Natur der Technik 02

Als damals im schwerelosen Raum die ersten Moleküle sich einander näherten, waren es Agenten eines unauffälligen Gewichts. Die ersten, die da zusammen schwebten, addierten sich und zogen so die nachfolgenden aus ihrer Vereinzelung hinein in die wachsende Gravitationsgemeinschaft einer allmählich sich formierenden Gasmasse.
Da aber alle hinzuaddierten Teilchen chaotisch und von verschiedenen Seiten in den wachsenden Verbund drängten, waren die Vektoren ihrer einschießenden Massebeträge nie ganz exakt zur Mitte hin ausgerichtet. Die vielen diskreten Impulse der vagabundierenden Elemente wirkten zumeist asymetrisch, jenseits des Zentrums, wie winzige Peitschen auf einen Kreisel, und trieben die Peripherie jener Wolke an, die ihre neue Heimat wurde. Mit ihr verschmelzend gaben sie ihr zugleich den Anstoß. Aus Abermilliarden molekularer Ankunftsbewegungen resultierte eine große Radiale. Die Wolke wurde schwerer und begann sich um ihr Zentrum zu drehen.
Mit zunehmendem Gewicht zog sich das Gebilde unter seiner eigenen Gravitation immer weiter zusammen. Aber der eingefangene Drehimpuls begleitete den Kollaps und schuf im Laufe der Zeit seine energetischen Abkömmlinge. Ein Teil wurde über Reibung in Wärme verwandelt und abgestrahlt. Ein anderer Teil modellierte die in sich hineinstürzende Gasmasse zur hochroten Kugel, in deren gepresstem Zentrum schließlich die Kernfusion zündete.
Der dritte Teil rotiert heute in halbwegs geregelten Bahnen, wälzt, eiert und knetet in moderatem Abstand die kühleren Klumpen um das seltsame Feuer dieser Sonne.

Wir haben unseren Teil mitbekommen. Die Kurbelwelle unseres Herzens, der Abschied und die Ankunft unseres Atems, Ebbe und Flut, Systole und Diastole – das alles kann ein Bild davon geben, welche Grundbewegung uns um und um treibt. Wir bleiben rund. Der Drehimpuls ist unsere Größe, unsere Erhaltungsgröße.

Einerseits.

Andererseits das Erstaunen eines jungen Mädchens, als sie im Mathematikunterricht zum ersten Mal erkennt, wie eine Drehbewegung, die so beruhigend und gemütlich vor sich hin dreht, über eine simple Sinus-Funktion als Welle gezeichnet plötzlich gar nichts Gemütliches oder in sich Geschlossenes mehr an sich hat. Die viel mehr, nachdem sie einmal gedacht und konstruiert wurde, Raum erobert, expandiert, und über das Millimeterpapier hinaus ins Unendliche rollt.
Das Mädchen weiß seitdem, dass ein Zurück zur Natur nur so eine Redensart ist.
Sie kann auch ihrem Vater keinen rechten Glauben mehr schenken, der als Philosoph an seinem Computer Texte über das Besinnliche schreibt oder darüber, dass es menschliche Werte gäbe, die unverändert oder unantastbar bleiben. Sie nimmt es ihm nicht übel. Sie versteht ihn sogar und liebt ihn dafür. Aber sie glaubt ihm nicht mehr.
Nachdem sie einmal diese Welle begriffen hat, wundert sie sich auch nicht mehr darüber, dass sie im Biosupermarkt um die Ecke viel mehr Softwareingenieure antrifft als etwa Bauern mit Erde an den Händen.
Sie denkt, dass diese Erde wohl bald ganz abfallen wird, nicht in ihrer Generation und auch nicht in der nächsten, aber sie wird abfallen – trotz der immer mal wieder in den Wellentälern sich setzenden Hinwendung zum Basilikumpflänzchen, zum Cocooning oder zu einem imaginierten Ort, den man “innerstes Zentrum” nennt.
Und manchmal, wenn sie bemerkt, dass wieder einer ihrer Bekannten oder Freunde dem starken Impuls folgt, sich um sich selbst zu drehen, nimmt sie es gelassen. Denn sie weiß ja, dass dieses Umsichselbstdrehen ganz notwendig ist, um die Dinge ins Rollen zu bringen.

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