Natur der Technik 13

Endlich bin ich angekommen. Der Weg hier her war lang, aber gerade jetzt weiß ich nicht, was ich Dir sagen könnte und ob Du uns verstehen kannst. Jetzt, während ich diesen Pullover trage, dessen Stoff so gut am Körper liegt – immernoch, obwohl ich ihn in den letzten zwei Jahren sehr gern und oft angezogen habe. So gern, dass viele Waschgänge den Namen des Herstellers auf dem Ettikett haben ausbleichen lassen. Aber sein Material ist wunderbar elastisch geblieben. Ich könnte einen Ärmel fassen und ihn über meine Hand ziehen. Sie würde verschwinden, und mein Arm sähe einem beleidigten Röhrenwurm ähnlich. Weißt Du? Wir haben über soetwas schon gelacht. Wir. Ich weiß nicht, wie es mit Dir werden wird. Aber der Stoff, so elastisch wie er ist, verträgt es. Nach diesem kleinen Spiel säße er wieder wie neu. Angenehm. Passend. Ohne irgendwelche Dehnungen oder Beulen. Es ist mein Lieblingspullover.
Ich bin sehr neugierig, wie sich all diese Dinge später für Dich anfühlen.
Später – wenn Du unsterblich bist. Du. Dir möchte ich einen Brief schreiben.
Sollte ich Angst haben – wovor? Ich habe alle Zeit der Welt. Das haben sie zu mir gesagt. Gesagt, kurz bevor sie auf Zehenspitzen die Tür zuzogen und mich allein ließen in diesem Raum. Raum mit Wandfarbe, gedimmtem Licht, einer höflichen Pflanze, einem Tisch, einem Stuhl, dem Formular und diesem Kugelschreiber hier vom Hanauer Erlebnisbad.
Lieber Sohn. Mein lieber Sohn. Ich möchte dir etwas sagen.
Den Weg hierher in dieses Institut bin ich zu Fuß gegangen. Allein. Claudia – ja, deine Mutter, deine Mama, wollte nicht mitkommen, aber sie hat ihr Einverständnis gegeben. Sie ist einverstanden, aber sie wollte nicht mitkommen.
Trotzdem ist noch nichts entschieden. Die letzte Entscheidung liegt in meiner Hand. Ich muss das Formular lesen, ausfüllen und dann unterschreiben. Sie haben mir gesagt, ich hätte alle Zeit der Welt. Sogar, wenn ich es mir hier anders überlegen sollte und dann doch nicht unterschreibe – niemand wäre mir böse. Auch Claudia, deine Mutter nicht. Deine Mama. Sie ist einverstanden mit dem, was ich tue.
Ich weiß, dass wir beunruhigt sein sollten, eine solche Entscheidung zu treffen. Man hat uns ausgesucht, man hat uns dieses Angebot gemacht, wir haben das Angebot angenommen. Für Dich. Damit ist vielleicht nichts wirklich erklärt, aber wir werden noch Gelegenheit haben, genauer darüber zu sprechen. Das hoffe ich. Hoffen: Auch etwas, das wir so, wie wir heute noch sind, besonders gern tun.
Jetzt sitze ich schon eine Weile hier und hätte längst unterschreiben oder einfach wieder gehen sollen. Aber ich gebe dem Bedürfnis nach, Dir diesen Brief zu schreiben – in diesem Moment. Obwohl ich „diesen Moment“ gerade zu hassen beginne. Sein angebliches Gewicht. Du sollst ein Leben ohne Gewicht führen, und deshalb schreibe ich Dir diesen Brief. Er soll Dich begrüßen. Dann schreibe ich ihn besonders gern.
Lieber Sohn. Ich möchte Dir etwas sagen. Den Weg hierher in dieses Institut bin ich zu Fuß gegangen. Heute morgen war es kalt, aber wenn man lange genug unterwegs ist, wird der Boden warm. Das kommt vom Gehen, das ja immer ein Fallen in die Sohlen bleibt. Schließlich bin ich Körper, nicht ohne Schwere. Soundsoviel mal fällt er nach unten. Das erzeugt Temperatur, Eindruck, etwas Abrieb, Spuren. Gegenwart ist am schwersten zu überliefern. Aber Du hast ein Recht darauf. Wenigstens möchte ich es versucht haben. Jetzt. Denn ich weiß nicht, wie sich all diese Dinge später für Dich anfühlen werden. Wenn man zum Beispiel seinen eigenen Atem sieht, so wie ich heute morgen, als ich aus dem Haus ging. Oder die leichte Enttäuschung kurz vorher, beim Biss in ein Brot, dessen Teig zu weich geraten war und die Zähne einen unerwarteten Moment zu früh wieder aufeinander schlagen ließ. Die Eitelkeit des Beißens. Das peinliche Pathos im Auf – und Zuklappen des Kiefers, der so gern gebissen hätte und auf einmal so gegenstandslos ins Weiße hackt . Kannst Du uns verstehen?
Wie fühlt sich das an, wenn man unsterblich ist? Ich schweife ab. Ich stelle Dir Fragen, obwohl ich Dir Deine beantworten sollte. Dann frag mich. Du könntest mich fragen, wie es war – damals, heute, jetzt. Wie es ist. Dann antworte ich, damals heute jetzt gehen Leute übers Pflaster, beugen die Knie, belasten ihr Gewebe, und manche halten sich an einer Tasche fest. Wenn Sie die Straße überqueren wollen, bleiben sie stehen, schauen nach rechts und nach links, und wenn kein Fahrzeug kommt, gehen Sie weiter. Die meißten kennt man nicht. Alle tragen Schuhe. Auf dem Weg nach unten in die Schächte der Stadt zieht das Kind den Arm seiner Mutter in die Länge, weil es das Katzengold im Gestein der Stufen glimmern sieht. Nicht alle haben „alle Zeit der Welt“. Dann rollt die U-Bahn ein, gelbes Ding aus schwarzem Grund schiebt einen langen Geruch in die Löcher der Wartenden. Ich habe mich entschieden nicht einzusteigen. Habe meinen Gang wieder aufgenommen. Zu Fuß.
Ich weiß, es erklärt Dir beinahe nichts. Die Frage wie es war, damals, heute, jetzt, ist einfach zu groß. Ich kann sie Dir nicht beantworten. Wir werden, so hoffe ich, noch Gelegenheit haben, darüber zu reden. Aber es ist auch nicht nichts. Es ist etwas, von dem ich mir wünsche, dass Du es empfindest, auch nachdem ich Dich mit meiner Unterschrift in dein neues Leben verabschiedet habe. Zugleich möchte ich Dir sagen, dass ich nicht wirklich sicher bin, dass richtige zu tun. Ich weiß eigentlich noch nicht einmal wirklich, was ich tue. Ich bin nur ein Mensch, kein Gott. Aber vielleicht gibt mir diese Unsicherheit mehr Legitimation zu handeln als nur irgendeinem dahergelaufenen Alles-Seher. Auch weil ich glaube, dass alle Taten, die je etwas bewirkt haben, der Unruhe entkamen und nie der Sicherheit. Ja, ich habe Angst in diesem Moment. Die Angst, Dich zu verlieren, wenn ich dieses Formular unterschreibe, dass Dich so anders macht als mich. Die Angst, dass wir eben doch nicht mehr werden miteinander reden können, weil Du … dann nicht mehr mein Sohn bist. Du mich nicht mehr verstehen kannst. Deshalb dieser Brief. Weil ich kein Gott bin, sondern nur ein Mann, der einen Pullover trägt. Und trotzdem – ich bin einverstanden. Aber ich möchte Dir auch etwas sagen.
Neulich haben wir uns Fotos angeschaut. Fotos auf schwarzem Karton, milchiges Pergament dazwischen, das knistert, wenn Claudia es mit ihren Händen wegblättert. Ein wenig reden, viel schauen. Sie und ich am Tisch mit diesen fremden gewesenen Personen, die man nur noch anblickt. Dieses Gedeute und Gesuche unterm Fingernagel, wie er sich da so herunterkrümmt und umher erinnert – das war hier, das war der und das war da – wie wirst Du das später empfinden? Fotos hinter Pergament. Vielleicht bleibt Dir das erspart. Wie schön es dagegen sein kann, ein kühles Bier zu trinken. Sein anstößiges Geprickel am Gaumen.
Lästig sind auch die kleinen Videofilme von Hochzeiten. Freunde, immer die selben verwackelten Bilder. Da sehe ich schon nicht mehr hin. Ich hätte sie längst alle gelöscht, aber Claudia, deine Mutter, möchte sie behalten. Dafür liebe ich sie. Auch sie ist vergänglich, wie ich.
Ich bin unruhig. Es war ein langer Weg hierher. Das Formular stellt Fragen, fordert Einverständnisse, Rechtssicherheit. Ja, ich bin der Vater. Ja, ich bin bevollmächtigt. Ja, man hat mich über die Risiken aufgeklärt. Ja, ich bin geboren worden. Dabei wissen sie das alles längst. Welche Risiken? Was sie hingegen nicht wissen, ist, dass mir sterbliche Menschen zunehmend peinlich werden. Ich schreibe das nicht in’s Formular, aber Dir möchte ich es sagen.
Auf dem Weg hierher kam ich an einer Menschenansammlung vorbei. Auf der gegenüberliegenden Seite einer Straße, vor dem Schaufenster eines Fernsehgeschäfts, das seine Geräte bei laufendem Programm ausstellt. Da sind sie stehengeblieben, weil es irgendwas interessantes zu sehen gab. Plötzlich ist einer von ihnen nach hinten weggekippt. Sein Kopf fiel auf’s Pflaster wie ein Ball. Die Umstehenden waren erschrocken, aber sie ließen den Mann nicht allein. Sie haben sich um ihn gekümmert, erschrockene Bescheidwisser, betteten ihn auf den Gehweg, schoben ihm eine Handtasche unter sein blutenendes Gesicht. Wahrscheinlich Schlaganfall. Obwohl sie alle zufällig da zusammengekommen waren, wirkte ihre Zuwendung jetzt aus der Ferne beinahe wie geplant. Uralte Verrichtung – vertraut, geübt, kompetent, verschworen. Diese verdammte Kompetenz. Durch die Unruhe hindurch, sah ich die Bildschirme im Schaufenster mit dem immergleichen Anzug eines Moderators.
Ich erzähle Dir das, weil ich das Gefühl hatte, etwas Unzeitgemäßes, längst Überholtes zu beobachten. Etwas, das nicht mehr zu uns passt. Es passt nicht mehr zusammen. Ich habe es gesehen und mich nicht zum ersten Mal gefragt, wozu wir das heute noch brauchen – dieses Nachhintenwegkippen. Deshalb bin ich hier her gekommen. Brauchen wir den Tod noch? Ich denke, wir brauchen ihn nicht mehr. Der Tod ist wertlos und dumm geworden. Eine überholte Angewohnheit, von der man schon in naher Zukunft wird sagen können, dass sie so entbehrlich war wie ein abgetragenes Hemd, ein Handkuss im Supermarkt oder ein Zahnarztbesuch im 12. Jahrhundert. Wir brauchen den Tod nicht mehr.
Er war unser Entsorger, aber wir gaben ihm Kosenahmen. Wir nannten ihn den großen Gleichmacher, das letzte Mysterium, den Kulturstifter und allmächtigen Begrenzer, der den Rahmen und die Landschaft des Lebendigen abstecken sollte. Wir haben ihn ausstaffiert als Übergangsfigur, Gebäck, Gerippe, Vogelscheuche, gewidmet dem angeblichen Kreislauf von Werden und Vergehen. Und immer wieder haben wir uns erniedrigt, ihm die Jacke hinzuhalten, ihm unsere Sprache zu schenken, bevor wir ihn in unser Zimmer einließen als jeweils anonymen, heldenhaften, sinnlosen, ganz privaten, nicht umsonst gestorbenen – im schlimmsten und niederträchtigsten Falle aber – als Tod im Kreise unserer Liebsten. Wir haben den Mantel der Rede über ihn gelegt, uns an ihn geklammert, ihn gefeiert und besungen. Dabei sind wir melancholisch, ängstlich und klein geworden und kippen immernoch nach hinten weg. Aber es wird Zeit, Abschied von ihm zu nehmen. Abschied von einer Ausrede, die uns niemand mehr glaubt. Sie passt nicht mehr zu uns. Mein lieber Sohn, ich möchte, dass aus Dir ein Mensch wird.
Auf dem Weg hierher habe ich Dich gesehen oder das, was man mir von Dir gezeigt hat. Hier im Institut, eher zufällig durch eine offenstehende Tür sah ich das kleine Grüppchen von Forschern in frischen Kitteln. Sie bemerkten meinen Blick durch den Spalt und baten mich freundlich herein. Drinnen hörte ich ihre behutsamen Stimmen, sah ihre Hände und fühlte mich dort unter dem Licht, das auf Inkubatoren und einigen Terrarien mit Labormäusen schien, plötzlich sehr geborgen. In der Nähe dieser schnell atmenden Tiere empfand ich eine warme übergreifende Verbundenheit mit allem Lebendigen in diesem Raum. Hier waren wir noch einmal ganz unter uns. Kompetente sterbliche.
Ich weiß, dass wir uns mit der Unterschrift dieses Formulars schuldig machen, ich und deine Mama, weil wir Dich damit unwiederruflich aus unserer Gemeinschaft ausstoßen. Du wirst ihr nicht mehr angehören. Ein Eingriff in dein Erbgut wird dafür sorgen, dass ab deinem 26. Lebensjahr alle Reifungsprozesse übergehen in die Phase der zyklischen Regeneration, so dass Du gegen Verletzungen, Krankheiten und weiteres Altern immunisiert bist. Für alle Zeit der Welt. Du wirst unsterblich sein.
Aber Du wirst nicht allein bleiben. Andere werden folgen. Ihr werdet die erste Generation ohne Ausrede sein. Eure eigenen Erfahrungen und Empfindungen haben, und nur die wenigsten werdet ihr mit uns teilen können.
Trotzdem – Fangt etwas an ohne diesen Tod. Ihr braucht ihn nicht mehr.
Wir nehmen die Schuld an.
Ich habe Dich gesehen. Eine Pinzette in der Hand des Leiters der Abteilung. Er hob Dich langsam aus einem sehr kalten Nebel. Du warst ein Gefäß im frischen Rauhreif eines Edelgases. Darin ein Teil von mir und Claudia. Das also wird es sein. Hier irgendwo unter dem Summen der Belüftung und dem Atmen deiner kompetenten Betreuer sollst Du beginnen. Ich gebe mein Einverständnis, nehme Abschied und heiße Dich willkommen.

PS.:

In diesem Moment trage ich einen Pullover. Sein Stoff liegt gut am Körper, immernoch, obwohl ich ihn in den letzten zwei Jahren sehr gern und oft angezogen habe. So gern, dass viele Waschgänge den Namen des Herstellers auf dem Ettikett haben ausbleichen lassen. Aber sein Material ist wunderbar elastisch geblieben. Ich könnte einen Ärmel fassen und ihn über meine Hand ziehen. Sie würde verschwinden, und mein Arm sähe einem beleidigten Röhrenwurm ähnlich. Weißt Du? Wir haben über soetwas schon gelacht. Wir. Ich weiß nicht, wie es mit Dir werden wird. Aber der Stoff, sehr elastisch, verträgt es,. Nach diesem kleinen Spiel säße er wieder wie neu. Angenehm. Passend. Ohne irgendwelche Dehnungen oder Beulen. Es ist mein Lieblingspullover.

Schreibe einen Kommentar