses pädagogisches Zeichen geben. Aber es ist doch eigentliche nicht die schlechteste Haltung.“
Ulrike stimmte mir zu und meinte, das Ganze sei auch kein großes Drama. Ihre Eltern hätten sich insgesamt ganz gut gehalten. Gut herausgehalten. Und so hätte sie es bis vor ein paar Jahren auch ähnlich gesehen wie ich. Bis sie dann einmal zufällig auf einer Bahnfahrt in einer liegen gelassenen Zeitschrift auf einen Artikel gestoßen war über einen sehr berühmten Bildhauer. Dieser Bildhauer hatte sich offenbar jahrelang mit seinen Skulpturen beschäftigt, bis er es irgendwann fertig brachte, sie von Überlebensgröße auf eine Skulptur zu reduzieren, die nur noch die Größe eines Streichholzes hatte. Diese streichholzgroße Skulptur war sehr berühmt und wurde in dem Artikel besprochen und gefeiert. Aber in diesem Artikel schlug ihr plötzlich die Welt ihrer Eltern entgegen. Auch dort war die Rede von Reduktion, vom Weglassen und vom Wesentlichen und von der Größe des Kleinen. Ulrike sagte: „Während ich diesen Artikel über diese streichholzgroße Menschenskulptur las, fiel mir ein, wie ich meine Mutter einmal auf dem Arm genommen habe. Das war noch zu DDR-Zeiten. Meine Mutter kam nach Hause und schimpfte über irgendwelche Sachen, die sie beim Einkaufen nicht bekommen hatte, es war eine Hose oder irgend so etwas, irgendein leeres Regal in einem leeren DDR-Geschäft eben, und da habe ich sie dann veralbert und gesagt: Aber du sagst doch immer, die Kunst besteht im Weglassen. Das fand sie natürlich gar nicht komisch. Verstehst Du? Dieses ganze Gerede von der Reduktion, vom Weglassen, ist unglaublich leer. Und weil es diese Leere erzeugt, hält es sich für bedeutungsvoll. Wir sind aber doch etwas größer als ein Streichholz, alle so zwischen Einsfünfzig und Zwei Meter. Da passen eine Menge Streichhölzer hinein. Und wenn wir wollen, fliegen wir zum Mond. Das Schlimmste aber ist, dass mir diese falsche Streichholzgröße nach 1989 dann wieder begegnet ist, nur heute nennt man es Bescheidenheit, Bodennähe oder Understatement oder im schlimmsten Fall: Lebensklugheit. Ich frage mich, was soll das? Wenn ich auf der Straße bin, sehe ich keine Streichhölzer. Ich sehe lauter große Dinge. Und während die Leute auf die Poesie des Alltags pochen, produzieren sie ganz nebenbei Unermessliches und Nichtalltägliches.“
Diese Gedanken waren mir schließlich zu verwickelt. Ich konnte nicht mehr richtig folgen. Ich überlegte, ob Ulrike meinen Plüschgrill zum Unermesslichen oder zum Alltäglichen rechnete. Die Fliegen unter der Lampe zogen ihre Kreise.
Und dann taten wir etwas, das weder groß noch klein war, weder alltäglich noch nicht alltäglich, abwechselnd bodenfern und bodennah, und uns das Denken und Sprechen für eine Weile ersetzte.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Drei Rollkragenpullover, eine Fließjacke, Goretexhandschuhe, Kohletabletten, Vitaminkonzentrat, GPS-System (Ersatzakkus), Bayrol-Adison-Wasserdesinfektions­kartuschen, Breitband-Antibiotika, Einwegspritzen, Trinkminerale, Fieberzäpfchen, Benzinfeuerzeug, Pur-Schaum oder Silikondichtungsmasse (Ritzen!), Moskitonetz, Dichloraxanphenylcyanit, (gutes Insektizit, tschechisch, in Deutschland verboten) Taschenlampe (Ersatzbatterien und Birnen), Skopomalin-Brechreizunterdrücker, Sattelitentelefon, Nadel und Faden (steril), Funkgerät, Kurzwellenempfänger, Signalfeuerraketen (rot und grün), Überlebensfolie, Thermosäckchen – für Unternehmungen außerhalb von Berlin bin ich gern gut vorbereitet.
Für Länder der tropischen und subtropischen Regionen darf es auch noch ein Rollkragenpullover und eine Goretexweste mehr sein. (Seitdem ich einmal aus Kalkuta nach 2 Tagen mit Pergamentpapierschleimhäuten und einer schweren Lungenentzündung, festgeschnallt auf einer Trage, ausgeflogen werden musste, weiß ich, dass man dort eher die Kälte zu fürchten hat als die Hitze. Traktiert von Klima-Anlagen, die auf gefühlten Gefrierpunkt eingestellt sind, kann der Urlaub schnell bei einem sehr freundlichen Arzt enden, der absolut qualifiziert ist, der aber in heftigem man Fieberwahn dann doch an einen jener Verkäufer erinnert, die in Deutschland manchmal Rosen und Feuerzeuge anbieten.)
Wenn man es schön warm haben möchte, ist es besser, in skandinavische Länder reisen.

Wir sitzen in der Notbremse neben dem Schränkchen und Ulrike stellt die richtigen Fragen. Sie fragt zum Beispiel, wie ich die Signalnotraketen gegenüber Michael verargumentiert habe, der ja nicht vorhatte, sich im Bermudadreieck retten zu lassen. Und spricht damit ein heikles Problem an.
Tatsächlich musste ich einige Reisevorbereitungen doppeldeutig treffen. Ich hatte ja keineswegs vor, wie Michael, im Bermudadreieck ohne Wiederkehr zu verschwinden. Michael wiederum wollte es nicht trivial haben. Er hatte es auf eine große Methanblase aus der Tiefsee abgesehen. Deshalb sagte ich zu ihm, wir müssten uns so vorbereiten, als ob wir wiederkommen wollten, denn schon irgendein Allerweltswirbelsturm, etwas, dass es in dieser Gegend leider auch gab, konnte spontane Planänderungen notwendig machen. Wenn man dann schon auf dem Meer war, würde auch Michael sich selbstverständlich retten lassen wollen, denn das Absaufen wegen irgendeiner daher gelaufenen Windhose, wäre für ihn eine Demütigung gewesen, das reinste B-Movie.
Ähnliches galt natürlich für alle anderen Risiken wie durch Klimaanlagen verursachte Lungenentzündungen, Lebensmittelvergiftungen, sich verlaufen und dann verdursten, Insektenbisse etc…
Ich selbst wollte ja auf jeden Fall wiederkommen. Und ich beabsichtigte auch nicht, vor Puerto Rico auch nur ein Fuß mit Meerwasser zu benetzen. Ich wollte Michael ein pädagogischer und therapeutischer Begleiter sein, ihm die Augen öffnen für die Schönheiten und die Überraschungen dieser Welt, für die Möglichkeiten seines Lebens.

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Manchmal ergibt es sich, dass wir uns von der Seite sehen. Beim Autofahren zum Beispiel. Ulrike sitzt neben mir. Das Auto gleitet durch eine Allee, das Junilicht knattert in ihren Haaren. Ihr Profil in meinen Augenwinkel. Ihre Lippen, die sich bewegen, wenn sie etwas zu mir sagt, Ihre Schenkel in den Jeans, ihre Hand am Radioknopf. Vor uns ein Traktor. Ich habe keine Lust zu überholen. Meine Beine fuhrwerken, irgendwo da im Dunkeln, unterhalb der Lenksäule. Das Außenthermometer zeigt Neunundzwanzig Grad.
Ein Trinkhalm jetzt, der aus ihrem Mund ragt, nach zwei Zentimetern rechtwinklig nach unten abknickt und in einem Karton mit Apfelsaft eintaucht, den sie in der Hand hält. Sie blubbert vor sich hin. Ich drehe meinen Kopf zu ihr, sie dreht sich zu mir und zeigt mir ihre Lippen, zwischen denen der Trinkhalm steckt. Ich schaue wieder auf die Straße. Vorne der Traktor. Ihre andere Hand liegt auf ihrem Jeansoberschenkel, locker, geöffnet. Sie trägt ein leichtes Bikinioberteil, das in ihrem Nacken von einer Schleife gehalten wird, die sich einfach öffnen lässt, dicht unter ihrem braunen Haaransatz. Ich denke, noch eine Bewegung von ihrer Hand, und ich fahre hier irgendwo tief in einen flimmernden Feldweg hinein, werfe den Zündschlüssel weg und verursache einen Waldbrand.
Ein Motorradfahrer taucht kurz links neben uns auf. Er dreht seinen Kopf, seinen Helm, sein Visier in unsere Richtung, als würde er etwas bei uns suchen und gibt dann Gas. Seine Maschine heult auf und verschwindet. Vielleicht sind wir zu langsam. Aber ich bin auch träge.
Im Autoradio läuft eine Ratgebersendung mit einem Tierarzt. Die Stimme eines Anrufers will wissen, wie man vermeiden kann, dass sich „die Füße des Nymphensittichs entzünden“. Es hört sich an, als säße diese Stimme hinten bei uns im Fond. Ulrike sagt: „Nicht dass dieser Typ hinter uns sitzt, und wir wissen es gar nicht.“
„Das Selbe habe ich auch gerade gedacht.“ – sage ich und muss lachen –
„Ich könnte mir vorstellen, dass es ein sehr kleiner Greis ist, den wir nicht bemerkt haben, irgend so ein Zwiebelmännlein, das hinter uns auf der Rückbank sitzt und von den brennenden Füßen seines Nymphensittichs erzählt.
Seit dem ich mit Ulrike zusammen bin, kann ich mir so etwas ausdenken.
„Vielleicht sollten wir mal nachschauen.“ – sagt Ulrike und dreht sich um.
Dann ist der Traktor vor uns in eine Seitenstraße abgebogen und wir haben wieder freie Fahrt. Im Radio läuft wieder Musik. Aber ich habe Lust, sie ins Ohr zu beißen.
Es fühlt sich ganz gut an zwischen uns. Hoffentlich müssen wir nie darüber reden, wie es sich anfühlt. Aber mit Ulrike ginge vielleicht auch das. Sie würde es vielleicht auf ihre Art machen. Sie würde vielleicht sagen: „Pass mal auf, irgendwann stehst du mit einem schönen grünen Haarschutz auf dem Kopf und mit grünen Überziehern an den Schuhen in einem neonbeleuchteten Dingsbums, wo ich unter grünen Tüchern mit gespreizten Beinen daliege und Tierlaute von mir gebe. Dir wird dann schlecht und dann musst du dich von einer Schwester stützen lassen und wirst wie ein alter Mann zu einer Liege geführt…das Leben setzt sich durch, weißt du…
Wir halten an einer Ampel. Sie hat es so nicht gesagt, aber sie könnte es so sagen. Vielleicht würde es mir gefallen. Ulrike hat so eine Art, über Dinge zu sprechen, die am Anfang unserer Bekanntschaft auf mich irritierend, dann aber immer mehr anziehend wirkte. Manchmal sagt sie zum Beispiel: „Greif doch mal das Glas.“ – sie sagt also nicht: „Nimm das Glas.“ Oder: „Gib das Glas.“ Sondern: „Greif doch mal das Glas.“ Das klingt umständlich. Aber im Grunde doch präzise. Aber so hat sie auch schon gesagt: „Zieh den Reißverschluss ganz nach unten.“ – das fand ich dann wieder sehr anziehend oder eben – ausziehend, auch wie sie es sagte. Eine eigene Deutlichkeit, nichts Laues, etwas das keine Geheimnise vortäuschen möchte, aber vielleicht gerade deshalb ausliefernd wirkt, schutzlos, oder einen ganz anderes Geheimnis bereithält. Schwer zu sagen. Ich beobachte gern ihre Hand, wenn sie sich ein Glas greift.
So sind sie dann wohl am Anfang auch über die Tastatur spaziert, damals, als wir uns geschrieben haben, ihre Fingerspitzen.
Wir kommen jetzt wieder in die Stadt. Fünf Spuren. Ich muss gucken, dass ich mich richtig einordne.
Ulrike hatte mir damals geschrieben, dass sie das Gefühl hatte, „sich dumm stellen zu müssen, um irgendwie weiter zu kommen.“ Ihr Grund, warum sie damals auf eine Partnerplattform ins Internet gegangen war. Sie hatte geschrieben, dass sie sich „eingeschaukelt“ gefühlt habe in ihrem Umfeld aus Freunden und Bekannten und Kollegen, eingeschaukelt in ein Gleichgewicht des Verstehens, des Beipflichtens, des Vertrauens, der Gewohnheiten, der Interessen, der Absprachen, der Vorlieben und Abneigungen, eingeschaukelt in ein Hoch und Runter, Rechts und Links, Vorn und Hinten, eingeschaukelt in ein Geschäft der Bewegung, das mehr Geschäft als Bewegung war, denn der Ort dieser Schaukel lies sich nicht verändern. Sie suchte eine Begegnung.
Dann hatte sie dort im Netz die vielen Gesichter gesehen, die ihr alle bekannt vorkamen, weil sie keines kannte. Sie suchte aber nach jemanden, der ihr absolut unbekannt blieb. Weshalb sie dann wohl auf meinem Profil landete, das kein Bild zeigte. Kein Bild zu sehen schien ihr offenbar das größere Versprechen auf Unbekanntheit.
Überhaupt – die Profile. Bei ihr stand: 169 cm groß, braune Haare, braune Augen, gutaussehend, 32, Beruf: was mit Medien. Bei mir stand: 180cm groß, dunkelblond, graublaue Augen, 33, Beruf: Plüschgrill. Hatten wir uns dumm gestellt?
Aber mit dem Dummstellen meinte Ulrike noch etwas anderes. Sie hatte es noch eigentümlicher ausgedrückt. Sie und ihr letzter Freund, von dem sie sich aber lange schon getrennt hatte, bevor sie auf die Partnerplattform zugriff, seien irgendwann „zu Freizeitfickern“ geworden. Mir gefiel diese Formulierung, weil sie so doppelbödig klang. Und einen besonderen Humor zeigte. Sie konnte bedeuten, dass man in der Freizeit fickte, und wenn das der Fall war, dann war die Zeit ja nicht mehr frei, sondern ausgefüllt, dann stimmte diese Formulierung nicht mehr. Sie konnte aber auch bedeuten, dass etwas Mechanisches oder Geschäftliches in der Beziehung eingezogen war, in der es Freizeit gab und Arbeitszeit und Mittagszeit und Frühstückszeit und Urlaubszeit und Streichelzeit usw… und in der dann so etwas wie unbezeichnete reine Zeit gar nicht mehr vorkam und es somit keine Zeiträume mehr gab, die offen geblieben wären für ganz grundsätzlich neue Ereignisse. In diesem Fall wurde also die Zeit sprichwörtlich gefickt, anstatt sie frei zu lassen. Sich „dumm stellen“ hieß für Ulrike damals, genau solche freien Zeiträume wieder zu eröffnen. Ich gebe zu, dass ich durch Ulrike vielleicht nicht gerade zu einem Frauenversteher wurde, aber wenigstens zu einem Ulrikeversteher. Das war ja immerhin auch schon etwas. Vielleicht weil so viel anlag, dass es zu verstehen galt. Und dass mich auch interessierte. Obwohl ich auch manchmal mit Vereinfachungen dagegenhielt, indem ich zum Beispiel schrieb: „Na ja, das kommt in den besten Familien vor.“ Oder: „Romeo und Julia hatten damals aber andere Probleme.“
Was sie mir aber nicht übel nahm. Ihre Ausschlussliste interpretierte ich später so, dass sie den einfachen Lösungen nicht traute und zu den einfachen Lösungen zählte sie ganz offenbar die Poesie des Alltags ebenso wie das Demonstrieren gegen die amerikanische Politik oder einen gelegentlichen Rucksackurlaub. Aber im Widerspruch dazu zeigt sie sich doch für vieles sehr empfänglich. Das bemerkte ich auch gleich, als wir uns zum ersten Mal sahen.
Noch dreimal abbiegen, dann sind wir da. Vielleicht werde ich aber vorher noch einmal tanken.

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Es war absehbar, dass uns die meisten Ausrüstungsgegenstände abgenommen würden. Nach dem 11.September bekam man eben keine Signalnotraketen mehr an den Flughäfen durch die Schleusen. Daran hatte ich zu denken. Auch daran, dass dieser Versuch Ermittler einer Behörde wachrufen konnte, mit denen man dann womöglich in einem beigefarbenen Zimmer saß, auf einem Aluminiumstuhl, beäugt, sachlich, schweigend, bis man dann Erklärungen abgeben musste, was es denn mit dem Dichloraxanphenylcyanit im Handgepäck auf sich hatte. (Insekten ja doch, Bermudadreieck aha) Dass Michael durch seinen Aufenthalt im Irak wenn auch nur sporadisch aktenkundig geworden war, konnte dann womöglich noch einen zweiten Ermittler mit amerikanischem Südstaatenakzent interessieren. Und dann Michael mit seinem cineastisch aufgeladenen, komplex präsuizidal euphorisch gestimmten Gemüt als Gesprächspartner für diesen Ermittler, Karibik als Reiseziel, na ja.
Aus diesen Gründen hatte ich dann kurz vor dieser Reise Abrüstung beschlossen. Es blieb bei den unverfänglichen Materialien, Goretex-Klamotten und den Rollkragenpullovern und einem guten Sonnenschutzmittel. Und Puerto Rico war ja nicht Namibia.
Ulrike fragt, warum wir nicht Florida als Ausgangspunkt für das Bermudadreieck gewählt hatten, was doch sicher unkomplizierter gewesen wäre.
Es ging Michael aber nicht einfach nur um das Bermudadreieck. Er hatte dort eine bestimmte Stelle im Auge. Das Milwaukeetief. Die tiefste Stelle des Atlantiks. Eine steile kontinentale Bruchkante von über 9000 Metern. Und die lag nun einmal näher an Puerto Rico. Ca 150 Km von der Küste entfernt. Dort wollte er auf seine große Methanblase warten, die ihn „nach unten nehmen sollte.“ Im Übrigen waren vielleicht auch die Chartergebühren für ein Schiff günstiger als in Florida. (was sich später aber als Irrtum erwies)
Tiefsee. 9000 Meter. Als wir mit dem Flugzeug diese Höhe erreicht hatten, bei bestem Wetter, und die Landmasse unter uns wie ein abstraktes Gemälde aussah, schaute Michael aus dem Fenster nach unten in den Dunst und sagte: „Stell Dir das in Wasser vor.“ Gerade bei solchen Äußerungen wirkte er sehr klar. Es war wieder einer dieser Momente, in denen ich mir nicht sicher war, ob mein Plan, Michael von seiner Obsession zu befreien, glücken würde. Ich weiß nicht, welcher Dämon mir damals eingeflüstert hatte, mich als reisender Hobbyseelsorger zu betätigen. Die menschliche Psyche konnte sicher abgründiger sein als ein Milwaukeetief.
Aber noch saßen wir ja nicht im Flugzeug.
„Nun mach es nicht so spannend.“ – sagt Ulrike.
Wir flogen von Berlin mit Umstieg und Aufenthalt in Amsterdam. Anfangs versuchte ich es – dies sage ich mit schlechtem Gewissen zu Ulrike – mit der Poesie des Alltags. Um Michaels Gemüt aufzuhellen, zeigte ich ihm ganz nebenbei zum Beispiel eine Bananenschale, die neben einem Papierkorb lag und sagte: „Schau mal, sieht sie nicht aus, wie ein Halbmond bei leicht bedecktem Himmel in der Dämmerung eines Juniabends…?“ Oder als wir in der Bahn zum Flughafen einer Familie mit einer munteren Kinderschar gegenübersaßen, malte ich mir mit einem Kugelschreiber Gesichter auf meine Fingerkuppen und veranstaltete ein kleines Onkeltheater. Die Kinder waren verzückt und quietschten, und ich hoffte, dass dies vielleicht ansteckend auf Michael wirken konnte. Aber der blieb schmallippig. Als wir ausstiegen, sagte er mir, er hätte mal einen Film gesehen, in dem ein Mann sich mit solchen Spielereien seinen Opfern näherte. Die Opfer seien Kinder gewesen, den Rest könne ich mir selber ausmalen.
Dies war dann auch der erste Moment auf unserer Reise, an dem ich beinahe meine Beherrschung verloren hätte. Ich hatte mir im Vorfeld Argumente zurechtgelegt. Und zu diesen Argumenten gehörte auch – ich musste ja im Fahrwasser seiner verschrobenen Logik manövrieren – dass es unzählige Filme zum Thema Bermudadreieck gegeben hatte. Wenn man die seriösen und unseriösen Reportagen hinzurechnete, lag das Thema Tiefsee, Methan und Methanblasen gerade dermaßen im Trend, dass ich Michael mit Leichtigkeit davon überzeugen konnte, dass sein Plan, im Bermudadreieck zu verschwinden quasi von der Stange war, alles andere als maßgeschneidert, unsägliche Konfektionsware – und in diesem Moment, als wir aus der Bahn zum Flughafen ausstiegen und er mich indirekt als Inkarnation irgendeines bösen Onkels auflaufen ließ, wollte ich ihm dies alles an den Kopf werfen. Seine Verbohrtheit hatte mich wütend gemacht. Aber ich beherrschte mich. Es lag ja noch ein Weg vor uns, und ich musste mit meinen Argumenten haushalten. Und leider gab es da auch eine nicht zu unterschätzende Schwachstelle in meiner Strategie. Dass jemand freiwillig und in voller Absicht im Bermudadreieck verschwinden wollte, war mir selbst auch noch nicht untergekommen. Leider wusste Michael das noch besser als ich. Wenn er also ausgeruht war, konnte er sein „Primärerlebnis“ ungerührt weiter verfolgen, indem er meine besten Einwände mit dem Hinweis darauf einfach abtropfen ließ. So wollte ich zunächst auf Zeit spielen und auch darauf vertrauen, dass seine Stimmung, sein Gemüt sich selbstständig aufhellte, weil wir eben unterwegs waren, weil die Landschaften und Eindrücke sich änderten. Ich wusste, dass ich mit Michael trotz seiner schweren partiellen Eintrübung einen intelligenten Menschen begleitete, der sich nicht so leicht etwas vormachen ließ. Deshalb hatte ich mich vor Antritt dieser Reise vorsichtshalber auch zum Experten des Bermudadreiecks geschult und zu den Mythen, die dieses Seegebiet betrafen. Nun kannte ich all die unsäglichen Geschichten von blauen Lichtern, verschwundenen Bomberstaffeln, Magnetfeldanomalien, Zeit-Schleifen, angeblichen Ufo-Sichtungen, rotierenden Kompassnadeln, verschollenen Fischerbooten, und selbstverständlich auch die seriöseren Spekulationen über gelegentlich aufsteigende Methanblasen, die dem Schiffsverkehr eventuell gefährlich werden konnten. Das meiste davon war Hokuspokus und verwies ganz einfach auf Informationsmangel, unglückliche Zufälle oder eben einen altbekannten Appetit auf Verschwörungstheorie und Übernatürliches. Deshalb musste ich mir insgesamt auch nicht allzu große Sorgen machen. Gegenüber Michael hatte ich erklärt, dass mir sein Plan einleuchtete, ich ihn „sehr interessant“ fand, obgleich ich mich nicht „final“ an ihm beteiligen wollte, aber da ich auch neugierig auf die Karibik sei, solle er mich als seinen vertraulichen Begleiter „bis zur Schwelle“ betrachten, über die er dann aber allein gehen müsse. (Ich war mir ziemlich sicher, dass Michael noch nicht mal ein Boot würde auftreiben können. Denn in organisatorischen und planerischen Belangen war er absolut untalentiert. Außerdem konnte er kein Wort englisch oder spanisch. Unausgesprochen hoffte er da offenbar auf meine Unterstützung, weshalb er also auch von dieser Seite nichts gegen meine Begleitung einzuwenden hatte. Meinen Intentionen kam das sehr entgegen. So würde ich doch immerhin den größten Teil des Verlaufs dieser Reise indirekt bestimmend und verantwortungsvoll in meinen Händen halten. Das dachte ich damals jedenfalls.
Dass wir in Amsterdam zwei Tage Aufenthalt nahmen anstatt gleich den vorgesehenen Anschlussflug zu nehmen, war ein erster schwerer Fehler.

„Soll’s noch was sein?“ Hans, mit seinem AC/DC-T-Shirt, steht vor unserem Tisch. Ulrike greift ihr Glas, in dem die Eiswürfel klimpern und reicht es ihm.

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Ulrike und ihre Ausschlussliste. Ich sollte darauf antworten damals. Gespannt war sie gewesen. Ich hatte es albern gefunden, ein bisschen. Gut, ich hätte ja schreiben können, Punkt1: Gemeinsame Ausschlusslisten generieren. Und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber mich reizte auch die spezielle Blödheit dieses Spiels. Standen unsere Profile hier nicht sowieso schon in einer Listung? Augenfarbe, Haarfarbe, Körperhöhe, Beruf…
Beruf. Tatsächlich konnte jemand, der sonst nichts über uns wusste, uns manchmal auch für Kollegen halten. Es gibt ja auch diese Momente, wenn wir irgendwo gemeinsam am Tisch sitzen, jeder für sich leicht abwesend, sie die Sonnenbrille ins Haar geschoben, was ich eigentlich überhaupt nicht mag, und ich ein schlichtfarbenes Sakko „lässig über den Schultern“, was auch immer bescheuert aussieht, ein Paar, einander fühlend aber abwesend, kollegial eben, leicht erschöpft, weil man gerade einen anstrengenden Besuch hinter sich gebracht hat, vielleicht bei der Mutter des Einen, um ein Regal anzubauen, oder bei dem Bruder der Anderen, um auf ein Kind aufzupassen. Aber eben dann wieder ganz beieinander und schön abwesend zusammen gemeinsam ein Eis essend – zum Beispiel.
Ganz im Gegensatz etwa zu jenem Augenblick, als ich nachts gegen 3 Uhr 30 mit freiem Oberkörper und einem Glas in der Hand barfuss in ihrer Küche stehe, in der ich das Licht nicht eingeschaltet habe, leise ein Schluck Wasser ins Dunkle hinein trinke und dann merke, wie es warm wird an meinem Rücken, weil sie sich von hinten dicht an mich herangeschlichen hat.
Was gab es auszuschließen damals? Gemeinsam sich über Exfreunde und Exfreundinnen aussprechen? War eigentlich immer quälend. Kam mir immer vor wie ein Oberseminar zur Geschichtsforschung in Ruinen. Man erfährt dabei wirklich nichts Interessantes. Nur Niedergang. Das Imperium einer Beziehung. Römisches Reich sozusagen. Deshalb hatte ich ihr das damals hingeschrieben als den ersten Punkt auf meiner Ausschlussliste. Ich kenne auch die Gegenargumente zu einem solchen Ausschluss. Die alte Frage: Wie genau will man eigentlich jemanden kennen, meint man jemand kennen zu können, muss man wirklich alles wissen, und was meint diese Frage überhaupt?
„Jede neue Begegnung hat doch ein Recht, sich ganz von irgendwo abzustoßen.“ – das schrieb mir Ulrike damals. Ein Ideal natürlich. Aber mir gefiel das. Und wir hatten uns zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht gesehen.
Damals dachte ich darüber nach, wann es eigentlich beginnt dieses Etwasfüreinanderempfinden? Abgesehen davon, dass so ein ganz archaischer Bademeister in molekulargenetischer Passung ganz vegetativ die Fortpflanzungsapparatur mitsamt Hormondusche anstellt, wenn es geruchsmäßig passt und man ein bisschen abstinent war vorher, was sich sowieso immer gut anfühlt. Aber eben auch sehr austauschbar. Macht nicht er es, dann eben seine Vertretung.
Früher hat das ja oft gereicht, aber inzwischen ist man natürlich dümmer geworden und verlangt mehr. Mehr Erklärungen. Da kann man schon mal gemeinsam auf diesem Plateau stehen und diesen speziellen Ausblick genießen, auf eine gerade heranrollende Lust, auf ein gegenseitiges sich Leerfressen und Ausschöpfen und Aufsprengen, da sieht man dann immer wieder neu die Jahrtausende von Menschheitsgeschichte herankommen und sich in ein Fickmich zurückverwandeln und findet das eben absolut großartig und immer wieder neu. Aber was heißt verwandeln? Man wird ja eher ziemlich geräuschvoll zum Vollstrecker dieser ungeheuren Geschichte. Ein Vollstrecker mit Biss-Schrei, der auch eine biologische Aufgabe hat, die einzige Aufgabe, die um so mehr Freude macht, je weniger man ihr entkommen kann.
Natürlich nicht solange man sich nur schreibt auf dieser Plattform, so wie Ulrike und ich es damals getan haben.
Aber das alles sagt es auch nicht.
Ich habe Ulrike damals gefragt, warum sie sich, die sie doch “gut aussehend” im Profil stehen hatte, nicht einfach auf irgendeiner Party wegbaggern ließ. Oder eben irgendwo anders. Ihre Antwort war ziemlich deutlich. Sie traute diesen Momenten nicht mehr. Sie schrieb, diesen kleinen „Zwinkerschnüffelbeben“ traue sie nicht mehr. Ich fragte, warum nicht. Sie antwortete, weil diese Momente ihr inzwischen wie durchautomatisiert vorkämen. Ein Flirt auf freier Wildbahn schien ihr einfach viel zu biotechnisch. Sich im Internet kennen zulernen, sei dagegen romantischer, organischer und deshalb auch nachhaltiger. Sie schrieb, beim Flirt auf der freien Wildbahn fühle sie sich „wie vorgeladen vor den Drüsenausschuss des Pheromonparlaments.“ Unfrei. Im Internet dagegen könne man die Seele zunächst lässiger erforschen. Auch die eigene. Sie wüsste ganz genau, dass sie zum Beispiel an bestimmten Tagen im Monat von ihrer Biologie her einem Referenzmuster bei der Partnerwahl ausgeliefert sei, das sie für die Vergangenheit gelten lasse, aber nun als nicht mehr zukunftsfähig empfand. „Dass uns die Natur jeden Monat bluten lässt, macht uns einerseits hart, pragmatisch, im Gegensatz zu euch können wir Blut sehen und wollen es oft auch, andererseits sind wir deshalb aber auch viel verletzlicher, empfindsamer…“
Puh, und ich hatte immer gedacht, das sei ein Gerücht gewesen.
Ulrike hatte mir damals auch etwas berichtet über die Salsa-und-Tango-Welle, die durch die Reihen einiger ihrer Bekannten und Kolleginnen gegangen war. Natürlich sei das auch eine Option gewesen, um sich locker zu machen. Da war sie auch einmal mitgegangen zu einem Tango-Event, aber dann dort hatte sie an der Bar eine Frau beobachtet, die mit einem Stift im hellen Display ihres palmtops stocherte. Dazu lief die Tangomusik von Astor Piazzola. Da sei ihr klar geworden, dass sie diese Musik nicht unbedingt brauchte und sich nie wieder locker machen müsste.
Ulrike war also noch eine echte Seelenforscherin, quasi eine Romantikerin. Aber was heißt „noch“? Sie gehörte zu den vielen echten Seelenforschern des Internets. Aber da sie kein Bild von sich zeigte, musste ich einkalkulieren, dass sie vielleicht doch nicht so gut aussah. Man wusste ja, dass trotz aller guten Vorsätze zwischen Männern und Frauen kein Kommunismus herrschte, also im Sinne von „jeder nach seinen Bedürfnissen“. Trotzdem gab das keinen Anlass zur Hysterie. Schließlich sah kaum eine Frau so merkwürdig aus wie Huellebecq, und auch die meisten Männer mussten sich deshalb keine Sorgen machen. Die Fotos auf den Plattformen jedenfalls zeigten viele gut aussehende im Saft stehende Gesichter. Zur Selektion. Eine erweiterte Variante der Darwinmaschine.
Deshalb nahm ich Ulrikes Erklärung auch durchaus ernst. Sie bestätigten mich in meiner eigenen Vermutung, dass das Internet oder zumindest die Partnerplattformen zu einem Auslagerungsort des Seelischen, oder wem das zu spritituell klingt: zu einem Umschlagplatz des Mehralsnurkörperlichen geworden waren. Vielleicht sogar ein erster sehr vorläufiger Haltepunkt auf dem Pilgerweg hin zum Unsterblichen.
Schließlich trafen wir uns ja doch noch in freier Wildbahn oder wenigstens im halbfreien Wildgehege, wo wir uns aber so vielleicht nie über den Weg gelaufen wären. Am Ende war es dann doch der Plüschgrill, der uns zusammengebracht hatte. Der Plüschgrill als unser großer Kuppler. Wenn er sprechen könnte, würde er es vielleicht dementieren. Egal. Ich muss ihm wirklich dankbar sein.
Die Notbremse also. Dass wir uns hier zum ersten Mal face to face, wie es so schön heißt, gegenübersaßen, verdanke ich wiederum einem weiteren Punkt, den ich allerdings auch zunächst nur halbernst auf meine persönliche Ausschlussliste gesetzt hatte.
Ulrike. Heute fühlt sich alles noch einmal ganz anders an. Sie ist ja ganz da, wenn sie auf ihrem Kühlschrank sitzt und sich mit leicht geneigtem Kopf ein Ohrring hineinfummelt und dann nach dem kleinen Handspiegel greift, sich dreht und wendet,
prüft, lächelt, mich anschaut. Dann glitzert es da.

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Amsterdam war damals eine spontane Eingebung von mir gewesen. Deshalb hatte ich, ohne Michael Bescheid zu sagen, bei der Organisation der Tickets, die er mir überlassen hatte, einfach diese 2 Tage Aufenthalt eingeschoben. Andernfalls hätten wir in Schiphol Airport stumpfsinnige 5 Stunden herumsitzen müssen bis zum Anschlussflug nach San Juan. Und so konnte ich eben auch etwas Zeit herausschinden, was meinen Absichten sehr entgegen kam. Ich wollte ja nicht so wahnsinnig eilig nach Puerto Rico.
Vielleicht hätte ich Michael davon etwas früher informieren sollen und nicht erst als wir in Amsterdam ausgecheckt hatten. Das gab natürlich Theater in der Halle. Ich musste einige Sicherheitsleute von der Harmlosigkeit meines Begleiters überzeugen und dann noch, neben dem Kaffee, den wir getrunken hatten, etwa 20 Untertassen und 16 Kuchenteller von einem Stand mit auf die Rechnung nehmen, an dem wir das ausdiskutiert hatten, obwohl es da nichts mehr zu diskutieren gab.
Meine Laune war dann nicht mehr die beste, aber trotzdem werfe ich mir heute vor, dass ich mir so wenig überlegt hatte, was denn nun mit den 2 Tagen in Amsterdam anzufangen war. Überhaupt war diese Sache schlecht von mir organisiert. Rembrandt, Tulpen, Kiffen, Puff, also das normale Touristenprogramm lag zwar irgendwie nahe, aber wegen Michael musste ich da vorsichtig sein. Ich wollte ihm einerseits keinen Film zumuten, den er schon kannte, ihn aber auch nicht in irgendeinem Film verlieren, von dem ich nicht der Regisseur war.
Für jemanden, der sein Leben an die Filme verloren hatte, war Amsterdam auch keine wirklich gute Adresse. Das hätte mir eigentlich klar sein müssen. Wenn man nämlich Amsterdam besuchte, sah man was? – Amsterdam. Wenn man in eine Stadt kam, in der es Wasserkanäle, sogenannte Grachten, und rötliche Backsteinhäuser, alte Speicheranlagen und viele Fahrräder gab (diese typischen bequemen Hollandfahrräder mit dem schönen Lenker), dann konnte es sich nur um Amsterdam handeln, einer Stadt nämlich mit kleinen Wasserkanälen, so genannten Grachten, rötlichen Backsteinhäusern, alten Speicheranlagen und vielen Fahrrädern.
Besuchte man dagegen eine Stadt, in der sich auch viele verspielte Dinge entdecken ließen, wie etwa das putzige Hubertushuis, die längste Tabakspfeife der Welt, das hölzerne Wartehäuschen, das ganz erstaunlich moderne van Gogh-Museum oder ganz unerwartete Sachen, wie einen schwimmenden Blumenmarkt, oder den größten Diamanten der Welt, dann war man wo? – in Amsterdam! Und mitten im van Gogh-Museum, sah man dann – Überraschung – Bilder von van Gogh! Dem Maler mit dem kaputten Pinsel, dem aben Ohr und den Sonnenblumen, den gelben!
Wenn man sich dann endlich von so viel Amsterdam einmal erholen wollte, dann tat man das am besten in einem herrlich verruchten Jazzkeller mit viel Patina und Tradition und pausbäckig verschwitzten Saxophonlegendenschwarzweißphotos an den Wänden, die aber dort wirklich gespielt hatten in den 50iger und 60igern, also nicht einfach nur so hingehängt; oder es ging in ein gemütliches Kaffee, zum Beispiel ins hölzerne Wartehäuschen, oder in einen sehr traditionsreichen Club, wo tolle Frauen tanzten und dunkelhäutige Dj’s aus den ehemaligen Kolonien auflegten, die den Beat, den Rhythmus, den Merengue oder was auch immer einfach im Blut hatten.
Aber die gemütlichsten, geschichtsträchtigsten, traditionsreichsten, pausbäckigsaxophonschwarzweißbebilderten und rhythmischsten Locations befanden sich selbstverständlich wo? – in Amsterdam! Soviel zu Amsterdam. Aber es gab auch Geheimtipps in Amsterdam, also das Amsterdamer Szeneleben mit allerhand bunten, verpiercten oder umoperierten Amsterdamern, oder die weltbekannten Amsterdamer Coffeshops, mit den Amsterdamer Marihuanagesetzen, die das Amsterdamfeeling erst richtig aufkommen ließen; und neben den Amsterdamern traf man dort auch Amerikaner, Franzosen, Briten, Schweden, Deutsche, Portugiesen und sogar Australier, die sich in Amsterdam für Amsterdam interessierten, und das, was Amsterdam zu bieten hatte, also zum Beispiel für die längste Tabakspfeife der Welt, den schwimmenden Blumenmarkt oder, neben den bequemen Amsterdamer Fahrrädern auch für die Amsterdamer Wohnschiffe, die man auch in Amsterdam sehen konnte, weil Amsterdam die Stadt mit den Kanälen war, die dort bekanntlich Grachten hießen.
Aber Amsterdam hatte noch mehr zu bieten. Zum Beispiel sehr interessante moderne Architektur. Eingebaut oder freistehend. Gebäude mit spitzzackigen oder blechverkleideten, gebürstet blanken oder blaugelblackierten Fassaden mit avandgardistisch reduzierten Einbuchtungen oder modern betonten Ausstülpungen, ebenso wie übrigens auch von ziemlich modernen Architekten entworfene Brücken (wegen des vielen Wassers) im statisch gewagten ästhetischen Schwung, eben nicht nur irgendwie traditionell verschnarcht – im Gegenteil – in Amsterdam stand auch ein hochmoderner Technologie – und Wissenschaftspark mit echten Computern. Amsterdam war also durchaus nicht nur die Stadt mit den Fahrrädern, oder den Wasserkanälen, die dort bekanntlich Grachten genannt werden. Amsterdam war mehr als nur die längste Tabaksfeife der Welt oder das Rembrandtmuseum: In Amsterdam gab es auch Ecken, die nicht so bekannt waren, wo man noch den Amsterdamer, also den echten Amsterdamer und die Amsterdamerin quasi in ihrem hellhaarigen sommersprossigen Amsterdamer Alltag antraf. Das waren die Ecken und Gässchen mit gemütlichen Kaffees aber auch ganz lässigen kleinen Clubs, in denen abends entspannt aufgelegt wurde, oder mit kleinen Läden drin, wo man ganz relaxt Amsterdamer Naschwerk einer Amsterdamer Verkäuferin abkaufte.
Im Übrigen sah man in Amsterdam aber auch einfache Plattenbauten, Supermärkte, Drogerien oder Fernsehgeschäfte, das soll hier nicht verschwiegen werden. Also es gab sozusagen auch die Dogma-Filmvariante von Amsterdam, zum Beispiel Postämter in grünlichem Energiesparlampenlicht, Hauseingänge mit Plexiglasriffelscheiben und Kunststofftürklinken; Menschen mit Hautausschlag, die aus Volvic-Wasserflaschen irgendwelches Zeug tranken, das kein Wasser war; stinknormale Werkzeuggeschäfte; ein Altenheim, in dem eine dünnbeinige Achtzigjährige hilflos auf der Bettkante saß und nach dem raucherpausemachenden Pflegepersonal rief; einen riesigen Haufen mit leeren Farbbüchsen, ein Korken, der in einem schillernden Ölfilm auf dem Wasser schwamm, ein halblindes Schaufenster, in dem ein versiffter Plastikteddy neben einer Zahnpastatube lag, auf der ein Post-it klebte, einen Krebskranken mit künstlichem Darmausgang vor einem kleinen Küchenradio etc…
Was es in Amsterdam überhaupt nicht so viel gab, war Platz.
Und einige Ecken und Zimmer, die ich mir damals sauberer und größer gewünscht hätte.
Ulrike lacht jetzt dazwischen: „Amsterdam war wieder einmal verstopft?!“
Ja! Amsterdam war wieder einmal verstopft! Und zwar absolut überverstopft. Ich vermutete, irgend ein internationales Event, eine gigantische Lan-Party, ein Althippietreffen, ein Rave, ein Rolling Stones Konzert, ein Antiglobalisierungsmeeting oder irgend so etwas in der Richtung, fand ausgerechnet zu der Zeit in Amsterdam statt, als wir dort spontan eine Übernachtung suchten. Und genau so war es dann auch. Tatsächlich gab es in diesem Zeitraum ein Antiglobalisierungsmeeting, ein Stones-Konzert und eine internationalen Kongress von irgendwelchen Computerfreaks. Alle besseren Hotels waren ausgebucht. Wirklich alle. Nichts zu machen. Die Stones-Leute verstopften die teuren Hotels, die Computerfreaks nahmen sich die weniger schlechten Pensionen und für die Globalisierungsgegner blieb ein fragwürdiger Rest übrig.
Zimmer und scheinbare Zimmer, Abstellkammern, die von zwielichtigen Vermietern mit Lederkappen und Mundgeruch auch schon mal doppelt vermietet oder überbelegt wurden. Nach dem wir 9 Stunden herumgeirrt waren, fanden wir auch etwas. Oder mussten vielmehr etwas nehmen, eine Art Hostel (im Dogmafilmstil, wie sich Michael gleich wieder mokierte) Gleißendes Energiesparlampenlicht auf einem 4 Bett-Zimmer, Wände mit künstlicher Folie beklebt, die Delfter Kacheln imitierte, grünlich schimmerte, dazu unbekannte Haare in einem gut beleuchteten Waschbecken. Ein dicker schwammiger Fußbodenbelag, der sich anfühlte, wie das Gummi auf einem alten Tischtennisschläger, sich zur Wand hin hochwölbte und abgründige Ritzen offenbarte, die ich ja nun leider nicht mit PUR-Schaum versiegeln konnte. Und ach wie überraschend zeigten sich dann selbstverständlich immer mehr Leute, die ebenso Anspruch auf dieses Zimmer anmeldeten, allesamt Globalisierungsgegner, die ihre Internetvorbuchungsbelege herumwedelnd einen aussichtslosen Wortwechsel anstrengten zwischen dem Vermieter, der jetzt plötzlich kein deutsch, kein portugisisch, kein englisch, kein französisch, kein polnisch mehr verstand und komischerweise auch kein niederländisch mehr. Stattdessen sich irgendwie achselzuckend abwinkend aus der Affaire zog und den 13 Personen das Problem mit diesem 4-Bett-Zimmer allein überließ. Michael hatte dann natürlich wieder seine speziellen Pupillen bekommen, was ich in dieser Situation nicht gerne sah, weshalb ich ihn aus dem Haufen heraus und beiseite zog.

Ziemlich gleichgültig, weil erschöpft, beinahe apathisch, schliefen wir, oder vielmehr: verbrachten wir die erste Nacht in irgendwie verknieter Hockstellung neben unserem Gepäck und zwei unschlüssig geöffneten Bierdosen.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Gefühlt ist es nicht das Zentrum ihres Körpers, aber die Niveacrememitte in ihrem Schlüsselbein. Weich und hart und wieder weich. Kein Ast, kein Stock, kein Gestänge, ihr Skelett. Darüber kein Leinen, keine Folie, sondern: Haut. Und wie Fledermausflügel vielleicht, nur eben viel voller – die Hände. Fünfgliedrige Manipulatoren. Evolutionsüberträger. Manövrierspinnen.
Die Fingerkuppen – kleine Glühlämpchen in matt. Und so ein Daumennagel? Blank wie der Rücken eines Käfers, der sich weigert zu fliegen.
Dann ihr Arm. Eine Wurst mit Gelenk. Kann man hoch heben, sehr gut. Muss man aber nicht. Ihr Ellenbogen? Ziemlicher Knüppel. Erstaunlich da wieder die Haut in der Beuge, mit dem Hauch von geschnittenem Gras, glatt wie Milch.
Ein Kopf ist kein Kürbis, aber schwer und hell und noch viel interessanter. Die Gummiteile da zwischen den Haaren sind Ohren. Noch was? Zwei bewegliche Bürsten über den Augen und hier: Nasenlöcher die Luftschleusen, kühlwarm aber hallo. Dicht darunter die Zungengarage, scharf bewacht. Über die Schanze des Kinns geht es talwärts, wieder zum Schlüsselbein und dann kommen die Ballons für den Kindergeburtstag, nicht ganz aufgeblasen, weil da steht noch was über, zwei Mal. Und nicht die Steppnoppe eines Clubsessels aus den 70igern sitzt da unten, sondern ihr Bauchnabel.
Den Kopf geneigt, das rechte Ohr dort angelegt lausche ich dem Gemurmel ihrer Magenwand, mein linkes Ohr öffnet sich zum Himmel und hört ganz weit oben, wie die Triebwerke SNECMA CFM56-3 von General Electric einen Airbus mit siebzigtausend Pferden durch den wolkenlosen Sonntag jagen. Tolle Technik.
„Wie ging es weiter.? – fragt Ulrike
„Wie ging was weiter?“ – frage ich.
„Die Reise.“
Ja. Irgendwann wurde es dann auch hell in Amsterdam. Wir waren in einen kurzen Schlaf geknickt. Beine. Schuhe. Rucksäcke. Draußen ein Müllwagen. Morgengräue. Als ich aufwachte, war Michael verschwunden. Ich fand ihn im Duschraum, wo er, den Blick auf weit gestellt, über einem energiesparlampenhellen Waschbecken lehnte und durch eine kleine Wolke von Fruchtfliegen in das Abflussloch schaute.
„Micha, alles klar?“ Ich hievte eine Munterkeit in den Morgen, wobei ich mich selbst auch sehr unten fühlte. „Lass uns irgendwo einen Kaffe trinken gehen. Schön in ein Frühstückskuchen beißen oder so. Waschen können wir uns später“
Der anbrechende neue Tag hatte mir trotzdem Mut gemacht. Orangeblaues Erwartungslicht lag in den Straßen dieser schönen Stadt. Wir gingen in ein Mc Donalds in der Leidseestraat, bestellten Muffins und Kaffee und schauten aus dem Fenster.
„Sieh es doch einfach mal so“ – sagte ich zu Michael – „es gibt doch auch schöne Filme. Und das hier ist vielleicht gerade einer. Heute wird ein schöner Tag. Und wir gucken uns die Stadt an. Oder von mir aus eben – diesen Film. Ist doch toll.“
„Die Filme kenn ich alle schon.“
„Ach komm, trink mal Kaffe, du kennst gar nichts. Ist doch albern.“
Solche oder ähnliche Dialoge hatten wir an diesem Tag noch öfter. Aber trotzdem muss ich sagen, dass ich immer darauf hoffte, dass auch seine seltene Lebensmüdigkeit auch einmal müde werden musste. Wenn eine Depression selbst depressiv wurde, dann konnte sie sich doch vielleicht aufheben, verschwinden. Auch eine Müdigkeit musste doch irgendwann einmal erschöpft sein.
„Das Lähmende ist doch vielleicht“, – sagte ich zu ihm – „dass du dich selbst nur immer wiederholst. Außerdem, glaubst du, es geht nur dir allein so? Guck dir doch mal den Typen da hinter dem Tresen an. Was meinst du, in welcher Dauersendung, in welcher Endloswiederholung der sich täglich befindet, vielleicht seit Jahren. Und der kennt weniger Filme als du.“
Michael sagte darauf: „Klar, der Typ spielt ja auch in meinem Film mit, den ich schon kenne.“
“Und du kannst dir nicht vorstellen, dass du eine Scheißfigur in seinem Scheißfilm bist, den er täglich sieht. Ein alberner Tourie mit Shorts, der in seinem Mac Donalds frühstückt?”
“Dann bin ich eben eine Scheißfigur in seinem Scheißfilm. Aber das interessiert mich nicht. Ich bin nämlich auch eine Scheißfigur in meinem Scheißfilm, so sieht’s aus.”
„Dann dreh’ einen besseren Film. Sei eine bessere Figur.“
„Da bin ich gerade dabei. Ich will nämlich aus allen Filmen raus.“ – sagte er düster.
Ich musste einsehen, dass ich kein Profi war. Kein Psychologe. Michaels Schwester hatte mir einmal erzählt, dass sie Michael auch schon einmal zu einem Therapeuten gedrängt hatte. Den hatte er aber in 3 Minuten abgefertigt, indem er diesem Psychologen erklärte, dass er, der Psychologe, eine Figur sei, die mit einer Mischung aus systemischem Personendrama, sexualanalytischen Elementen von Freud, tiefenpsychologischer Animusreflektion nach C G Jung und konstruktivistischer Subjekt-Umwelt-Reformation, seinen Klienten helfen wolle, dass er diesen Psychologen also sehr gut darstelle, indem er seinem Klienten Fragen stellte, oder durch vordergründige Schweigsamkeit zum Reden bringen oder irgendeine Schreitherapie oder sonst was initiieren wolle. Michael lobte diesen Therapeuten dafür, dass er seine Figur sehr gut verkörpere. Er hätte das schon schlechter gesehen. Das letzte Mal in irgendeinem alten Woddy Allen Film. Der aktuelle Film aber mache ihm Spaß und deshalb würde er jetzt damit beginnen, ihm im Stil von David Lynch und dem frühen Roman Polanski die emotionalen Frustrationen seiner Kindheit narrativ aufzubereiten. Der Therapeut hatte diese Sitzung dann schnell beendet, meldete sich noch einmal kurz bei der Schwester und war seit dem
nicht mehr erreichbar.
Diese Sache hatte ich komplett verdrängt, denn sie fiel mir eben in diesem Moment an unserem Frühstückstisch heiß wieder ein. Es bestand nun nämlich absolut die Möglichkeit, dass mich Michael von Beginn dieser Reise an komplett durchschaut hatte. Dann war ich geliefert. Aber wieso war er dann einverstanden gewesen, dass ich ihn begleitete? Wollte er mich mir selbst vorführen? War sein Theater gestern am Flughafen nur gespielt? Aber was hieß gespielt? Wenn er sich selbst als Figur in einem Film wahrnahm, dann war ich auch eine Figur. Es wäre dann ja wiederum unwahrscheinlich, dass er mit der Kategorie „gespielt“ überhaupt irgend eine Unterscheidung meinte, etwa zu dem, was man sonst mit „nicht gespielt“ bezeichnete. Dann war sein Ausraster am Flughafen gestern echt und gespielt zugleich. Die Unterscheidung wäre, in seiner Logik, ja komplett sinnlos, wenn es für ihn nur diesen einen Film gab, aus dem er raus wollte.
Damit hatte ich jetzt ein echtes Problem am Hals. Ich wusste nämlich nicht mehr, ob er als Regisseur den Film dieser Reise kontrollierte oder ich.
Ich beobachtete Michael, wie er aus dem Fenster schaute, an seinem Kaffee nippte.
Andererseits: Wenn er der Regisseur war, dann war er doch keine Figur im Film sondern außerhalb. Dann hätte sich sein Problem im Grunde doch erledigt.
Aber vielleicht wollte er noch nicht einmal Regisseur sein. Er war es eben nur notgedrungen, unbewusst, weil er, der Cineast, unfreiwillig über ein tausendmal größeres Reservoir an Realitäten verfügte, als ich selbst. Aber seine Antwort: „Da bin ich gerade dabei.“ auf meinen leichtfertigen Ausfall „einen besseren Film zu drehen“ beunruhigte mich jetzt trotzdem. Er suchte einen Ausgang, das Ende der Veranstaltung, und ich sollte ihm dabei helfen? Ich sein idiotischer Helfer? Ein lächerlicher Komparse? Ein Kabelträger? Das war Vertrauensbruch. Das war unverschämt.
Ein Kranker kränkt mich nicht. – das sagt sich so leicht. Und ich musste es mir innerlich schließlich auch sagen. Trotzdem war meine Integrität in dieser Sache verunsichert. Leicht beschädigt sogar. Alles was Michael nun sagte oder nicht sagte, tat oder nicht tat, nährte ganz ungewollt auch immer ein dubioses Verdachtsmoment in mir. Wie sollte ich mich davon freihalten? Und überhaupt – wieso fühlte ich mich eigentlich verantwortlich für ihn? Er war doch erwachsen. Sollte er sich doch von mir aus in seinem albernen Bermudadreieck von Außerirdischen entführen lassen. Das wäre ihm eine Belehrung, sich plötzlich in einem drittklassigem Science-Fiktion wieder zufinden, aus dem er dann nie wieder herauskam, eben keine bequeme wissenschaftliche Methanblase, sondern ein demütigendes Ufo aus einem Film mit Staubhülle aus der hintersten Reihe einer Videothek, der noch nicht mal in die Kinos gekommen war, ein richtig schlecht gearbeiteter Film mit dem schönen Titel „Verschollen im Bermudadreieck“, in dem er dann ewig gefangen gehalten würde von peinlichen Gummi-Aliens, die ihn in ihrem Plastik-Raumschiff, das innen viele unverfugte Ritzen offenbarte, von dieser schönen echten Erde zu ihrem Modelleisenbahnerplaneten mitnahmen. Dann würde er sich zurücksehnen zu diesem wunderbaren Mc Donaldsfilm in diesem wunderbaren Amsterdamfilm. Aber dann wäre es eben zu spät! Ich wollte ihn jedenfalls nicht dorthin begleiten.
Diese Dinge gingen mir durch den Kopf, während wir wieder auf die Leidseestraat hinaustraten. Tatsächlich hatte ich auch kurz den Impuls, für mich die Reise abzubrechen, und ihn vor die Alternative zu stellen, vernünftig zu werden, oder eben allein weiterzukommen. Aber die Stadt war jetzt schön, der Tag noch frisch, und nach dem Frühstück zeigte sich Michael nun wieder ganz aufgeräumt, beinahe aufgehellt für seine Verhältnisse, und ich wollte mir meinen Amsterdambesuch nicht verderben lassen, weshalb ich die Entscheidung über mein weiteres Vorgehen noch etwas aufschob.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Zwischen Ulrike und mir hat sich etwas ergeben. Aber wie gehen wir jetzt mit den Pärchenabenden um? Es gibt ja noch die Anderen. Also mit Einladungen zum Essenkochen und Reden bei Freunden und so.
Beispielsweise: Sie1 hat eine neue Stelle (Traumjob) und möchte das feiern, auch weil Sie1 jetzt endlich mit Er1 in die neue Wohnung mit der tollen Küche gezogen ist. Und das eben mit Er2 und Sie2, jetzt wo so viel mehr Platz ist, auch mal einweihend genießen möchte. Ja. Ist doch auch mal ganz schön. Ein bisschen Fingerfood, dann was Warmes und danach – endlich wieder selbst gemacht – leckeres Tiramisu. Sie3, Er3 und Sie4 könnten vielleicht auch noch dazukommen. Nicht immer nur in der Notbremse herumsitzen. Man muss auch mal feiern können. Es kann auch mal etwas sozialer, ein wenig zugewandter zugehen. Schön ein Prosecco mitbringen. Füße abtreten…
Ja. Doch. Warum nicht.
Keine Frage – in der Notbremse ist es auch ganz schön.
Warum treffen wir uns dann nicht in der Notbremse? Dem AC/DC – Hans einfach Bescheid geben, noch ein Tisch dazustellen, und dann kann Sie1 von ihrer neuen Küche erzählen, ohne das wir dabei direkt in ihrer neuen Küche sitzen.
Aber Sie1 möchte ihre neue Küche eben auch mal zeigen, einweihen, benutzen. Es geht gar nicht so sehr um die neue Küche. Es geht darum, dass man sich mal wieder sieht.
Ja – sicher.
Aber Sie1 und Er1 waren noch nie in der Notbremse. Ihre neue Küche haben sie immer. Wäre doch für beide auch mal ganz interessant. Und sehen und reden kann man da auch ganz gut.
Ulrike beharrt auf die Notbremse. Am Telefon.
Im Grunde kann ich sie ja verstehen. Wie war das noch gleich mit der Schaukel? Die Nebengeräusche des Sozialen. Erst ganz leise, und dann werden sie immer lauter. Sie mag es nicht, dieses Füße abtreten und diese neuen Küchen.
Ich verstehe es. Und mache deshalb einen Kompromissvorschlag: Wir 4 könnten uns ja auch ganz woanders treffen. Also weder in der Notbremse (die gehört nur uns beiden!) noch in der neuen Küche von Ihr1, sondern eben woanders.
Wo?
Na was weiß ich… vielleicht in einem Spielcasino.
Das findet Ulrike eine tolle Idee. Und das Tiramisu? Scheiß drauf.
Aber das Spielcasino war nur so ein blöder erster Einfall von mir gewesen.
Nein, nicht blöd. Ist gut. Das machen wir.
Ich werde Sie1 also anrufen und sagen, dass wir uns freuen, Sie1 und Ihn1 zu sehen. In einem Spielcasino. Und Ihr3 und Ihm4 können wir auch Bescheid geben.
Ulrike hat Recht. Man muss aufpassen. Keine neuen Küchen. Kein Tiramisu.
„Warum denn in einem Spielcasino.?“ – fragt Sie1, als ich sie anrufe.
„Na weil es vielleicht dort ganz lustig sein kann. Wie schauen den Leuten beim Verlieren zu oder verlieren selbst ein bisschen, und nette Sitzecken gibt es dort auch, wo man sich gut unterhalten kann. Und eine nette Bar. Vielleicht gewinnen wir ja auch“
„Aber wir wollten Euch doch zu uns….“
„Ja, aber in einem Spielcasino ist es doch viel interessanter, also ich meine… ihr müsst hinterher nicht abwaschen…“
„Das ist aber doch etwas ganz anderes. Ich wollte was Schönes kochen und so…“
„Ja ich weiß, die schöne neue Küche, aber die läuft ja nicht weg.
„Wieso wollt ihr uns denn nicht besuchen?“
Wir wollen Euch ja besuchen, darum geht es nicht, aber wir könnten doch zusammen irgendwas machen…“
„Hm.“
„Na wir dachten schon daran, einmal bei Euch vorbeizuschauen, als Überraschung, also Eure neue Wohnung gucken wir schon noch an, aber jetzt, so verabredet, wäre doch so ein Spielcasino irgendwie lustiger.“
„Ja na gut. Okay. Müsste ich mal Ihn1 fragen, ob er auch darauf Lust hat. Ich ruf dich noch einmal zurück.“
Ulrike nennt das „Ereignispflege.“ Sie sagt, sie hätte nichts gegen Rituale einzuwenden, aber man müsse wachsam bleiben. Rituale – ja.
Zwangsläufigkeiten –nein.
Irgendwie spüre ich, dass sie damit richtig liegt.
In diesem Fall hatte sie wirklich richtig gelegen. Der Abend im Spielcasino war schön. Wir mussten uns zwar schmerzhaft teuer betrinken, haben aber gut mit eindander geredet. Sie1 hat von ihrer neuen Küche und dem neuen Job erzählt und konnte sogar, ganz unerwartet, am Rouletttisch einen kleinen Gewinn einstreichen. Gut, wir mussten uns auch hier am Eingang zwar nicht die Schuhe ausziehen, aber eine Krawatte umbinden, aber immerhin kam es dann nicht, wie im anderen Fall sonst, zu später Stunde, wenn das Tiramisu alle war, zu ausschweifenden weltpolitischen Diskussionen, bei denen wir alle immer Recht hatten, weil wir alle gleichermaßen betroffen waren von den Ungerechtigkeiten dieser Welt; oder es drohte auch nicht der unvermeidliche Vorschlag, Abba aufzulegen, weil alle auch hier ganz zu Recht der Meinung waren, dass das immer noch oder schon wieder einfach „ganz große Musik“ sei. Und schließlich musste auch niemand von seinen Kokainerlebnissen berichten. Dafür passierte einfach zu viel. Deshalb hatte ich auch Ihn3 und Sie4 lange nicht mehr so ausgelassen erlebt. Sie haben sich sehr gefreut an diesem Abend. Obwohl sie nichts am Rouletttisch einstreichen konnten.
Ereignispflege.Vielleicht liegt es auch an Ulrikes Job, dass sie in diesen Dingen so achtsam geworden ist und gewissen Nebengeräuschen gern eine veränderte Tonart gibt. Sie verdient ihr Geld bei einer Zeitschrift einer Krankenkasse als Layouterin. Damals, noch bevor wir uns das erste Mal sahen, hatte sie mir über ihre Arbeit geschrieben und erzählt, dass sie sich manchmal schon einen ganzen Tag lang mit Schatten beschäftigt habe. Kleine Schatten. Große Schatten. Randschatten. Schattierungen. Rötliche Schatten. Gespiegelte Schatten. Schattenverläufe. Typoschatten, Abschattungen, Schattenfilter, weiche Schatten, scharfe Schatten,
Schattenwerte. Sie nannte mir aber auch Schattenauflösungen, Körperschatten. Schattengrenzen, simulierten Schatten, ein implementiertes Schattentool in ihrem Programm mit allen möglichen Graden, Werten und Stufungen von Schatten.
Sie hatte geschrieben, dass es diesmal einen investigativen Artikel zur „Vitaminlüge“, betraf, in dem ein Redakteur irgendwas über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit von Vitaminpräparaten zusammengegoogelt hatte, was er dann aufbereitet haben wollte, gemeinsam mit dem eingebetteten Interview eines Ernährungsmediziners. Der Schatten, den sie produzieren sollte, galt der Abbildung eben eines solchen Röhrchens mit Vitamintabletten, dass hier in dem Artikel zur Vitaminlüge in Frage gestellt wurde. Schließlich bekam dieses Röhrchen von ihr einen sehr dämonischen Schatten angehängt. Es sollte nämlich seinen Schatten im Sinne des Wortes: werfen – lang und dunkel in den Artikel hinein, bis über die Schrift, beispielhaft für die vielen windigen Anbieter von unwirksamen oder sehr zweifelhaften Vitaminpräparaten, die eine unseriöse, geradezu eine Schattenwirtschaft betrieben und im Schattenreich mangelhafter Information sich an der Vitaminlüge bereicherten. Die Diskussion um den Schatten hatte sich bei der Redaktion so lange hingezogen, weil der Redakteur sich eine Weile nicht sicher war, ob man das Vitaminröhrchen ganz generell „so schlecht dastehen lassen durfte“ denn es gab ja auch einige wenige seriöse Hersteller und solche die ausreichend darüber informierten, dass Vitaminpräparate allein, nur ergänzend, nicht aber komplett den Vitaminbedarf decken konnten. Außerdem war er auch eine Zeit lang der Meinung gewesen, dass eben ein Artikel, der über die Vitaminlüge berichtete, ja ganz im Gegenteil gerade zur Aufhellung der Thematik beitrug, weshalb man das Röhrchen ja eben gerade nicht im Schatten zeigen durfte, vielmehr im hellen Licht der Aufklärung u.s.w. Als aber dann in einer Phase der Unentschiedenheit das Röhrchen einen unentschiedenen Halbschatten warf, also in das undeutliche Zwielicht einer gelblichen Aura getaucht war, mit einer an den Rändern ins Graue spielenden negativen Rand-Schattierungsmaßnahme, die aber auf Grund irgendeines Komplementäreffekts doch irgendwie rötlich schimmerte, sah der Redakteur ein, dass es so auch nicht funktionierte, und entschied schließlich mutig die deutliche und rückhaltlose visuelle Dämonisierung des in Frage stehenden Vitaminröhrchens mit einem alten Klassiker von Schatten, eben dem bekannten detektivromanartig wirkenden und investigativ dramatisch gehaltenen dunklen Grau-Schattenwurf, der das Vitaminröhrchen ohne Zweifel nun deutlich schlecht oder wenigstens sehr verdächtig in Szene setzte.
„Vitaminlüge. Keine halben Sachen. So machen wir es!“ – hatte dieser Redakteur dann zu sich und zu Ulrike bestätigend gesagt.
Und Ulrike hatte mir dann dazu abschließend geschrieben: Siehst du. Ich will damit sagen, dass ich auch Schattenseiten habe. Vielleicht bin ich die Meisterin der Schatten. Ich habe eine dunkle Seite in mir. Etwas Dämonisches. Etwas Geheimnisvolles. Und das dann entgegen ihrer Gewohnheiten mit einem 😉 punktiert.

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„Warst du nun in seinem Film?“ – will Ulrike wissen.
Ich kann die Frage auch heute nur schwer beantworten. Aus Michaels Perspektive war ich es wohl. Aus meiner eigenen, sofern sie nicht von ihm und seinem Reservoir an Wirklichkeiten vereinnahmt wurde, war ich es nicht. Ich wollte mich auch nicht allzu vielen Grübeleien hingeben. Ich sah mich zunächst in einer Freiheit stehend. Die Freiheit, ihn allein weiterreisen zu lassen. Allerdings war mir dann bald auch klar geworden, dass diese Freiheit nur für den Moment galt und sich möglicherweise zu einem sehr vorhersehbaren und unangenehmen Drehbuch verengen konnte – nämlich dann, wenn Michael tatsächlich im Bermudadreieck verschwand und nicht wieder, wie sonst üblich, „unverrichteter Dinge“ nach Hause zurückkehrte. Dann nämlich erwartete mich ein Film aus Vorwürfen, zum Beispiel von seiner Schwester oder solchen, die ich mir selbst machen würde. Und von diesem Film, wäre Michael dann erst Recht der Regisseur gewesen. Noch über seinen Abgang hinaus. Während er selbst aus allen seinen Filmen verschwunden war, hätte er uns als Akteure in ein Drehbuch aus Zweifeln eingeschrieben. Mit all den hässlichen Szenen, die dazugehörten, wie Selbstbezichtigungen, Beschimpfungen, Verantwortungszuweisungen etc…
Er hätte uns Zurückgebliebene zu Hauptdarstellern eines in ewige Dreharbeiten fallenden Testaments verwandelt, aus dem wir nur schwer wieder herausgefunden hätten.
Mir ist inzwischen klar geworden, dass Michaels klare Ankündigung seines Vorhabens für alle engen Freunde und Angehörigen, von denen es nicht eben viele gab, bereits ein hinterhältiges Casting einleitete, ihnen die Rollen zuwies.
Dies alles gehörte zu den Erwägungen, die mich die Reise dann doch mit ihm fortsetzen ließen. Und ich wollte mir die Deutungshoheit, über das, was geschah, auch für die Zukunft nicht von einem kranken Menschen aus der Hand nehmen lassen.
So verbrachten wir dann diesen Tag in Amsterdam. Nicht gerade gesprächig, und zunächst noch müde, wegen der vorangegangenen unbequemen Nacht, schlenderten wir durch – die Kulissen – hätte ich beinahe gesagt, dieser schönen verwässerten Stadt.
Nachdem wir ungefähr 3 Stunden auf einer Wiese im Vondelpark vor uns hingedöst und etwas Schlaf nachgeholt hatten, kam mir der Gedanke, ob ich Michael vielleicht doch, möglicherweise, zum Besuch eines Coffeeshops verleiten sollte: „Ja,ja, Micha, ich weiß, es ist nicht sehr primär so etwas zu tun, ein ganz olles Movie, aber ich hätte trotzdem Lust, was zu rauchen, jetzt wo wir eben schon mal hier sind, sollten wir uns auch wie anständige Amsterdam-Touristen benehmen und nicht so tun, als seien wir in irgendeinem anderen Land …“
Ich spekulierte darauf, dass so ein bisschen gutes Marihuana sich vielleicht doch irgendwie deeskalativ auf seine überspannte Psyche auswirkte. Seine prekäre Nüchternheit, seine echsenhaft reglose, aber zugleich überklare, jeden Genuss aussperrende Verfassung ging mir allmählich auf die Nerven. Es war mir inzwischen auch ziemlich egal, welche Wirkung das Ganze nun speziell in seinem Filmvorführraum entfaltete. Im Grunde war ich sogar auf eine schlechtgelaunte Art neugierig. Beinahe bösartig. Eigentlich hatte ich sogar Lust, ihn voll zu dröhnen, mit schlankstieligen Psychopilzen vom feinsten Kuhfladen, dazu gutes Blütenharz, zwei große Schultüten in die Nasenlöcher, drei oder vier Schnäpsen, Briefmarke auf die Zunge, Pattex auf die Oberlippe, und dann noch die neueste Synthetik hinterher rollen lassen, so dass er dann eben mit gelähmten Augenliedern und Uhu – Blick auf einem Stuhl in seiner persönliche ersten Reihe saß, und endlich mal merkte, was ein richtiger Film war, verdammt noch mal.
Aber natürlich, kaum hatte ich vorsichtige Versuche unternommen, ihm vorzuschlagen, dass man sich vielleicht in Richtung eines harmlosen Coffee-Shops bewegen könnte, kam er mit dieser Art von Argumenten, die ich in ihrer weltvergeudenden Bräsigkeit an ihm zu hassen lernte: „Du weißt, wer Drogen nimmt, ist ein schwacher Mensch, ja? Das weißt Du?“ Wenn er diese Frageblinddärme an seine Sätze hängte, dann wusste ich, dass mir jede Möglichkeit auf Initiative genommen war. Da war er wieder, Micha der Psychopath. Unglaublich wie krank und kaputt jemand wirken kann, der Drogen keine Chance gibt.
„Es war ja nicht meine Idee, diese Stadt zu besuchen.“ – sagte er dann noch.
„Mein Gott Micha – du hast ein abgebrochenes Medizinstudium, eine abgebrochene Betriebswirtschaftslehre, eine inoffizielle Professur im Filmegucken, und verdienst dein Geld als Gebissprothesenkurier für Zahntechnikerlabore, und jetzt sagst du: Es war ja nicht meine Idee… meinst du nicht, dass es dann mal wieder Zeit wäre, irgendeine Idee zu haben…?“
„Du musst mir keine Fragen stellen.“ – antwortete er.
Bla Bla und so weiter. Weil ich für den Moment keine Lust mehr auf seine Anwesenheit und diese unerfreulichen Diskussionen hatte, schlug ich vor, dass wir uns für ein paar Stunden trennten. Ich wollte noch etwas von der Stadt sehen, während er von mir aus hier im Park oder sonst wo vor sich hin stieren konnte.
„Na gut, sagte ich, wir sehen uns nachher im Hostel. Ich guck mir jetzt die längste Tabakspfeife der Welt an oder den schwimmenden Blumenmarkt.“
Was ich dann aber nicht tat. Es war nämlich sehr warm geworden. Und so freute ich mich, als ich bald einen schattigen Platz fand, auf einem Liegestuhl, mit Wasserblick, netten Menschen, freundlicher Bedienung, klingelnden Eiswürfeln, einschläferndem Stimmengewirr und braunen Beinen, die ab und zu dicht vor mir standen. Ich ließ mich ins Gestell plumpsen und wollte bis zum späten Nachmittag nichts mehr an meiner Körperhaltung verändern. Es war herrlich, endlich allein zu sein. Wieso hatte ich eigentlich diesen Idioten bei mir? Was sollte das Ganze eigentlich?
Dösen. Blinzeln. Auf nach Puerto Rico. Mit diesem Selbstmörder. Ich weiß nicht, wann es genau angefangen hatte damals mit Michael, dass er so düster wurde. Immer verschrobener. Wir kennen uns ja schon eine ganze Weile, ungefähr seit den frühen Neunziger Jahren. Seit unserer frühen WG in Leipzig. Ein wirklich witziger Vogel war er gewesen. Stand irgendwann in einem alten FDJ-Hemd und einer Stehlampe in der Hand gut gelaunt vor unserer Tür, weil wir ein Zimmer zu vergeben hatten. Ins Kino ging er damals schon gerne. Die schöne Zeit, kurz nach dem Abitur, kurz nach der Wende, als im Osten alles so offen war. Dauerte nicht lange, vielleicht ein dreiviertel oder ein ganzes Jahr. Dann musste eben jeder auch sehen, was er macht. Die übliche Geschichte eben. Er ist dann mit seiner Freundin zusammengezogen, man hat sich aus den Augen verloren, dann wieder telefoniert, alle halbe Jahre dann doch wieder auf ein Bier getroffen, keine Ahnung… Ende der 90iger kamen dann diese komischen Filme auf mit den krikeligen elektronischen Bildern, die kleinen beweglichen Kameras, Dogmafilme, von denen erzählte er einmal sehr ausführlich. Hat mich nicht sehr interessiert. Fing es damit an? Dann war wieder lange Zeit Funkstille. Die ersten Jobs nahmen uns in Anspruch. Jeder hatte mit sich zu tun. Irgendwann hatte mich dann seine Schwester angerufen und mir erzählt, dass etwas mit ihm nicht stimmte und siehe da, auch er wohnte jetzt in Berlin. Na ja, seitdem sahen wir uns wieder öfter und seitdem war ich auch eingeweiht in diese Sache, die ich anfangs für einen Spleen hielt. Es gab ja nicht eben wenig spleenige Leute in meiner Gegend. Der Wendezauber war aufgebraucht und die Zeit forderte eben von jedem plötzlich irgendwelche Projekte ab. Es gab ja auch viel zu entdecken und zu tun. Wer kannte schon so genau den Unterschied zwischen einem Spleen, einem Projekt oder einem Job. Jeder war eben irgendwie beschäftigt.
In Amsterdam ließ es sich wirklich aushalten. Schöne Stadt. Naja, vielleicht ein bisschen viel Touristen.
Wenn ich heute so darüber nachdenke, dass ich damals mit einem offensichtlichen Selbstmörder in einem Flugzeug gesessen habe, der mich in seinem Vorhaben als mentale Geisel seiner cinematographischen Obsession mehr oder weniger unbewusst gefangen hielt, dann möchte ich Ulrike augenblicklich und ganz innig für den ersten Punkt auf ihrer Liste umarmen.
„Es ist eigentlich verrückt.“
„Was ist verrückt?“
„Na ich meine den 1. Punkt damals auf deiner Ausschlussliste.“
Es war wirklich ganz falsch gewesen, in Folge der Mobilmachungen nach dem 11. September, gegen Amerika zu demonstrieren. Überrascht es dich, wenn ich dir sage, dass Michael damals schnell zu den Sympathisanten dieses Anschlags zählte? Er hat diese Leute für ihre Tat erst insgeheim und dann immer offener bewundert. Während er später dann ganz automatisch zum Anhänger all jener Verschwörungstheorien wurde, die der amerikanischen Regierung einen geplanten autoagressiven Akt unterstellten, um alle Welt im Kampf gegen das Böse zu versammeln. Diese ganze Geschichte hatte ihn damals ziemlich aufgeladen. Sie passte gut in seinen Komplex.
„Nach allem was du bis jetzt von ihm erzählt hast, überrascht es mich nicht, aber welchen Punkt meinst Du, auf welcher Liste?
„Du hast mir doch damals, als wir uns kennen lernten, so eine komische Ausschlussliste geschickt. Als 1. Punkt hast du da geschrieben, dass wir beide nie auf eine dieser Demos gehen sollten. Darüber haben wir übrigens nie wieder gesprochen.“
„Daran erinnerst du dich?“
„Es ist mir gerade wieder eingefallen. Ich finde das lustig.“
„Ja. Weißt du, warum ich das hingeschrieben habe damals. Ich hatte das Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die ganz und gar Recht hatten. Es war so ein spontaner Impuls von mir. Ich hatte mir damals die Hölle vorgestellt. Ich stellte mir die moderne Hölle als einen gut klimatisierten Raum vor, nicht zu kalt, nicht zu warm, in dem man bis in alle Ewigkeiten eingeschlossen war mit anderen Menschen, die Recht hatten, die also alle das Richtige dachten, fühlten und sagten und sich gegenseitig beipflichteten. Das höllischste aber ist, dass man selbst da drin sitzt und wie alle anderen auch das Richtige denkt und fühlt und sagt, in voller Übereinstimmung bis in alle Ewigkeit. Ohne Türen und Fenster. Also man liegt eben wirklich ganz und gar richtig, und es gibt keine Aussicht auf einen befreienden Irrtum. So stelle ich mir die Hölle vor. Als einen Ort ohne Irrtum. Und diese Demonstrationen damals empfand ich als eine Art Vorhölle.“
„Ich glaube, ich verstehe dich. Ich verstehe dich gut.
„Du verstehst mich?“ Das ist schön, aber bitte versprich mir, dass du mich nicht nicht ganz und gar verstehst, sondern nur ein bisschen.
„Ich verspreche es. Gib mir deine Hand.“

(Fortsetzung nach der Werbung.)
Wenn man sich eine Weile schreibt, ohne dass man ein Bild des Anderen vor Augen hat, dann macht man sich natürlich gewisse Gedanken. Auch uns war es so ergangen damals. Manchmal war auch nur eine kurze Mail von ihr gekommen, morgens, wenn wir beide in unseren Büros saßen, in der sie mir zum Beispiel einen Guten Tag wünschte und mir zum Scherz die Zusammensetzung ihres Frühstücksmüslis erläuterte. Ich konnte mir dann alles ziemlich genau vorstellen. So sah ich ihre Tatstatur vor mir, einen großen Grafikbildschirm mit Lichtblende, ein Müslischälchen (Köllnflocken mit klein geschnittenen Bananen) eine Maus, eine Tasse Kaffe (geweißt mit Kondensmilch.), ein Mousepad, dass mit Marienkäfern bedruckt war (auch das hatte sie mir beschrieben) und vielleicht noch die hellgraue Oberfläche ihres Schreibtischs, auf dem in einer Ablage einige ältere Ausgaben der Krankenkassenzeitschrift „Rundum gesund.“ sich stapelten. Aber die Person selbst, die davor saß und dies alles beschrieb, verschwand im Niemandsgrau des Ungewissen.
Ich revanchierte mich mit der Schilderung meines sandfarbenen Bürotischs, auf dem ebenfalls ein mousepad lag, allerdings ohne Marienkäfer, neben einer Tasse Morgenkaffee (den ich mit normaler H-Milch weißte), einem Teller mit einem Käse- und einem Eiersalatbrötchen, sowie einem Telefon, das bei mir noch eine etwas größere Rolle spielte als etwa der Computer. Ich beschrieb ihr diesen Apparat, sachlich weiß, aber schon auch etwas angegilbt, der im unteren Segment an das lange Klingelschild eines Hochhauses erinnerte, denn dort waren bei einer ganzen Reihe Kurzwahltasten, die alle belegt waren, improvisierte Zettel mit entsprechenden Abkürzungen oder Namen aufgeklebt. Außerdem stand ein halb ausgepackter Karton da, der per Luftpost aus Peking eingetroffen war und die ersten Muster der Plüschbratwürste mit den dazugehörigen Plüschbrötchen enthielt, bei denen aber eine Farbverwechslung (Die Brötchen waren dachziegelrot, die Würstchen senfgelb) eine Reklamation beim Hersteller notwendig machte.
Zu dieser Zeit kreierten wir, wie schon erwähnt, auch unsere gemeinsamen Ausschlusslisten. Das heißt, ich hatte eigentlich gehofft, dass diese Liste bei ihr in Vergessenheit geraten war, aber sie hatte immer mal wieder, zumeist am Ende eines Mailwechsels, fragend darauf Bezug genommen, so dass ich ihr schließlich in einem Anflug von Albernheit und Ratlosigkeit einen 2. Punkt nannte. Weil ich also nicht darum herum kam, schrieb ich ihr deshalb als 2. Punkt, was wir, (die wir ja eigentlich keine feste Beziehung wünschten) auf keinen Fall zusammen machen sollten:
„mit einem Liegerad fahren.“
Und das wiederum hatte Ulrike in eine ganz überraschende Verzückung gesetzt. Denn sie schrieb mir zurück, dass sie diesen Punkt als ganz außerordentlich gut gewählt empfand. So gut, dass sie nun doch neugierig geworden war, mich in natura kennen zulernen. Tatsächlich haben wir uns dann noch am selben Abend in der Notbremse getroffen, die auf etwa halbem Wege zwischen unseren Wohnbezirken liegt.
Ich erinnere mich daran, weil ich die Sache mit dem Liegerad damals zwar einerseits ziemlich gedankenlos aus der Luft gegriffen hatte (man kann soviel ich weiß sowieso nicht zu zweit auf einem Liegerad fahren, jedenfalls habe ich noch kein Liegeradtandem gesehen, noch habe ich jemals in meinem Leben ein Pärchen beobachtet, dass einen gemeinsamen Ausflug mit zwei Liegerädern unternommen hätte.) sie aber andererseits nicht ganz willkürlich von mir erfunden war. Denn ein Liegerad – oder besser – ein Liegeradfahrer gehörte seit meiner Reise mit Michael zu den seltsamsten Erinnerungen, die ich mit unserer Ankunft in San Juan und auch mit einem Teil unseres Aufenthalts dort verbinde.
Dazu kommt, dass eben die Geschichte mit dem Liegerad am selben Abend in der Notbremse nicht mehr zur Sprache gekommen war, weil wir viel zu aufgeregt oder eingenommen waren von der Situation, sich plötzlich gegenüber zu sitzen, so dass bestimmte Einzelheiten, die im vorangegangenen Briefwechsel wichtig waren, hier in der Aktualität unseres Gegenübers einfach unter den Tisch fielen.
Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, ob Ulrike damals in der Notbremse erwähnt hatte, was sie selbst mit dem Stichwort Liegefahrrad verband. Was mir heute umso merkwürdiger erscheint, da ja dieses Stichwort offenbar dazu geführt hatte, dass wir uns noch am selben Abend gegenübersaßen. Auch kannte sie ja meine Odyssee mit Michael noch nicht.
Vielleicht gehört diese ganze Sache ja auch zu den optischen Täuschungen, denen Erinnerung unterliegt, wenn allzu viele Ereignisse sich in einem kurzen Zeitraum verdichten. Weder Ulrike noch ich selbst können unseren Briefwechsel von damals genau reproduzieren, da die Plattform alle Mails nach 6 Wochen automatisch gelöscht hatte, und wir beide waren nicht auf die Idee gekommen, etwas davon zu kopieren oder sonst wie aufzuheben.
Sehr sicher bin ich mir aber, dass ich ihr diesen 2. Punkt mit dem Liegerad genannt hatte. Deshalb bleibe ich auch bei meiner Behauptung, dass die Liegeradfahrer dieser Welt wenigstens zum Teil auch dafür verantwortlich sind, dass Ulrike und ich uns an eben an diesem Abend in der Notbremse verabredet haben.
Natürlich habe ich sie inzwischen darauf angesprochen. Sie sagte, sie sei so verzückt von diesem Punkt gewesen, weil in dem Hausflur, in dem sie ihre erste eigene Wohnung bewohnte, ein Liegerad („ja tatsächlich“) gestanden hatte. Zwei Jahre lang, ohne dass es jemand benutzt oder gestohlen hätte, war sie an ihm vorbeigelaufen. Es gehörte angeblich zu einem Mann, der als Untermieter oder Zwischenmieter entweder im Hinterhaus oder Vorderhaus irgendwo lebte, den aber nie jemand antraf, weil er nur selten da oder nie wirklich eingezogen war. Insofern war dieses Liegerad, das an sich schon in seiner ungewöhnlichen Konstruktion auffiel, auch immer, sozusagen täglich, bei ihr mit der Frage verbunden, wem „dieses Ding“ nun eigentlich gehörte.
Aber es war ihr auch nie wichtig genug gewesen, um deswegen ernsthaft zu recherchieren. Insofern hatte sich durch meinen albernen Einfall im 2. Punkt eher zufällig ein imaginärer Schnittpunkt in unserer Biografie offengelegt, der ebenso beiläufig wie markant war.
Um so erstaunlicher finde ich es, dass wir erst vor kurzem wieder auf diese Sache zurückgekommen sind. Zugegeben, es ist eine Nebensache, aber vielleicht doch noch einmal zur Erklärung: Ein Liegerad ist ein Fahrrad, dass so konstruiert ist, dass der Fahrer beim Fahren nicht aufrecht sitzt, sondern er liegt oder hängt wie in einer Hängematte, während die Beine beim Treten in der Waagerechten arbeiten und oft auch die Lenkung übernehmen.
Für jemanden, der sich absolut nicht für Liegeräder interessiert, so wie ich zum Beispiel und wahrscheinlich die allermeisten Menschen, gehört so eine Konstruktion zu jenen Erscheinungen, von denen man wohl weiß, dass es sie gibt, zum Beispiel fragwürdig und herrenlos in einem Hausflur, oder die auch flüchtig im Straßenverkehr begegnen können, aber darüber hinaus keinen weiteren Gedanken wert sind, es sei denn man wird durch irgendeine Begebenheit dazu angeregt, wie ich damals in San Juan, Puerto Rico, und eben durch den Fakt, , dass – witzigerweise, müsste ich eigentlich sagen – auch Ulrike ihre „Liegeradgeschichte“ hat, was ich als absolut unwahrscheinlichen und seltenen Zufall werte und mich auch ein Stück weit dahin gebracht hat, unserer Begegnung etwas Unbedingtes beizumessen.
Schließlich muss ich Michael einen sehr wesentlichen Anteil an der „Liegerad-Angelegenheit“ zubilligen, auch wenn mir damals die begleitenden Umstände alles andere als angenehm waren. Dazu aber später.
Zunächst waren wir ja noch in Amsterdam.
Ich war am späten Nachmittag in das Hostel zurückgekehrt. Zu meiner Erleichterung sah ich Michael auch gleich unten im Empfangsbereich inmitten einer abgeschabten Sperrmüllsitzgruppe geradezu lebhaft in eine Diskussion mit drei Globalisierungsgegnern verwickelt.
Da war er also vorerst gut aufgehoben und ich musste mir um ihn keine Gedanken machen. Er hatte meine Ankunft noch nicht bemerkt und deshalb beschloss ich, ohne dass er mich sah, mich im Rücken der Sitzgruppe, gedeckt durch einen Vorbau des Empfangstresens, zur Treppe in den ersten Stock zu begeben, wo wir unser Gepäck in Schließfächern verstaut hatten.
Aber auf halber Höhe vernahm ich eine Art inneres Klopfzeichen, das mich innehalten ließ. Irgendetwas stimmte nicht. Dass Michael im Laufe des Tages starken Stimmungsschwankungen unterworfen war und er in Folge dessen durchaus auch manisch kommunikative Phasen hatte, war mir bekannt.
Aber wenn ich da jetzt richtig hörte und mich dazu auch an unsere gestrige Ankunft erinnerte, waren wir beide hier die einzigen deutsch sprechenden Gäste. Was aber von der unteren Sitzgruppe an mein Ohr drang, war kein deutsch. Ich bewegte mich ein paar Stufen zurück, so dass ich aus meiner Deckung heraus erneut einen Blick auf die Diskussionsrunde werfen konnte. Und so sah und hörte ich deutlich: Michael diskutierte mit seinen Gesprächspartnern, und zwar ohne zu gestikulieren – auf spanisch. Und zwar fließend. Wie das? Seit wann sprach er spanisch? Und noch dazu so lässig, unangestrengt? Gab es hier irgendwelche neuartigen Drogen…?
Nachdem ich die Gruppe ungefähr eine halbe Minute beobachtete hatte, ging ich hoch zu meinem Gepäck, kramte mein Handy hervor und rief Michaels Schwester an.
„Völlig unmöglich, nein, Michael beherrscht keine Fremdsprache, woher sollte er…?
„Ich habe es aber gehört und gesehen.“
„Bist Du sicher?“
„Ja, sehr sicher.“
„Du irrst Dich nicht?“
„Wieso sollte ich mich irren, er sitzt gerade da unten und parliert in spanisch, also hör mal…wie gut kennst du eigentlich deinen Bruder?“
„Hm.“
Ja, hm ist gut. Weißt du, ich spreche nämlich selbst kein spanisch. Und …hm… ich weiß jetzt auch nicht, was sich noch so alles herausstellt bei deinem Bruder, und hmm… ich fühle mich damit auch nicht wohl…, sorry ich bin gerade ein bisschen durcheinander, muss nachdenken, ich ruf dich wieder an, tschau.“
Seine Schwester konnte mir also auch nicht weiterhelfen.
Als ich die Treppe wieder hinunter gestiegen war und den Empfangsbereich betrat, hatte sich die Gruppe offenbar aufgelöst. Michael saß allein auf dem Sofa und nickte mir zu.
„Sag mal kann es sein, dass du dich gerade auf spanisch mit den Leuten hier unterhalten hast?“
„Welche Leute?“
Na die Jungs, die hier gerade bei dir gesessen haben. Du hast dich doch gerade mit ihnen unterhalten. In spanisch.“
„Hä…? welche Jungs?“
Okay. Gut. Ich wusste sofort, dass sich hier ein weiteres Problem abzeichnete, und dass Michael mir möglicherweise irgendetwas einbrockte. Ich selbst konnte mich ja wohl auf meine Sinne verlassen. Durchaus möglich, dass er schwerer gestört war, als ich es geahnt hatte. Schizophren vielleicht. Multiple Persönlichkeit oder was weiß ich. Im Moment hatte er die Situation auf seiner Seite, denn die Gruppe war verschwunden. Er selbst war wieder Echse und eine Diskussion schien ganz sinnlos. Deshalb sagte ich nur: „Ach vergiss es, ich habe wohl irgendwas verwechselt.“

Ja, ich hatte schon Angst damals. Oder wenigstens Respekt vor dieser Situation. Wenn man sich darauf einlässt, sich mit jemandem zu treffen, mit einer Frau, mit der man sich eine Weile geschrieben hat, ohne Bild, ohne Optik, und man sitzt dann da in der Kneipe und wartet, dass da etwas durch die Tür kommt… also ich gebe zu, dass ich mir in dieser Situation so etwas wie eine Fernbedienung gewünscht hätte, mit der ich das Programm, das da durch die Eingangstür auf mich zukam, wenn es mir nicht gefiel, im Notfall einfach hätte wegschalten können. Also ich sage es ganz offen, dass ich mir so eine Fernbedienung schon gewünscht habe damals.
Natürlich war Ulrike in der gleichen Situation. Das tröstete mich auch. Auch sie hatte keine Fernbedienung, mit der sie das Programm, das da am Tisch auf sie wartete, einfach hätte umschalten können.
Also rechneten wir beide wohl vorsichtshalber mit dem Schlimmsten.
Wir hatten uns natürlich vorgenommen, „die ganze Sache ganz cool und locker anzugehen.“ Aber schließlich gelang uns das nicht. Dummerweise hatten wir uns dafür zu lange schon geschrieben. Dummerweise waren wir uns schriftlich sympathisch, sehr sympathisch. Dummerweise war keiner so souverän, wie er es sich vorgenommen hatte. So stand uns beiden im schlimmsten Fall ein trauriger Smalltalk bevor, den wir beide ein kleines Glas Wein lang führen mussten, mit dem unerbittlichen Untertitel, der da einfach als schwarzer Streifen unten mitlief und sagte: Sorry, du bist nicht mein Typ, ich finde dich Scheiße. Was umso härter ausgefallen wäre, jetzt, wo wir uns doch schon so gut per Mail kennen gelernt hatten. Ich glaube, wir haben es dann doch beide für den Moment ziemlich bereut, dass wir uns keine Bilder geschickt hatten. Es war einfach verdammt fahrlässig gewesen. Denn bei aller Modernität drohte uns beiden doch die demütigende Einsicht, dass reale Nähe zwischen zwei Menschen auch heute noch immer bestimmt wurde von Gesetzen, wie sie schon vor vielen Tausend Jahren etwa für Beutelmäuse gegolten hatten. Wir waren aufgeklärt genug, das zu wissen. Aber nicht aufgeklärt genug, um einer Enttäuschung zu entgehen. Es bewahrte uns höchstens davor, diese Sache allzu persönlich zu nehmen.
Ulrike behauptet ja heute ganz fest, als ich ihr den Blödsinn mit dem Liegerad geschrieben hatte, sei Sie sich sicher gewesen, dass wir zueinander passten.
Wie dem auch sei, ich bezweifle das. Zumal ich einen Unterschied sehe zwischen einem herrenlosen Liegerad, an dem man 2 Jahre lang morgens und abends in einem Hausflur vorbeiläuft und einem realen Liegeradfahrer, der, vermittelt durch eine multiple Persönlichkeit, in San Juan, Puerto Rico, einen echten Eindruck hinterlässt.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Müde mit Menschen am Morgen, die Schalttafel flattert zu Destinationen über uns und um uns herum Parfümwangen über Kurzhemden neben der Bildschirmanzeige oder rasiergewässert sommerlatschig in halber Hose, Pässe bereit, standen wir, zähnegeputzt, neben anderen Leuten auf unseren Füßen, die uns nichts angingen und nur langsam in Richtung Abfertigung tippelten. Zentimeterweise Leute mit Schildpattanhängsel am Bändchen um den Unterarm mit Drahtbehaarung, blass oder urlaubsgerötet, ein Handrücken, sommersprossig, umkrümmt die Ledergrifftasche, Blusengeruch, Nasengeschubse gegen ein T-Shirt, dicht davor und dahinter ein Sandwich im Stehen zu Kaffeebecher und Fremdmayonaise, nervöser Reißverschluss neben dem Ohrläppchen, Tickets im Mund, Gleichgewicht halten im Vorrücken der Schlange, vorne ein Kindergesicht dösend über die Schulter geworfen, Koffer, Käse und Kleingeld. Festhalten am Handlauf, Weitergehen. Schwarzer Gummi, Quietschen unter der Sohle., Rollen. Gucken. Warten beim Ging Gong. Fragen beantworten, Treppe, Summen, Hände in den Taschen, Schritt halten, Hände aus den Taschen, Pause. Ein Kopftuch, ein Druckknopf, ein Taschentuch, Bücken, Haarduft, Umdrehen. Hochschauen. Lippen stiftrot, Hautäderchen, ein Aufruf, ein Durchruf, zwischen den Beinen Gepäck. Noch schnell was einkaufen oder stehen bleiben. Warte mal. Welche Nummer. Welcher Durchruf. In die Jacke. Aus der Jacke. An die Jacke. Arme hoch jetzt. Thank you. Ihr Gesicht bitte. Eine Augenlied, eine Hundeschnauze, Danke piep piep. Ticket hier und Handy raus. Jacke an. Auspacken und Einstecken. Schnüffelhunde, Jacke aus. Schlüssel im Schälchen. Rubbelmetall, Plastikgekröse, Unterhosen und Strümpfe am Schalter das Laufband, aufmachen bitte, die Wasserflasche da zum Trinken, im Durchgang der Gürtel, die Schuhe, Sorry. Thank you, Bitteschön. Good Morning. Ein Gummigelenk, eine Klappentür, ein Metallrahmen, ein Teppichgang. Tasche hoch, Tasche runter. Ein Schluck, ein Ellenbogen, ein Hosenbein. Klappe auf, Klappe zu. Hinsetzen. Aufstehen. Hinsetzen. Husten. Lachen. Warten. Die Jacke. Die Klappe. Pause. Klettverschluss, der Klapptisch hier und da mal am Knopf drücken oder an der Düse fummeln, hineindrücken oder hinausdrehen, die Lüftung, Puste im Gesicht wie aus kleinen Nasenlöchern über dem Sitz, nur eben kühl, im Magen das Kribbeln. Durst. Adamsapfel und Brillengestell, ein Sitznachbar, eine Zeitschrift, gut verstellbar, der Tisch zum Klappen, die Türen zu schließen. Angemufft und zugehebelt. Die Frauen machen dicht, die Ohren pumpen wie zum Tauchen. Aber es geht ja gleich aufwärts. Dafür Druckausgleich, der Kiefer knackt auf und zu. Schlucken. Da sind die Notausgänge. Schwimmwesten ja, und auch die Tüten. Schlauchmasken baumelgelb und Dinger unter dem Sitz. Sauerstoff, Türen zu. Klappen zu. Hosenbein eng. Menschendicht, Hebel, Blinkanzeigen, die Pantomime vorn in orange. Bonbon oder Kaugummi helfen dem Speichel. Fenster zu kleinen Gucklöchern. Ganz zu. Ganz fest. Besser kauen. Schlucken. Ein Ellenbogen, vor dem Glas und unter den Flügeln zwei schwarzlaute Rundlöcher röhrend Erfrischungstüchlein, Pfefferminz und Nelken. Kerosin draußen im Tankwagen mit dem Flimmerheißstrom. Gummischlauch macht sich davon und auch ein Mann mit Ohrenschützern. Das Zeug jetzt, schwappend wie Magensäure. Die Lippen getrocknet. Vielleicht noch einmal die Sitze tauschen? Anschnallen, Festzurren, mit den Verschlüssen klicken und warten auf den ersten Tomatensaft. Rauchen verboten. Raus kamen wir nun nicht mehr.
Dabei hatten wir Glück gehabt mit dem Einchecken. Die Kontrollen waren scharf gewesen, aber wir wurden nicht peinlich visitiert. Ganz im Gegensatz zu einem Mann, der an diesem Morgen offenbar mit dem linken Bein aufgestanden war, der nämlich in eine Untersuchungskabine gewiesen wurde und diese erst nach längerer Zeit wieder verlassen durfte, nun aber einen sehr auseinandergeschraubten Eindruck machte, derangiert, im Knitterhemd, vor Ärger rotgesichtig und plötzlich glatzköpfig, da er sein künstliches Haarteil jetzt als dunkles Puschel in der Hand hielt, zusammen mit seinen Hosenträgern, die er nicht mit an Bord nehmen durfte, wegen der scharfkantigen Metallklipps. Aber damit nicht genug, hatte er sich bei einer weiteren Passkontrolle wegen seines Toupets erneut Diskussionen eingehandelt, was dann wohl einen Wutanfall auslöste genau in dem Moment, als jemand ihm freundlich ein Bademantelgürtel für den Flug leihen wollte. Ein armer Choleriker, der dann unter Geschrei und Hundegebell mit rutschender Hose, die er nur schlecht festhielt, irgendwohin eskortiert wurde.
Genau deshalb hatte ich darauf geachtet, dass wir eigentlich nur Weiches, Unverfängliches im Gepäck und am Körper hatten. Wir waren dermaßen weich und unverfänglich montiert, dass ich fürchtete, wir könnten genau deshalb schon wieder verdächtig werden. Aber wir waren schließlich doch gut durchgekommen und Michael hatte sich sehr professionell verhalten.
Dann flogen wir zehn Stunden. Unterwegs haben wir Filme geschaut. (Die Michael natürlich alle schon kannte, aber trotzdem gebannt verfolgte.) Ich war dagegen sehr aufgekratzt und angenehm reisefiebrig, so dass ich jetzt zum ersten Mal so etwas wie Urlaubsgefühl und sogar Freude empfand. Ich hatte mir deshalb auch erlaubt, den eigentlichen Grund unserer Reise eine Weile zu vergessen. Was mir im Großen und Ganzen auch eine Zeit lang gelingen sollte. Ich freute mich auf die Karibik.
Nur kurz musste ich an Amsterdam zurückdenken und daran, dass unser Zwischenstopp außer Irritationen und schlafarmen Nächten nichts, absolut nichts eingebracht hatte, vielleicht noch die Erkenntnis, dass Michael offenbar spanisch beherrschte und auch sonst für mich undurchsichtiger geworden war.
Nach der ersten wirklich schmackhaften Bordverpflegung sind mir dann aber auch mir die Augen zugefallen. Der Flug verlief ganz ruhig und ich überließ mich dem Summen und Rauschen auf Reiseflughöhe über den Tiefen des schwarzen Atlantik.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Wir flogen nicht geräuschlos. Trotzdem habe ich es wohl in Momenten als einen besonders stillen Ort empfunden. Draußen vor dem Fenster bewegte sich ja nichts. Dafür drei Reihen hinter uns: zwei Finger, die einen Nasenrücken massierten, das Absetzen einer Brille, das Zuklappen einer Zeitschrift, der Blick auf ein Rotweinfläschchen bei Achthundert Kilometer pro Stunde und minus 40 Grad Außentemperatur. „Wir müssen auch unsere Uhren zurückstellen.“ hatte Michael gesagt, nachdem er eine Weile die Steuerklappen am rechten Flügel beobachtet hatte. Dann war auch er eingeschlafen. Eingerollt in einem Stück Kreide zwischen den Kontinenten, das ganz oben, leise fauchend, an seiner hellblauen Tafel einen weißen Strich zog.

Habe ich am Tisch gesessen als sie durch die Tür kam? Oder war ich durch die Tür gekommen, während sie schon da saß?
Nein. Es verhielt sich alles etwas anders.
Ich hatte mich zeitig in die Notbremse begeben und mich an einen Platz gesetzt, von dem ich annahm, dass ich von dort die Tür gut im Auge behalten konnte, so dass es mir nicht entgehen würde, wenn SIE kam. Also saß ich da und wartete. Da ich aber nicht die ganze Zeit einfach nur dasitzen wollte (ich hasse es, allein in irgendwelchen Kneipen zu sitzen und zu starren), blätterte ich ein bisschen in einer Zeitung herum, natürlich nicht ohne dabei immer ein Augenmerk für den Eingang zu behalten.
Eigentlich können mich Tageszeitungen nicht fesseln, aber ausgerechnet an diesem Tag war ich beim Blättern irgendwie in den Bann einer Buchbesprechung geraten. Es stand dort ein Artikel, der über eine exotische Autorin berichtete, die ein – wie es hieß – fulminantes, ein erotisches Buch geschrieben hatte. Offenbar eine besonders kitzlige Geschichte, betreffend die erotischen Obsession einer Frau zu einem älteren Mann; von einem Tanz auf dem Vulkan war die Rede, von mentaler Befreiung, von Umkleidekabinen, halbgeöffneten Türen, Oberschenkeln, Schulterblättern, Halsansätzen und libidinösen Eruptionen, Ehekonflikten, dem Begehren der weiblichen Seele zwischen Verletzung und Läuterung, gesellschaftlichen Tabubrüchen und ganz allgemein von der Konventionen sprengenden Kraft einer Leidenschaft, die ein aufmerksames Publikum gefunden hatte.
Jedenfalls fühlte ich mich von der Besprechung in diesem Artikel plötzlich eingenommen, geradezu beobachtet, wenn man das so sagen kann, so dass ich ihn mit zunehmender Aufmerksamkeit las und darüber für eine kurze Zeit meinen eigenen Wartestand vergas.
Vielleicht waren nur anderthalb Minuten vergangen oder auch 3 Minuten, ich wusste es nicht, aber als ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, wurde mir schlagartig klar, dass irgendetwas passiert sein musste. Ich hatte nicht mehr auf die Tür geachtet. War jemand hereingekommen? Ich schaute zum Tresen, wo Hans in seinem AC/DC-T-Shirt die Gläser spülte, und durchmusterte die übrigen Gäste, denn die Kneipe war wie immer gut besucht. Sollte ich etwa ihren Auftritt verpasst haben? War sie vielleicht wieder gegangen? Es war nicht ausgeschlossen, dass jemand, der für Sekunden in einen Zeitungsartikel vertieft war, auch einem anderen Jemand im entscheidenden Moment einfach verborgen blieb, da dieser Andere eben selbst mental versunken war. Wenn sie durch die Tür kam, erwartete sie doch sicher ein Gesicht, dass ihr entgegenstrahlte. Ich aber hatte Zeitung gelesen. Dazu legte ich mir nun innerlich die Frage vor, ob ich ein leidenschaftlicher Mensch war, der zu Tabubrüchen neigte, gesellschaftliche Konventionen sprengte oder der weiblichen Seele in ihrem Begehren zwischen Verletzung und Läuterung gerecht wurde. Ich konnte ja nun schlecht zu ihr sagen: weißt du, wir haben uns nicht wahrgenommen, weil ich in einer Zeitung einen Artikel über ein erotisches Buch gelesen habe, in denen Tabus gebrochen und gesellschaftliche Konventionen gesprengt wurden. Oder vielleicht konnte man das ja als Ausrede vorbringen. Vielleicht war das ja gerade richtig. Andererseits zeugte Zeitung lesen beim ersten Kennenlernen nicht gerade von emotionaler Spannkraft. Zumal wenn man darüber den Blick für den Eingang verlor. Wenn man schon beim ersten Treffen Zeitung las, war das kein gutes Zeichen. Dabei las ich sonst überhaupt nie in einer Zeitung. Die Sache war wirklich nicht gut zu begründen gewesen. Vielleicht kannte Sie sogar dieses Buch und fand es langweilig. Dann war alles noch viel schlimmer. Dann war ich wahrscheinlich auch langweilig. Vielleicht hatte sie mich auch kurz gesehen und war rückwärts wieder zur Tür hinausgegangen. Hatte ich mich in der Uhrzeit getäuscht? Ich wollte schon mein Laptop aus der Tasche holen und hoch starten, um mich noch einmal der Uhrzeit für unsere Verabredung zu vergewissern, die ich mir dort notiert hatte. Aber mein Laptop war im Büro geblieben.
Sekunden nur, in denen ich mir diese Gedanken machte, waren vergangen, als ich dann doch ganz hinten im uneinsichtigsten Winkel der Kneipe neben dem Schränkchen aus Gelsenkirchener Barock eine Frau entdeckte, die dort was tat? Nun, sie las Zeitung. Es war ein schöner Anblick. Zugleich wusste ich aber, dass sie dort auch schon gesessen hatte, als ich hereingekommen war. Nur hatte ich sie in ihrer Nische eben nicht wahrgenommen. Und sie mich offenbar auch nicht.
Sie hatte schöne Hände, das sah ich gleich, keine Pfötchen. Merkwürdigerweise war es bei mir zugleich das erste Mal, dass ich ganz bewusst auf Hände achtete. Vielleicht weil ich ihre Augen nicht sehen konnte. Obwohl wir uns gegenseitig nicht näher beschrieben und schon gar nicht gesehen hatten, wusste ich, dass es ihre Hände waren, die Hände von Ulrike. Und diese Zeitungsleserin dort, schien mir sofort ganz vertraut. Und deshalb sah ich alles schlagartig ganz und gar und in einem warmen Licht. Denn wenn man schon beim ersten Treffen Zeitung las, noch dazu auf eine grundverbindliche Art gemeinsam, dann konnte sich doch noch eine ganze Menge zwischen zwei Menschen entwickeln. So fand ich es schön, sie dort sitzen und Zeitung lesen zu sehen und hatte gar keine Lust, sie dabei zu stören. Denn das hätte ja bedeutet, ein erstes gemeinsames Band zu durchtrennen. Was also tun? Natürlich war ich auch neugierig, ob sie möglicherweise gefesselt war vom selben Artikel über die Konventionen sprengende Leidenschaft und der zwischen Verletzung und Begehren taumelnden weiblichen Seele. Ich hatte eigentlich große Lust, mir ebenfalls meine Zeitung zu schnappen, mich wortlos neben sie zu setzen und auffällig unauffällig zärtlich mit dem Papier zu rascheln.
Nicht ganz 3 Stunden später sollte sich aber herausstellen, dass wir keine Tabus sprengen oder gesellschaftliche Konventionen überwinden mussten. Stattdessen ließen wir diese Impulse einfach in feste weiche Küsse fließen, wobei die Tatsache, dass wir dabei unsere Kleidung anbehielten, sich bald sehr unbequem anfühlte.

Den Umstieg in Atlanta, Georgia hatten wir kaum mitbekommen. Tranig und verdöst wie wir waren, geblendet vom Riesengrau der Landepisten, ließen wir uns durch die Routinen rollen, die hier erstaunlicherweise schnell und wirklich glatt durchliefen. Kein Vergleich zu Amsterdam. Dabei durchquerten wir dauernd wechselnde Temperaturzonen. Von natürlich überhitzt bis künstlich unterkühlt. Als Umstiegspassagiere fanden wir uns dann bald in einem Raum wieder, der stark, etwas zu stark, klimatisiert war, was mir die Gelegenheit zum ersten Einsatz einer meiner Fließwesten gab, nicht ganz ohne innerlichen Triumph, denn dieses kleine Klimawaffe war mir doch noch geblieben nach der umfänglichen Reiseabrüstung, die ich wegen der verschärften Sicherheitsregelungen vorgenommen hatte. Da hatten wie also den Atlantik überquert, ganz ohne Skorbut und ohne Meuterei.

Ulrikes Augen. Wie waren sie? Ich würde sagen, wie ihre Hände, sehr ergreifend. Etwas dunkler als meine. Und beides sind sie immer noch.
Ich hatte mich zu ihrem Platz begeben, ohne meine Zeitung und dann gefragt:
„Kann ich vielleicht die Reisebeilage haben?“ – und sie dabei angelächelt.
Und sie: Hatte zurückgelächelt.

(Fortsetzung nach der Werbung.)
Sehr schnell waren wir umgestiegen. Der Anschlussflug nach San Juan ließ keine 45 Minuten auf sich warten. In unserem Passagierraum herrschte eine Stimmung wie in einem Vorortzug. Die Menschen waren insgesamt dunkler geworden. Und etwas dicker. Um einiges dicker. Und sie waren lässiger gekleidet. Nur fuhr dieser Vorortzug eben nicht in die Uckermark, sondern er flog in die Karibik. Herrlich. Ich fühlte mich doch noch recht fit und freute mich um so mehr darauf, endlich anzukommen.
Mir war sehr nach Urlaub zumute, aber ich bemerkte auch, wie Michael jetzt wach und aufmerksam aus dem Fenster schaute, denn wir überflogen bald genau die Gegend, die ihm so viel bedeutete. Wir überflogen das Bermudadreieck. Es war wolkenlos. Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich mich in unserer Kabine umschaute und mich fragte, was wohl Außerirdische, wenn sie uns jetzt hier entführten, für einen Eindruck von unserer Gattung bekämen, sollten sie das Ergebnis dieser Stichprobe für repräsentativ halten. Sicher einen ganz gemütlichen. Es gab ungefähr 40 Prozent Hispanos, 20 Prozent Schwarze, einige leicht überernährte Weiße, 3 Prozent davon schon ziemlich fett. Außerdem zählte ich 4 ältere Kinder, 2 Kleinkinder. Sie würden sich vielleicht über uns wundern, über die beiden dünnhäutigen Kanadier und über uns pergamentfarbene Deutsche, die vielleicht als Anomalien durchgingen. Und sie würden sich 1000 Fragen zu den vielen T-Shirts stellen, sich fragen, was die Aufdrucke und Zeichen wohl zu bedeuten hätten: „Columbia University“, „Eagels“, „I have the pussy – I make the rules.“, „Good Charlotte“…
Und dann würden sie, nachdem sie wie Kinder alles auseinander genommen hätten, ihre übergroßen Köpfe schüttelnd vor einem großen Haufen aus Koffern, Kulturbeuteln, Seifen und Zahnbürsten stehen und sich fragen: Warum hat dieser an sich so effizient konstruierte fliegende Organismus so ein belastendes Innenleben?
„Na – siehst du schon deine Methanblasen“? – fragte ich Michael.
(Ich hatte es längst aufgegeben, ihn in irgendeiner Weise umstimmen zu wollen und innerlich ganz auf Urlaub umgeschaltet.) Er aber blieb schulmeisterlich ernst: „Ich weiß, dass man sie von hier oben nicht sehen kann. Wir sind zu hoch.“
„Na Gott sei dank.“ – sagte ich.

Endlich aber, und übrigens genau so, wie es Michael schon in vielen Filmen gesehen haben mochte, setzte unser Fahrwerk mit einem Quietschen und fröhlichen kleinen Rauchwölkchen (die ich selbst logischerweise nicht sehen konnte, aber ich wusste, dass sie da waren.) auf der Piste von Luis Munoz Marine International Airport, San Juan, Puerto Rico, auf. Und zwar so überaus weich, dass sich einige Passagiere nach mir umdrehten, als ich dieser Landung klatschend applaudierte – als einziger.
Woran ich überhaupt nicht gedacht hatte, war eine Sonnenbrille.
Da das einzig halbwegs passende Gestell, das ich bald an einem Stand erwerben konnte, orange getönte Gläser aufwies, zeigte sich unser Urlaubsparadies mir bald von einer doppelt interessanten Seite. Als wir unsere Füße nach den letzten Einreiseprozeduren endlich auf ein nichtadministriertes Stück Erde setzen durften, schaute ich, einem Reflex folgend, zum Himmel, wie ich es manchmal im Alfred Brehm – Reptilien –Haus des Berliner Tierparks getan hatte. Aber da oben gab es kein Sonnenglasdach, das Klima hier war echt, nicht wirklich drückend aber merklich feucht. Und statt Glasscheiben sah ich bizarre Wolkenformationen, wie ich sie in ihrer Art bisher nur von überanstrengten Postkartenmotiven kannte. Vielleicht waren es diese Wolken, deren Kontraste durch meine orange getönte Brille noch verstärkt wurden, vielleicht aber auch die Empfindung kleiner Schweißtröpfchen, die sich sehr rasch unter meiner nun nicht mehr benötigten Fließweste gebildet hatten, die mich eine Weile meinen Reisebegleiter vergessen ließen. Also war ich langsam, den Brillenblick zum Himmel gerichtet, und ganz in dieser neuen orangefarbenen Welt versunken, eine Weile über den hitzigen Vorplatz des Flughafens gegangen, als ich bemerkte, dass Michael sich nicht mehr an meiner Seite befand. In die Wirklichkeit meines Daseins zurück holte mich erst das laute Hupen eines Autos.
Ich sah, dass Michael, auch er jetzt eine Figur ganz in orange getaucht, etwa zwanzig Meter hinter mir stehen geblieben war, neben einem Kiosk, und wie erstarrt in eine bestimmte Richtung schaute, auf irgendein Etwas, dass mir aus meiner Perspektive nicht einsehbar war.
„Was ist?“ – rief ich ihm zu. Er aber antwortete nicht. Ich lief zu ihm zurück und schwenkte mit den Augen in seine Blickachse ein.
„Der Typ da…“ – sagte Michael.
Ich versuchte immer noch mehr zu erraten als zu sehen, was seine Aufmerksamkeit so eingenommen hatte.
„Wo?“
„Na dort, siehst Du ihn nicht?“
Tatsächlich sah ich jetzt etwa 30 Meter links von unserer Position einen Mann, der auf einer freien Betonfläche vor einer Reihe mit markierten Autoparkplätzen gemächlich seine Kreise zog – mit einem Liegefahrrad.
„Ja. Und?“ – fragte ich Michael.
„Was macht der da?“
„Ich sehe einen Mann, der auf einem Liegefahrrad langsame Kreise fährt, übrigens ganz in orange, ich habe nämlich eine tolle Brille auf.“ – sagte ich.
„Was soll das?“
„ Na ja, er wird hier vielleicht auf jemanden warten. Er hat einfach Langeweile, und nun fährt er eben ein paar Kreise.“
Ich könnte mich heute dafür ohrfeigen, dass ich diese Chance damals nicht genutzt habe. Es war nämlich das erste Mal auf unserer Reise, dass ich Michael über etwas stutzen oder regelrecht staunen sah. Stattdessen aber sagte ich zu ihm: „Hast du noch nie einen Typen auf einem Liegerad gesehen?“
Er antwortete aber wieder mit einer Frage: „Warum tut er das? Wer ist das?“
Ich reagierte wie gesagt völlig falsch und antwortete: „Ich weiß nicht, wer das ist. Ein Typ eben, der hier auf einem Liegerad ein paar Kreise zieht.“
Nun sah ich mir diesen Mann genauer an. Es war kein Einheimischer. Ein Weißer. Er sah sogar eher europäisch aus. Und er hatte lange dunkelblonde Haare, zu einem Zopf gebunden, soviel ich erkennen konnte, außerdem wohl ein kleines Bärtchen am Kinn, dazu trug er ein blassblaues oder grünliches T-Shirt zu dreiviertellangen Kargohosen.
„Warum fährt er mit diesem komischen Ding rum?“ – fragte Michael weiter.
Ich war wie gesagt zu durcheinander und antwortete: „Weißt Du, es gibt eben Leute, die fahren mit einem Liegerad, ja, das soll es geben. Können wir jetzt vielleicht weitergehen?“
Aber Michael blieb auf seinem Fleck: „Warum kein Fahrrad? Kein normales Fahrrad.“
„Er findet es eben cool, auf einem Liegerad zu fahren. Es ist eben sein Ding. Vielleicht ist es auch, was weiß ich, bequemer irgendwie, sieht jedenfalls bequemer aus.“
„Nein, das ist nicht überzeugend“ – sagte Michael – „Er will einfach nicht aufrecht sein. Das ist es. Er will so mit dem Verkehr mitschwimmen, sich dabei aber unten durchmogeln, nicht gesehen werden aber trotzdem auffallen…Er hält sich für etwas Besonderes. Und wenn er den Leuten in die Beine fährt, beschwert er sich, dass sie ihn nicht gesehen haben. Dabei weiß er sehr gut, dass man ihn nur schlecht wahrnimmt. Er legt es nämlich darauf an….“
Wenn ich geistesgegenwärtig gewesen wäre, hätte ich Michael in allem, was er sagte, zustimmen müssen. Denn offenbar hatte er so einen Liegeradfahrer nicht in seinem Reservoir. Wenn ich geistesgegenwärtig gewesen wäre, hätte ich wissen müssen, dass Michael in diesem Moment einen Einbruch von Wirklichkeit spürte, den ich hätte ausbauen und ausnutzen können. Aber ich Idiot war nicht geistesgegenwärtig. Weil ich weiterkommen wollte. Ich wollte ins Hotel. Deshalb sagte ich wieder: „Das ist doch Blödsinn. Der Typ hat eben ein Hobby, und es sieht sehr bequem aus.“
„Wenn es bequem wäre, würden alle mit so einem Ding herumfahren. Aber alle fahren nicht mit einem Liegerad herum. Weil es hinterhältig ist und kein normaler Mensch auf die Idee kommt, sich in der Horizontalen fortzubewegen. Es ist hinterhältig. Aber er glaubt, dass er richtig liegt. Mehr richtiger, als all die anderen Menschen, die mit normalen Rädern fahren. In aufrechter Haltung. Dabei nutzt er es aus, dass man ihn nicht sieht, und dann beschwert er sich, dass man ihm nicht Platz gemacht hat, dass man ihn nicht gesehen hat. Er legt es darauf an, nicht gesehen zu werden, aber genau damit will er auffallen.“
„Aber Micha, merkst du nicht, dass das irgendwie ein Widerspruch ist, was soll das, du siehst ihn doch.“
„Ich habe ihn entdeckt, das ist etwas anderes. Und das genießt er jetzt. Er fährt Kreise.“
„Gut“ – sagte ich gespielt beiläufig, um der Sache die Bedeutung zu nehmen, denn mir war sein Verhalten langsam unheimlich geworden – „aber was hältst du davon, wenn wir das unterwegs weiterdiskutieren, wir sollten jetzt erstmal ins Hotel, uns frisch machen, ich meine, es ist ziemlich hell hier…“
Nur sehr widerwillig ließ sich Michael dann zum Taxistand bugsieren, dabei hielt er aber seinen Blick immer weiter auf den Liegeradfahrer gerichtet. Ich war immerhin froh, dass ich ihn hatte loseisen können. Trotzdem denke ich heute noch darüber nach, wie ich hätte anders reagieren müssen.
„Hast Du gesehen, wie aggressiv er seine Beine nach vorn streckt, nach vorn tritt? Es ist aggressiv, sich mit gestreckten Beinen in den Verkehr zu begeben. Dabei tut er verletzbar, weil er scheinbar keine Höhe hat und so niedrig liegt, dabei ist es aggressiv, sich mit gestreckten Sohlen voran zwischen anderen Menschen zu bewegen. Er aber hält sich wahrscheinlich für den Guten, den Friedenstypen auf dem Liegerad, der nicht wie alle anderen aufrecht sitzt, nein, er liegt! Und die Vertikalen sind die Bösen, aber er liegt und streckt die Beine zum Tritt, das ist Aggressivität, die sich tarnt mit einer unübersichtlichen Liegeposition….“
Es hörte nicht so schnell auf. Es sollte noch eine Weile vom Liegeradfahrer die Rede sein, länger als ich gedacht hatte, auch als wir bereits durch San Juan in Richtung Hotel fuhren.
Aber ich, ich habe immer wieder falsch reagiert.
(Fortsetzung folgt.)
Manchmal denke ich, dass wir es riskieren könnten. Wir könnten es versuchen. So wie es sich im Moment darstellt. Die gegebenen Umstände lassen es, sozusagen, möglicherweise, in die Nähe von Machbarkeit rücken. Dass man einfach mal guckt. Ab und zu vielleicht. Erstmal nur in einer Zeitung blättern. Samstags zum Beispiel. Oder wenn wir gemeinsam irgendwo herumspazieren, dass wir da in der Gegend herumschauen und uns etwas vorstellen, nur so probehalber zunächst. Oder schon etwas genauer. An den Fassaden hoch gucken, Hauseingänge begutachten, Blickachsen prüfen, die Verkehrsanbindung, oder den Geräuschpegel der Gegend. Vielleicht auch schon Fahrtwege ausrechnen. Innerlich dabei schon mal Raumansprüche oder Raumgeometrien nach Abneigungen und Vorlieben abtastend. Man könnte also, so wie es sich im Moment darstellt, warum nicht, in Erwägung ziehen, ob wir, also Ulrike und ich, vielleicht, nicht gleich, nicht sofort, aber eben demnächst oder bald: Gemeinsam eine Wohnung beziehen.
„Ich weiß nicht.“
„Ja, ich weiß auch nicht.“
„Wir könnten dann morgens immer zusammen Zeitung lesen.“
„Das stimmt.“
„Na ja, es muss ja nicht gleich sein, ich meinte ja nur so vom Prinzip her.“
„Ja.“
Nicht, dass wir beide es da jetzt besonders eilig hätten, aber wir haben schon darüber, probehalber, gesprochen.
„Und was machen wir dann.“
„Wann?“
„Wenn wir zusammengezogen sind.“
„Na…. dann machen wir eben zusammen.“
„Ist es praktischer?“
„Verbindlicher vielleicht.“
„Ist es jetzt nicht verbindlich?“
„Doch. Doch.“
„Muss es dann auch noch praktisch sein?“
„Kann es sein, dass wir beide gern ein bisschen unpraktisch sind.“
„Die Welt ist nicht praktisch. Ist die Welt praktisch? Warum sollten ausgerechnet wir praktisch sein? Oder so tun, als ob….?“
„Aber immerhin haben wir uns ganz praktisch auf einer praktischen Partnerplattform kennen gelernt.“
„Das stimmt. Das war vielleicht praktisch, du! Aber nun muss auch mal wieder gut sein mit praktisch. Es ist wichtig, gemeinsam unterwegs zu bleiben. Unterwegs, unterwegs….“
Wir reden, bleiben stehen, reden, gehen weiter… irgendwann sagt Ulrike: „Unterwegs sein und dabei etwas praktisch, vielleicht. Und die Biologie. Die Biologie ist komisch. Die Biologie ist verrückt.“
„Du meinst die Biografie.“ – sage ich.
„Ja, auch die Biografie….“
Und so geraten wir wieder ins Philosophieren. Gehen weiter. Kommen vom Hundertsten ins Tausendste, finden große Brombeeren und essen davon, so dass wir beide ganz blutige Münder haben und den Anlass der Diskussion ganz vergessen.
Den Geräuschpegel der Gegend beachten wir nicht mehr.
„Wenn es aber mal anders kommt.“ – sage ich und bleibe wieder stehen.
„Was soll kommen?“
„Na was weiß ich, irgendwas kommt doch immer.“
„Ja, irgendwas kommt immer – dann lassen wir es eben kommen. Aber wir dürfen nie vergessen, unterwegs zu bleiben. Das wäre wichtig.
„So fühlt es sich gut an mit dir.“
„Mit dir auch.“
Wir essen große Brombeeren.
„Wie ging es aber nun weiter mit eurer Reise?“

Ich hatte für uns im Comfort Inn im Stadtteil Condado reserviert. Nicht gerade ein besonders schönes Gebäude erinnerte dieses Hotel von außen eher an einen Plattenneubau einer deutschen Realschule. Aber dafür war es gut mittelklassig und ein Kompromiss aus Meernähe, Preis und Ausstattung. Außerdem arbeiteten auf jedem Zimmer Klimaanlagen, die sich, wie ich recherchiert hatte, separat regulieren ließen.
Wie mir überhaupt aufgefallen war, dass diese Stadt für den Besucher sich architektonisch mit einer schwer definierbaren Durchschnittlichkeit präsentierte. Im Kontrast zu dem wirklich einschneidenden Meereshimmellicht begegnete einem hier etwas unentschieden Hingebautes zwischen den Ozeanen. Das berüchtigte Bermudadreieck, was auch immer das war, hatte hier einen Zirkelpunkt, eine Koordinate in einer Stadt, die architektonisch zauberhaft gesichtslos wirkte, eine Art Chemnitz mit Palmen, ausgefranst und zusammengeworfen mit einem Ort im Harz, der es nicht ganz auf die UNESCO-Liste geschafft und den man deshalb samt Burgfeste und Kanonen in die Karibik verbannt und mit alteuropäischem Kolonialzierrat verkleidet hatte. So wirkte San Juan.
Obwohl wir viele Kilometer gereist waren, mussten wir uns also zunächst nicht sehr fremd fühlen. (Was ich immer als sehr angenehm empfinde, da ich bei Reisen in unbekannte Regionen gerne der Devise folge: Erlebnis ja. Abenteuer nein.)
Aber von dieser Heimeligkeit durfte man sich nicht täuschen lassen.
Denn da war schließlich das Meer. Das Meer war hier klar die Hausmacht, die jede Befestigung allenfalls duldete. Und dieses Meer war hier etwas ganz anderes als in irgendeiner kultivierten peleponnesischen Badewanne. Hier lag das Meer in einer Luft, die jederzeit gefährlich werden konnte. Eine Luft, die irgendwann alle Steine schwarz ansengte, aber nicht mit Hitze, sondern mosig, salzig, algig, mit Feuchtigkeit. Das spürte man. Und das Meer, so kataloghaft paradiesisch es sich auch gerade zeigte, konnte hier jederzeit mehr als nur Aufmerksamkeit erregen, mit plötzlichen harten Sturmfäusten, oder mit ausgewachsenen Hurrican-Wirbeln, die ihr Auge nicht selten genau auf diese Gegend richteten. Dann war plötzlich Schluss mit Chemnitz. Dann wusste man wieder, dass man in einer ganz anderen Gegend weilte. Und es war die Gegenwart dieser Gewalt, die hier immer irgendwie nur ein paar Meilen weiter draußen geparkt schien, und von einer Stunde auf die andere hereingebraust kommen konnte, und die alle menschliche Befestigung vorläufig und unernst aussehen ließ. In diesem Wissen wirkte eben vieles Gebaute in dieser Region auf mich bei ruhigem Wetter immer etwas DDR-mäßig, barackenhaft auf den nächsten Untergang eingestellt. Dass man sich auf US-amerikanischem Hoheitsgebiet befand und mit Dollar bezahlte, änderte daran nichts. Eine Stadt, die zwar auf Meeresspiegelebene lag, aber trotzdem eine ziemliche Höhe behauptete, gemessen an dem 9000 Meter tiefen Spalt, der ein paar Seemeilen vor der Küste als kontinentaler Abbruch unterseeisch vor sich hin gähnte.
Eine Insel an einem schwarzen Abgrund sozusagen, aber dafür, selbstverständlich, mit einer bunten Bevölkerung und allen reiseführerobligaten Annehmlichkeiten aufwartend, wie man sie als Karibiktourist wünscht und denen ich mich eigentlich auch sehr gerne gewidmet hätte, wäre da nicht Michael mit seiner brütenden Obsession gewesen.
Eine Obsession, deren nicht weniger schwarze Energien momentan immer noch auf jenen Liegeradfahrer gelenkt waren, auch als wir schon auf unserem Zimmer waren und ich allmählich den Jetlag spürte.
„Was meinst du,“ – fragte er – „wie viel Arbeit, wie viel Zeit, wie viel lebendige Aufmerksamkeit, wie viel von seiner Gegenwart investiert jemand in das Bedürfnis, ein Liegerad zu fahren, also ich meine, wie viel kostet es ihn, diese Entscheidung zu treffen, dass er sich sagt, ich fahre jetzt kein normales Fahrrad wie alle anderen Menschen, sondern ein Liegerad?“
Ich hörte sein Fragen in stiller Verzweiflung an. Ich schwieg und hoffte, nicht darauf antworten zu müssen. Ich war ratlos. Ich wünschte, ich hätte zwei Einzelzimmer gebucht. Ich verfluchte mich dafür, es nicht getan zu haben. Eine überflüssige Sparsamkeit, die ich nun sehr bereute. Denn Michael redete immer weiter: „Ich meine, man muss sich doch schon sehr dafür interessieren. Was steckt dahinter? Bevor man sich dafür interessiert. Bevor man ein Spezialgeschäft für Liegeräder aufsucht. Oder bevor jemand die Entscheidung trifft: Ich bewege mich jetzt in der Horizontalen vorwärts. Vielleicht hat er es sich ja auch selbst zusammengebaut. Zusammengeschweißt. So etwas tut einer doch nur, wenn er eine Freude dabei empfindet. Aber warum? Er könnte sich doch genauso gut auch ein normales Fahrrad kaufen oder von mir aus selber bauen, aber nein, es muss ein Liegerad sein.“
Ich stand, über meine Reisetasche gebeugt, müde jetzt, an den Reissverschlüssen hantierend, und versuchte so einen unbeteiligten Eindruck wie möglich zu machen, aber Michael redete immer weiter, wobei er merkwürdig gleichförmige Pausen zwischen den Sätzen machte : „Ich glaube nicht, dass man hier in Puerto Rico Liegeräder kaufen kann.__ Ich glaube, er hat es sehr umständlich hier her eingeschifft. Was für ein Aufwand. Verstehst Du das? Er kommt hierher, um mit einem Liegerad zu fahren. Es muss ihm sehr viel bedeuten. Ich stelle mir vor, dass er vielleicht auch anderen davon erzählt, wie es sich anfühlt, mit einem Liegerad zu fahren. Wie es sich anfühlt, nicht wie die meisten Menschen ein normales Fahrrad zu benutzten, sondern ein Liegerad. Wie viele Sprechminuten, glaubst du, hat er schon darauf verwendet, um davon zu erzählen, wie er mit seinem Liegerad fährt. Sprechminuten, die andere Menschen vielleicht darauf verwenden, einfach zu schweigen, oder sich etwas Schönes mitzuteilen….“
Während ich dies alles in meinem Rücken mit anhörte, immer noch mit meinen Reißverschlüssen beschäftigt, gab es einen Moment, in dem ich am ganzen Körper Gänsehaut bekam. Für einen kurzen Augenblick überkam mich das Gefühl, dass in meinem Rücken, auf dem Bett des Hotelzimmers etwas sprach, das kein Mensch war, und dass ich mich auf gar keinen Fall jetzt danach umdrehen dürfte. Und dieses Etwas in meinem Rücken redete einfach weiter: „Ich stelle mir vor, wie er jeden Tag vor diesem Ding steht, vor seinem Liegerad und sich sagt: Mein Liegerad. Ich werde da jetzt mich draufsetzen, nein drauflegen! und losfahren. Im Liegen. Liegend fahren werde ich. Ihr werdet mich sehen und ihr werdet sagen: Er fährt ein Liegerad. Kein Auto. Kein Moped. Kein normales Fahrrad. Sondern ein Liegerad. Man wird ihm hinterher schauen. Man wird auch ein wenig erschrecken, wenn er so ganz von unten, in unübersichtlicher Höhe in hohem Tempo herangerauscht kommt. Und dabei wird er gucken mit diesem Blick, der sagt: Damit habt ihr nicht gerechnet, ich weiß, und ich schaue Euch nicht ins Gesicht, ich schaue mich nicht um, denn ich schaue nach vorn, nur auf meinen Weg, nur auf meine Füße, auf meine Linie, die ich mir durch Euch hindurch trete. Liegend. In der Horizontalen. Die Gangschaltung ist speziell, die Übersetzung ist speziell, die Kette – speziell, ja ihr seht sehr richtig, es sieht alles speziell aus. Anders, als ihr es gewohnt seid….!“
Mit einem Schwung drehte ich mich um und schleudert mit einiger Wucht meine Tasche gegen seinen Körper.
„ES IST GUT JETZT!“ – sagte ich ziemlich laut, verlies das Zimmer, suchte mit brennenden Augen die Hotelbar auf und bestellte Hochprozentiges. Es war doch eigentlich so schön hier. Die Lippen der Bedienung und draußen, über den Wellen, plötzlich, nicht ein einziges Wölkchen.

(Fortsetzung nach der Werbung)
Auch ein Schädelknochen hat Nähte. Zweiundzwanzig sollen es angeblich sein. Das hat mir Michael einmal erzählt. Als er noch Medizin studierte. Er war davon fasziniert gewesen. Bei einem Menschen war da am Anfang viel in Bewegung. Der Knochen wuchs und driftete und schob sich. Aber irgendwann verfestigten sich die Suturen. Kreuznaht. Pfeilnaht. Lambdanaht… und dann, wenn alles gut ging, waren die Platten irgendwann da, wo sie hingehörten und erhielten ihre festen Namen: Stirnbein, Schläfenbein, Keilbein, Hinterhauptbein… und blieben an ihrer Stelle. Für immer.
Mir war das wieder eingefallen, als ich mich über das Bermudadreieck informierte. Denn bei der Erde verhielt es sich anders. Die Erde blieb beweglich. Ihre Knochen wuchsen nie ganz zusammen. Und eine Karte, die ich mir angesehen hatte, zeigte all diese Bewegungen, Nähte, Brüche und Gräben, die heimliche Anatomie eines Planeten, dessen Kruste sich den Luxus leistete, beweglich zu bleiben, nicht zu verknöchern. Auf eine rätselhafte Art blieb er physisch in sich selbst unterwegs. Die Nähte und Platten wuchsen oder verschoben sich ständig, stauten, glühten, drifteten, brodelten und bebten. Und all seine Geologie war letztlich provisorisch.
So saßen wir jetzt auf unserem karibischen Knochen, nur 150 Seemeilen von der Naht entfernt, die diese Knochenplatte von der nordamerikanischen trennte – der Puerto Rico Graben, das Milwaukeetief.
Draußen über dem Strand waren Gleitschirme zu sehen, die von Motorbooten in die Höhe gezogen wurden.
„Was willst du jetzt machen? Vielleicht deine nächste Szene drehen und da raus fahren? Ich wünsche dir viel Spaß.“ – sagte ich zu Michael, als ich wieder in das Hotelzimmer zurückgekommen war.
„Du musst mir dabei helfen.“ – sagte er.
„Ich muss gar nichts, Micha. Es sind 150 km. Das geht sicher nicht mit einer Luftmatratze. Wir kennen die Strömungen nicht. Selbst mit einem guten Boot dauert es einen Tag. Du brauchst einen Skipper. Was sollen wir ihm sagen, was wir da draußen suchen? Abgesehen vom Wetter. Es kann hier immer schnell ungemütlich werden. Ich werde auch nicht mit Dir da raus fahren.“
„Warum bist du dann mitgekommen?“
Irgendwie provozierte mich diese Frage. Deshalb antwortete ich ihm diesmal sehr ausführlich:
„Also gut, ich will Urlaub machen hier, jetzt, wo wir schon mal da sind. Es gibt viele schöne Dinge hier: Paragliding, Tauchen, Angeln, Segeln, Surfen. Wellenreiten, Baden. Mit einem Bananaboot herumpaddeln und vielleicht auch einige Sehenswürdigkeiten besuchen. Die Festung El Morro zum Beispiel. Ja, und abends möchte ich meinen Barcardi-Rum trinken. Meinen Barcardi-Rum. Hast du gehört? Genau so! Wusstest du, dass der Barcardi von hier kommt? Dazu Salsa und Regeaton hören. Und irgendwann werde ich dann angeschwippst und rotgesichtig herumwippen. Oder sogar tanzen. Oder es wenigstens versuchen. Genau das möchte ich. Und ich will es auch nicht ein bisschen anders, sondern genau so! Und dazu will ich, dass die Sonne abends pünktlich und pinkfarben über dem Meer antritt, um genau so unterzugehen, wie es sich für die Karibik gehört. Dazu braunhäutige, lebensfrohe Menschen, die hier, und zwar barfuss, über den weißen weichen Sand laufen. Ich bin hier, Micha, weil ich Karibik will, genau so, wie ich sie erwarte. Deshalb werde ich mir hier auch die Stadt ansehen. Und ich werde sie suchen, die schweigend rauchenden, Domino spielenden alten Männer mit braunen runzligen Gesichtern in kleinen romantischen Bodegas, genau so, wie man sie aus engagierten Dokumentationen kennt, die von engagierten Filmern gedreht werden, um uns und dem Rest der Welt schweigend rauchende Domino spielende alte Männer mit runzligen Gesichtern in romantischen Bodegas zu zeigen. Und ich werde sie finden, ebenso wie die knapp bekleideten, lebensfrohen karibischen Schönheiten. Ich denke, ich habe ein Recht darauf. Und dieses Recht werde ich auch wahrnehmen. Bestimmt aber werde ich nicht mit einem Gestörten 150 Km aufs Meer hinausfahren und auf eine Methanblase warten. Du kannst Dich jetzt also abregen und entspannen, oder du fährst da raus. Ohne mich. Hast du gehört? Ich werde nicht nach dir krähen. Niemand wird nach dir krähen. Mach, was du für richtig hältst. Dreh deinen eigenen Film.“
Ja, ich hatte der Lust nachgegeben, ihn zu provozieren. Sein merkwürdiges Verhalten hatte mich in die Defensive gebracht, also brauchte ich diesen Befreiungsschlag.
Obwohl mein Vortrag auch einiges nicht ganz ernst Gemeinte enthielt, war er mir in dem Moment als Ansage wichtig. Aber im Stillen war ich doch irgendwie neugierig auf diese Gegend da draußen. Warum sollte man das Milwaukeetief im Bermudadreieck nicht auch besuchen. Jetzt wo man schon mal da war. Puerto Rico war Touristenparadies. Für Geld konnte man alles haben. Sicher auch eines der kräftigeren Boote mit den bulligen Motoren, die als unsinkbar galten. Boote mit zwei Schrauben zu je 600 bis 800 PS, und die man samt Skipper mieten konnte. Sie würden die Strecke in ein paar Stunden schaffen. Kein Problem, wenn man zahlte. Ich erwartete ja nicht, dass sich da draußen außer Wasser irgendetwas Besonderes zeigte, aber trotzdem reizte mich die Vorstellung, einmal dort gewesen zu sein, in diesem mysteriösem Gebiet. Es reizte mich einfach, das Wasser des berüchtigten Bermudadreiecks zu sehen. Jetzt, nachdem ich mich selbst darüber informiert hatte. Vielleicht konnte ich mir etwas davon in einer Flasche mit nach Hause zu nehmen. Ich weiß, das klingt blöd, aber auch daran hatte ich gedacht. Obwohl ich Michael nichts davon sagte. Noch nicht. Ich wollte ihn nur hinhalten.

Der sah mich jetzt an. Ziemlich enttäuscht oder traurig. Oder vielleicht simulierte er diesen Gesichtsausdruck auch. Bei ihm konnte ich mir nicht sicher sein. Ich hatte ihn einmal gut gekannt, aber jetzt? Nach einer Weile sagte ich dann zu ihm: „Also gut, wir haben ja hier noch etwas Zeit. Vielleicht komme ich ja mit.“
Übrigens hatte ich, trotz Urlaub, als Produktmanager eines Katalogs für Utensilien und Werbegeschenke, nebenbei noch ein anderes Interesse gewonnen. Es wunderte mich nämlich, dass hier in Puerto Rico noch niemand auf die Idee gekommen war, aus dem Mysterium des Bermudadreiecks ein Geschäft zu generieren. Unsicherheitstourismus mit sicherem Risiko: „Erleben Sie das Bermudadreieck.“ Vielleicht lag es daran, dass die Aussicht, einfach zu verschwinden oder sonst wie verschluckt oder entführt zu werden, zu den wenigen Dingen gehörte, die nicht verkäuflich waren, oder wofür niemand so ohne weiteres zahlen wollte. Da hatten sie hier so eine Art Weltwunder direkt vor der Küste und konnten es nicht mit Gewinn an den Mann oder an die Frau bringen. Ein Veranstalter hätte die Leute ja wieder wohlbehalten zurückbringen müssen. Aber wer zurückkam, hatte das Bermudadreieck ja nicht erlebt. Dann musste man das Versprechen eben ändern: „Riskieren Sie eine Fahrt ins Bermudadreieck.“ hörte sich plausibler an. Das Risiko blieb überschaubar und was man verkaufte, wäre ein Rest Unsicherheit mitsamt einem Souvenir für die Rückkehrer, ein hochwertiges Flakon mit Bermudadreieckwasser, dem Wasser der Unsicherheit, the water of Uncertainity – oder einfach nur: Uncertainity. gehaucht von einer belegten Frauenstimme: Uncertainity – pour homme, Uncertainty – pour femme. Ich habe diese Idee damals auf einer Serviette notiert für den Produktkatalog unserer Firma mitsamt dem Entwurf zu einem Logo. Es zeigte ein stilisiertes Dreieck, konstruiert aus Wellenlinien. Wenn man mit einem größeren Label kooperierte, war auch eine Kampagne möglich, die das Thema Unsicherheit positiv dramatisierte. Vielleicht mit Menschen, die im dämmrigen Zwielicht in einem Boot auf den Wellen schaukelten, während der Himmel über ihnen eine verdächtige Färbung annahm. Halb belustigt stellte ich mir vor, wie ich nach meinem Urlaub dem Geschäftsführer eine zerkratzte Limoflasche mit trübem Meerwasser auf den Schreibtisch stoßen und dann sagen würde: „Das ist es.“ Ich habe die Sache dann doch nicht weiter verfolgt. Vielleicht fehlt mir einfach der Biss für die ganz großen Geschäfte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass wir bald real in eine ähnliche Situation geraten sollten, was mich an der Geschäftstauglichkeit dieser Idee schnell zweifeln ließ.
Am Tag unserer Ankunft, und nachdem ich ein riesiges Glas mit einem sehr farbigen und sehr alkoholischen Coktail getrunken hatte, war ich bald sehr müde geworden. Ich wollte mich erstmal schlafen legen. Die Frage, ob ich Michael trauen konnte, ob ich ihn aus den Augen lassen durfte, während ich hier meinen Vergnügungen nachging, wollte ich mir vorlegen, wenn ich ausgeruht war. Auch er war offenbar schon eingeschlafen. Vielleicht ließ er sich ja doch noch umstimmen. Wenn ich nicht so schnell eingeschlafen wäre, hätte ich wahrscheinlich Methanblasen gezählt.

Vielleicht wie eine ins Gras herabfallende Nebelkerze, die abseits von jeder Begründung selbstständig und nach einem trockenen Plopp mitten im Bauch aufgekommen zündend anglimmt, auf eine Weise liegend den Magen des Morgens einwölkt, und so vor sich hin dampfend in den Raum raucht, der davon wolkig, gewölbt, geräumig wird, wärmer und wandig, und so in seiner Wandigkeit räumend diesen Raumpunkt umdauert, Fülle andeutet durch Nebeldampf an eben diesem Punkt und Bauchraum, von dem er kommt oder zu diesem Punkt er sich hindehnt, der da so innerlich glimmt und Raum zu Bauch Raubung erzeugt und bäuchlings ansaugt, was mengenleer und Menge nur durch Wolken vortäuschend wärmer zwischen den Magenwänden räumt.
Magenwände, die sehr herumstehen, umherstehen, im Raum stehen, um diesen Hauch und Raumbauch herum dauern, abseits von einer Aufgabe und ihrerseits deshalb unbegründet im Hinhalten und Herhalten lediglich diesen Fülle antäuschenden Raum umstellen müssen, der aber nichts darstellt, das notwendig dauernd umstellt sein muss, dafür das Hinhalten und Herhalten diese Wände ungehalten werden lässt, ungehalten andauernd um ein Raumsein herum, das wolkig sich nur bildet als Raummenge in einem geräumigen und inzwischen auch rauen oder prickelnden Bauchraum, der wolkenhaft warm entwickelt nun umstehende Magenwände aus ihrem bloßem Umherstehen um das glimmende und geräumige sogar raunende, fast schon saugende Zentrum bald mehr von einem Umstellen in ein Umringen hinein zwingt, was dem Warmwolkigen im Innern der prickelnden Leere eine gesteigerte Wärme und Dichte, eben eine Umringtheit gibt, die bald danach zu einem Ballen von Rau hitzig sich baucht, dem aber innen drinnen gar nichts entgegensteht ausser raumgeballter Bauchleere, weshalb es von seiner dichten Geballtheit ungehalten in den Bauch zurück raunt, sich wiederum ausbaucht, wobei ein weitaus fühlbarer Leerraum mit nichtigem Warmhauch sich aufraut, sich öffnet wie wölbend dauernd und umso deutlicher Raum baut, ansaugt, und so seine Raumleere aufgeraut und grasig heiß über die Magenwände in den Bauchraum sendend nach einem Schlucken sich dehnt, vielleicht von etwas leicht Gesalzenem oder Zartknusprigem, das von oben her knuspernd über die Knospen und Papillen heranfließend diesen warmen Raum nun endlich baucht, damit die Magenwände nicht mehr dauernd so ungehalten im Raum herum stehen und das Gesauge und Geraune und Geraube im Bauchraum endlich einen Raum hat –
“Ich habe ein bisschen Hunger.” – sage ich zu Ulrike.
Tatsächlich könnte ich jetzt etwas vertragen. Es ist schon spät. Ein Stück Fleisch, das porig in der Pfanne pratzelt. Oder vielleicht auch etwas Rüherei, orange gelb in der Schüssel schön schaumig gerührt mit glitzernd grünen Lauchstücken samt Knusperspänen von roter Paprika drin. Ein paar blinkende Salzkristalle, Schafskäse, auch ja. Aber eigentlich würde mir schon genügen ein Stück dampfendes Krustenbrot, dass man so abbricht, dazu ein goldiger Gouder. Oder vielleicht auch ein Stück zungengebreiteter Frischlachs auf einem feinem Toast, herrlich, dazu eine Avocado, pflaumenweich mit etwas Parmesan bestreut und dann saugend gelöffelt wie ein Frühstücksei….
Ulrike dagegen ist ja bekennende Süssfrühstückerin. Sie mag morgens eher voluminös aufschäumende Konfitüren, die sie auf kleine Tortellets streicht. Möglichst mit ganzen Früchten, selbstgemacht, die zwischen Gaumen und Zunge zerplatzen zu kleinen Sternchen…
Dabei isst sie ja morgens nie wirklich viel. Aber ihr Körper, den ich gerne anschaue, lässt mich gleich ans Essen denken. Ich denke, das ist trotzdem alles Essen. Es hat Form angenommen. Die Beine da. Die Arme. Die Haare. Der Mund. Interessante Form, die das Essen so annehmen kann. Zum Reinbeißen.
Es knistert auf dem Bett. Das Papier der Zeitungen. Wir schauen in den Immobilienteil. Es geht immer noch um die gemeinsame Wohnung. Wie viel Raum brauchen wir eigentlich. Drei, vier Räume? Man kann ja nie wissen. Auch das Haus ist wichtig. Mit Liegeradfahrern können wir auskommen, aber mit Leuten, die große Hunde haben, nicht. Kinder? Stören nicht. Vielleicht haben wir ja selbst bald eins. Oder sogar zwei. Wie viele Räume? Tatsächlich haben wir uns darüber sogar auch schon einmal gestritten. Ein Streit über unbewohnte Räume. Ich bevorzuge Nordseiten, weil ich direkte Sonneneinstrahlung in Wohnräumen nicht ertragen kann. Ich finde direkte Sonne in geschlossenen Räumen immer sinnlos, oder widersinnig. Drinnen ist drinnen und draußen ist draußen.
Ulrike sieht das anders. Sonne ist doch schön. Schön hell muss es sein. Ich sage dann: Ja, aber hell ist draußen. Drinnen ist drinnen. Keine große Sache eigentlich. Man kann Kompromisse machen. Vielleicht eine Wohnung mit Nord-Südachse oder mit Ost – Nord-West – Achse, dann scheint Morgens leichte Sonne und abends ein wenig, und tagsüber bleibt es angenehm dunkel.
Andererseits ist mir das Thema auch nicht so wahnsinnig wichtig. Obwohl es mir großen Spaß macht, nach Wohnungen zu suchen. Man kommt dabei viel in der Stadt herum und trifft dabei interessante Menschen. Da Ulrike die Sache genauer nimmt, suchen wir jetzt schon eine Weile. Sie hat mir auch schon zum Vorwurf gemacht, dass ich mich für Wohnungen gar nicht interessieren würde. Was aber so nicht stimmt.
Geld ist bei uns nicht das Problem. Wir könnten auch im Internet nach Wohnungen suchen, was wir sicher bald auch tun, aber die Zeitungen knistern so schön im Bett. Mir gefallen die großen Immobilienteile. Vielleicht könnte ich mich mehr bei der Wohnungrecherche engagieren, da mag sie Recht haben. Aber sie nimmt es schon selbst genau genug. Das reicht eigentlich auch. Vielleicht hat sie da auch ein bisschen etwas von ihrem Exfreund abbekommen, der neben seiner Tätigkeit als Möbelrestaurator auch Filtersysteme zu De-Ionisation von Leitungswasser vertrieben hat. Da auch er in seinem Job viel herumgekommen war, auch in den besser verdienenden Haushalten, hatte er wohl gemerkt gehabt, dass selbst in perfekt eingerichteten Wohnräumen immer noch etwas zu tun übrig blieb. Erst war er wohl mit seinen Kunden ins Gespräch gekommen darüber, wo denn nun der aufbereitete Bauernschrank am besten stehen könnte, und dabei war es wohl öfter vorgekommen, dass da von Seiten der Kundschaft plötzlich Feng Shui – Wissen eingefordert wurde. Also hatte er sich weitergebildet, und so gab eins das andere. Schließlich wurde er dann Experte im Auspendeln von Lebensmitteln und Mittelpunkten, bei der Schlafplatzbestimmung per Wünschelrute und zu guter letzt im Vertrieb von homöophatisch motivierten Filtersystemen, die das nur scheinbar gute Leitungswasser mittels irgendwelcher Japansteine für ca 3800 Euro überhaupt erst trinkbar machten.
“Er hat das eben so mitgenommen. Neben den Möbeln” – meinte Ulrike.
“Und du hast davon auch was mitbekommen.” – sage ich.
“Hab ich nicht.” – sagt sie.
“Ist doch kein Problem, eine kleine Macke hat jeder.”
“Wieso Macke – ich will’s eben schön haben.”
“Ich meine, ein Steckenpferd.”
Aber wie gesagt, mich stört es auch garnicht so sehr, dass das nun schon eine Weile so andauert mit der Wohnraumsuche. Wir kommen viel herum, sind an der frischen Luft und sehen viele neue und alte Häuser, Räume.

 

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