TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Hegel Zweinull

Ein Freund kam mir neulich mit der Frage, ob mir ein Institut bekannt wäre, dass den Informationserhaltungssatz erforsche.
Ich fragte ihn, was er damit meinte. Ich würde nur den Energieerhaltungssatz kennen. Von einem Informationserhaltungssatz hätte ich noch nie etwas gehört.
Der Freund sagte darauf hin, er meine etwas ganz einfaches und könne es mir erklären mit ein paar Beispielen. Er selbst hätte sich neulich, als ein Krankenwagen mit Blaulicht auf der Straße an ihm vorbeigefahren sei, die Frage gestellt, wie viele Menschen innerhalb eines bestimmten Zeitraums durch die Einwirkung von Autos im Straßenverkehr ums Leben kämen, und wie viele Menschenleben im selben Zeitraum durch den Straßenverkehr samt Autos und Krankenwagen gerettet würden. Ob man da nicht so etwas wie einen statistischen Ausgleich vermuten könne. Eine Art Gleichgewicht. Eben so eine Art Gleichgewichtssatz des Lebens. Oder ein Informationserhaltungssatz des Todes. Aber er würde es einfach nur Informationserhaltungssatz nennen.
Als zweites Beispiel führte er die Erfindung des Dynamits an. Jeder wüsste, dass seit der Erfindung des brisanten Sprengstoffs bei kriegerischen Handlungen unzählige Menschen durch ihn getötet worden seien. Zugleich aber läge es auf der Hand, dass mit diesem Sprengstoff den Menschen auch ein Mittel zur Verfügung stehen würde, zum Beispiel durch seinen Einsatz in Bergwerken zur Gewinnung von Ressourcen oder beim Tunnelbau, ihre Lebensbedingungen und Landschaften auf eine Art zu gestalten, dass eine Anzahl von Individuen besser überleben könnten, deren Biografien sich ohne dieses Mittel, über Generationen verfolgt, eben hätten gar nicht entfalten können.
(Sein Ausdruck von Dynamit als biografischer Landschaftsgestalter war mir nicht geheuer.)
Ich sagte, gut, bleiben wir beim Straßenverkehr. Der Technologie des Straßenverkehrs fielen Menschen zum Opfer. Zugleich würden aber auch Menschen durch den Straßenverkehr gerettet, eben weil es ein Versorgungssystem sei oder weil Krankenwagen Menschen in Krankenhäuser bringen können, die es sonst nicht geschafft hätten – ein Informationserhaltungssatz des Lebens (oder des Todes, je nach dem) – den meine er also darin zu vermuten. Und beim Dynamit vermute er, dass sich der Anteil der Menschen, die sich mit Dynamit sozusagen ins Leben sprengen, mit dem Anteil derjenigen, die sich in den Tod sprengen, die Waage halten würde…hm.
An dieser Stelle fiel mir etwas ein und ich sagte ihm deshalb, dass er sich seine Frage selber beantworten könne. Die globale Bevölkerungsentwicklung würde zeigen, dass es so etwas wie seinen „Gleichgewichtssatz“ offenbar nicht gibt. Denn global betrachtet sei eindeutig Bevölkerungswachstum zu beobachten, und dieses Wachstum könne man wohl ganz klar darauf zurückführen, dass durch technologische Landschaftsgestaltungen und Errungenschaften der Planet zu einer Komfortzone sich entwickle, die seinen hypothetischen Gleichgewichtssatz eben in Richtung Leben auslenke. Und damit gäbe es eben keinen Gleichgewichtssatz, sondern höchstens einen Vektor der Expansion, der auf menschliche Ausbreitung hinweise.
Damit gab er sich aber nicht zufrieden. Natürlich sei ihm der Gedanke auch schon gekommen, aber er habe ihm nicht so einfach nachgeben können. Die globale Bevölkerungszahl sei zwar gewachsen, geradezu explodiert, aber jeder wisse auch, dass diese Bevölkerungsexplosion hauptsächlich in Regionen verzeichnet sei, in denen so etwas wie ein mental-informeller Nachholeffekt wirke. In Regionen also, die in relativ kurzer Zeit und sehr unorganisch von Null auf Pockenimpfung hochgepusht worden seien, bei immer noch skandalös niedrigem Lebensstandart. Diese Art des Bevölkerungswachstums könne man also nur als sehr in Klammern gesetzt betrachten. Es sei außerdem sehr fraglich, ob der Planet sich gerade in eine allgemeine Komfortzone verwandle.
In allen hoch entwickelten und traditionell reichen Regionen dagegen stagniere inzwischen die menschliche Fortpflanzungsrate. Ein Effekt, der in Deutschland stärker sich zeige, aber insgesamt von der Tendenz her wenigstens in Mitteleuropa als Ausgangspunkt aller technologischen Dynamik überall spürbar sei. Hier kämen die Wölfe zurück. Wittenberge an der Elbe zum Beispiel sei eine leere Stadt. In Europa gäbe es immer mehr Regionen, die aussähen wie nach dem Einsatz der Neutronenbombe.
Er gehe davon aus, dass auch die Wirtschaftswunderwickelkinder in Asien und anderswo irgendwann die selbe Stagnation ihrer biohumanen Fortpflanzungsrate zu spüren bekämen. Es sei nur eine Frage der Zeit. Er hoffe aber nicht, dass sie deshalb die selbe Scheiße durchmachen müssten, wie wir hier in Europa.
Ich fragte ihn, welche Scheiße er jetzt meine.
Mit der Scheiße meine er den Zeitraum von 1914 bis 1945.
Es liege ja auf der Hand, dass in Europa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik die erste technologische Komfortzone mitsamt Bevölkerungsexplosion erwachsen sei. Mit ihrem Höhepunkt in der Gründerzeit. Auch diese Komfortzone hätte zunächst die Rate in Richtung Lebensüberhang, biohumaner Expansion, also Bevölkerungswachstum ausgelenkt. Und dann habe es plötzlich zwei Weltkriege gegeben, deren Vernichtungspotential auf 60 bis 100 Millionen Menschen beziffert werden müsse. Innerhalb von gerade mal 30 Jahren.
Hier unterbrach ich ihn. Ob er damit sagen wolle, dass die beiden Weltkriege eine statistische Notwendigkeit gewesen seien, um seinem Gleichgewichtssatz gerecht zu werden. Eine Art psychophysikalischer Rückholeffekt beruhend auf seinem Informationserhaltungssatz des Todes?
Ich solle ihn ausreden lassen.
Er setze die Schätzung so hoch an, da man die beiden Weltkriege mit etwas Abstand letztlich zu einem einzigen Krieg zusammenziehen könne und er darüber hinaus auch die Opfer von Ideologien dazu zähle, die durch Umsiedlungen oder in Konzentrationslagern ermordet worden seien. An diesem Beispiel könne man nun die Hypothese vorläufig aufstellen, so als ob in dem kurzen Zeitraum von 1914 bis 1945 ein statistischer Korrektureffekt wie ein Pendel den biohumanen Lebensaufschwung der Gründerzeit in einer Art Todesschwung zurückgeholt habe, der in diesem Fall vielleicht – ja durchaus – einem hypothetischen Gleichgewichtssatz gefolgt sein könnte. So als hätte ein unbekanntes Gleichgewichtsgesetz in Europa dafür gesorgt, dass innerhalb von nur 30 Jahren eine Zone der Asymmetrie, des technologisch bedingten Lebensüberhangs in einer Art Todesabgleich zurückgebombt worden wäre. – hinein in den Ausgleich einer Symmetrie.
In diesem Falle müsse man also von einem Informationserhaltungsatz des Todes sprechen. 1945 sei dann eben der Ausgleich markiert gewesen.
Mir wurde mulmig. Es war mir auch nicht angenehm, das ungeheure Leid des letzten Jahrhunderts in solch kühlen statistischen Kategorien zu bedenken, die mir noch dazu sehr hart am Spekulativen zu schrammen schienen.
Ich wies ihn darauf hin, dass ein Erhaltungssatz immer davon spreche, dass nichts vernichtet werden kann, gerade deshalb hieße es ja Erhaltungssatz. Ein Erhaltungssatz spreche immer davon, dass eine Größe nicht vernichtet sondern allenfalls umgewandelt werde. Im Falle der Energieerhaltung eben Wärme in Strom, oder beim Sprengstoff chemische Bindungsenergie in Explosionsenergie, oder die potentielle Energie eines Körpers auf einer schiefen Ebene wandle sich eben in kinetische Energie um, wenn er die Ebene hinabrollt usw… das sei die Pointe von Erhaltungssätzen, die spätestens jedem Realschüler geläufig ist.
In Kriegen werde aber nichts erhalten, sondern vernichtet.
Er erwiderte darauf, plötzlich sehr munter, Umwandlung sei das Stichwort! Wer wisse denn, dass in Kriegen nicht auch etwas umgewandelt werde? Wer sage denn, dass es immer nur Bevölkerungen seien, die explodierten. Finde sich nicht in dem Wort Bevölkerungsexplosion ein Hinweis darauf, dass eine unbekannte Tauschsymmetrie zwischen biohumanem Potential und technologischem Potential wirken könne?
Ich sagte, dass man heutzutage tatsächlich immer mal wieder auch Bevölkerungen explodieren sieht, in den Nachrichten, aber leider auf eine ganz und gar nicht nur statistische Art und Weise. Ob er das auch in seine Tausch- und Erhaltungsüberlegungen mit einbeziehe?
Ja, diese Explosionen auf die ich anspielte, könne man sehr wohl in diese Überlegungen mit einbeziehen. Sie ereigneten sich hauptsächlich in den Regionen, welche die Pille und andere Verhütungen noch nicht in großem Stil für sich entdeckt hätten.
Die Pille als pharmazeutisch technologisches Moment, hätte bei uns in Europa nicht als Selbstbestimmung der Frau Einzug gehalten sondern als Regulativ der Menschenvermeidung. Und zwar genau in dem Moment, als das Wirtschaftswunder am Abklingen war, als klar war, dass auf Grund der technologischen Entwicklung eben viele Menschen in Zukunft nicht mehr gebraucht würden.
Die Pille sei ein gutes Beispiel für eine weiche Bombe, ein technologisches Regulativ, das den Zyklus der harten Kriege, in dem damals Menschen regelmäßig vernichtet wurden, in einen weichen Krieg der Menschenvermeidung überführt hätte. Auch hier sei die Sprache mal wieder klüger als die Familienministerin selbst. Denn die Sprache spreche von der demografischen Zeitbombe, welche die Menschenanzahl von hoch entwickelten Technologiegesellschaften über ein noch zu erforschenden Informationserhaltungssatz dem tatsächlichen Bedarf anpasse, um allzu große Asymmetrien zu vermeiden oder auszugleichen. Seltsamerweise in umgekehrt sprachlicher Verwandtschaft zur Bevölkerungsexplosion. Wer bräuchte denn heute noch so viele Menschen bei uns? Und wofür? Für die Lebensfreude? Für das Arbeitsamt? Für die Spielplätze? Für die Familienministerin? Da solle man sich doch keine Schwachheiten einbilden!
Deshalb glaube er eben, dass in den Wirtschaftwunderwickelkinder-Ländern früher oder später der Modernisierungsschub zu ähnlichen Menschenvermeidungsstrategien führen werde, im schlimmsten Fall über harte Kriege.
Das eben meine er mit der Scheiße, von der er nicht hoffe, dass sie über uns kommt. Er hoffe auch dort auf einen weichen Krieg der Verhütung, der Geburtenregelung oder den weichen Krieg der Unlust, neue Arbeitslose zu gebären.
Ich war jetzt etwas verwirrt und wollte noch einmal auf die beiden Weltkriege zu sprechen kommen und fragte ihn, wenn es sich seiner Meinung nach nicht um Vernichtung handle, sondern um Umwandlung, dann müsse er erklären, welche Größe er denn eigentlich im Sinn habe, die seiner Meinung nach lediglich umgewandelt werde und deshalb erhalten bliebe. Denn er spreche ja von einem Gleichgewichts- oder Erhaltungssatz. Wenn ich seinem Gedanken folgte, hieße dass ja, dass Menschen in Kriegen lediglich umgewandelt, nicht aber vernichtet werden.
Darauf hin sagte er gelassen, dass er mir diese Frage auch nicht genau beantworten könne. Dem müssten Forschungsinstitute nachgehen. Er glaube aber, dass Kriege die Aufgabe haben, Menschen in Technologie umzuwandeln. Die Geburtenschwäche von hochentwickelten Technologiegesellschaften müsse man wohl als weichen, ganz stillen Krieg begreifen, den der Informationserhaltungssatz des Todes initiiere, um einen vitalen Ausgleich zwischen menschlicher und technologischer Sphäre herzustellen. Es müsse sich um eine Art mental-informellen Haushalt handeln, der die Tendenz habe, vom Menschen in Technologien abzufließen. Und wohl auch umgekehrt. So werde in harten Kriegen natürlich zunächst jede Menge Wärme erzeugt und als Energie an die Landschaft abgegeben. Andererseits entstünden sehr viele neue Technologien. Es sei ja kein Geheimnis, dass Kriege so etwas wie schnelle Brüter für den technologischen Fortschritt sind. Gerade unsere Gegenwart wohne doch technologisch betrachtet in einer Kriegsarchitektur. 99,9 Prozent der Komponenten, die heute unseren Alltag bewegen, seien in den beiden vergangenen Kriegen zwar nicht von Grund auf konzipiert aber doch in Gang gesetzt worden – vom Computer bis hin zum GPS oder den Wettersatteliten, die nur da oben herumflögen, weil es damals in Peenemünde die V2 als Vorläufer der ersten Orbitalraketen gab. Man könne all diese Dinge als positive Kriegsfolgen bezeichnen, aber ebenso als gefrorenes Leid, denn man dürfe nicht vergessen, dass unsere Transistoren, Funkstrecken, Satellitenbilder, Düsentriebwerke sozusagen virtuelle Leichenteile enthielten, Menschen, Kriegstote, Zivillisten, abgeschossene Piloten, ertrunkene Seeleute, die gestorben sind, weil es plötzlich das Radar gab, weil es die V2 gab, weil es Transistoren gab, Zielpeilung, Rechentechnik und so weiter…. Unsere Handys, Computer, Radios und Navigationssystem röchen deswegen alle auch unangenehm süßlich, nach Heraklits berühmten Vater aller Dinge.
Zugleich enthielten diese Technologien aber auch viele virtuelle Überlebende, die damals und heute durch ihren Einsatz vor dem Tod bewahrt wurden und werden. Sie seien auch gefrorenes Glück. Ein Satellit, befördert von den Nachfolgemodellen der V2 könne schließlich Leben retten. Auch hier müsse man eben so etwas wie eine informelle Tauschsymmetrie vermuten, die von Instituten statistisch erforscht werden könnte.
Nach dieser Tauschsymmetrie könne man den Begriff Bevölkerung eben in Zukunft nicht mehr nur auf Menschen beschränken. Eine Volkszählung müsse eben auch anteilmäßig Apparate, Automaten und Geräte erfassen, die heute die Stelle von Menschen eingenommen haben und diese weiter ersetzen. Nach dieser Methode käme man dann zu dem Ergebnis, dass wir ganz und gar nicht an einem Geburtenrückgang litten, sondern dass wir vielmehr eine ganz normale, ausreichend freundliche Geburtenrate haben, wenn wir akzeptierten, dass Menschen in technologischen Gesellschaften sich eben nicht mehr nur unter ihres gleichen fortpflanzen. Sie reproduzierten sich auch in ihre technologische Umwelt hinein. Die Maschinen und Apparate seien eben auch unsere Kinder.
In welchen Anteilen und unter welchen Gesetzen, müsse eben erforscht werden.

Wir schwiegen eine Weile. Der Abend war schon weit fortgeschritten. Ich war nur noch müde. Allein vom Zuhören hatte ich einen trockenen Mund und deshalb wollte ich jetzt auch nach Hause.
Dann sagte er, dass ich Ihm seine Frage noch gar nicht beantwortet hätte.
Welche Frage denn?
Ob mir ein Institut bekannt sei, dass den Informationserhaltungssatz erforsche.
Nein, sagte ich, es sei mir kein Institut bekannt.

Auf dem Nachhauseweg mit dem Fahrrad über eine leere Straße sah ich hinten am Horizont die GROWIAN. Die Flügel ihres Windrads drehten sich sehr schnell und wirkten unglaublich munter, geradezu lebendig.

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