TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Natur der Technik 09

Der neue Hauptbahnhof, Berlin Douglasdorf. Oktobernachmittag in mittlerer Auflösung, Mausklickarchitektur, lang durchs Glas fingerndes Licht, Zier- und Rollköfferchen am Sushi-Karussel, asiatische Ziffernblattgesichter mit Hauptstadtzertifikat, Wartende. Viel Platz auf den Bahnsteigen. Dicht über dem Fußboden schwebend, neben den Kehrmaschinen, helljackige Rentner und Reisende, taumelnde Buntstiftstriche pastellfarben, beinahe zum Anklicken, mit perfekt proportionierten Einkaufstüten, wie der Architekt sie geträumt hat. Abfahrt und Ankunft über kreuz, aber Züge sind auf diesem Bahnhof eher nebensächlich. Schuhe sollen hier Geräusche machen. Klick klack, soviel zur Stimmung. Nicht viel los also.
Dann aber doch, sozusagen plötzlich, wie ein Programmfehler von einer unsauberen Regionalbahndatei eingeschleust: Fußballfans in Schwarz. Hu Hu…Geräusche im Bahnhof. Ruft da wer? Flashback in eine andere Zeit. Flashback zurück in die unappetitlichen 70iger, mit Kotletten, Kassettenrekordern, schambehaarten Pornofilmen, letzten Kriegskrüppeln und den „Rowdys“ mit Knackfröschen in der Hand, Jeansweste über der Lederjacke in schlecht durchlüfteten Haltestellenbereichen.
In den 70igern – na gut. Aber heute hier und jetzt ist das so passend wie Achselnässe über dem Laptop. Und die hier sind aus der zweiten oder dritten Liga. Und irgendwann könnte es sich auch mal wieder herumsprechen: Fußball ist und bleibt – WM hin WM her – an einem ganz bestimmten Ende leider was für Dumpfbacken. Die Party ist vorbei. Das musste mal gesagt werden. Deshalb jetzt auch ein paar angenehm ins Gewicht fallende Polizisten. Diese wiederum optisch kontrolliert, sauber. Gebügelt und gepanzert ein wenig, aber gelassen. Durchtrainiert, aber nicht übertrieben. Aufmerksam, ausgeschlafen, wachäugig, federnd – das schon, aber deeskalativ. Dafür gut gespannt Funktion ausstrahlend. Und einen sehr reinlichen Standpunkt vertretend, so ganz in der Nähe der Rossmannfiliale. Bestens installierte müllgrüne Entsorgungsexperten mit schwarzen Handschuhen am Gürtel, für den eventuell notwendigen Zugriff auf das zu sortierende Material aus der zweiten oder dritten Liga. Später vielleicht mit weiteren Arbeitsgängen befasst, wie dem Hochdrehen der Arme, dem Einknicken der Kniekehlen und dem Festmachen des Objekts mit kontrolliertem Beindruck zwischen die Schulterblätter zum Dosieren des Nase-Boden-Kontakts. Ich mag diese Polizisten. Mann, bin ich ein Spießer geworden.
Aber das sind nur Tools, Optionen. Nicht notwendig zu aktivieren an einem kanzleramtlich geprüften Herbstsonntag mit Orangenhaut. Die tiefere Programmroutine wird heute nicht hochgefahren.
Man kann getrost weiterschlendern und zum Beispiel bei Kaisers hereinschauen. Dem Piepen der Kassen lauschen. Während draußen der kleine Bug mit den Drittligafans ganz oberflächlich, zur Feier des schönen Tages, grafisch gelöst wird. Ein dynamischer Filter retuschiert die pöbelnden Pixel. Drittligapixel mit ungünstiger biographischer Prognose sind nicht mehr vorgesehen in diesem Entwurf. Und sie merken es dann auch selbst, dass etwas nicht mehr kompatibel ist mit ihrem Auftritt. Aber es kommt wie es kommt – kaum haben sie es bemerkt, ist es auch schon zu spät. Der imaginäre Mauszeiger des Architekten hat sie zur Gruppe arrangiert. Auf der Rolltreppe. Dort stehen sie neben sich. Wenn das Zeitfenster verpasst ist, ein stiller Mann zu werden, dann steht man eben irgendwann mit Vorstadtgesicht im schwarzen Runen-Shirt unterm Riesenrad mit Blick in sein eigenes Leben und muss sich ertappt fühlen.
Aber ertappt – wobei? Beim Hitlergruß? Beim ungezogen sein? Rücken zur Fahrtrichtung, Fäustchen hoch, ein Lied. Dünne Stimmen in einem viel zu hellen, viel zu weiten Raum, während der sonst so schwere Körper langsam wie durch einen Lichtschacht durch die Biosphäre in Richtung Spanndach-Nirvana gleitet. Dem oberen letzten Bahnsteig entgegen. Wie sterblich fühlt man sich, wenn man auf so einem Bahnhof einfach nur umsteigt und die leere Bierflasche in den Papierkorb gleiten lässt. Unten die Gruppe von Polizisten, die deutlich ihren reinlichen Standpunkt vertritt. Sie verfolgen, die Arme verschränkt und langsam in den Nacken knickendem Köpfen, die Bewegung ihrer dahin gleitenden Sonntagsbeschäftigung, wie sie da so ungezogen Treppe fährt. Ihr kommt da nicht mehr runter. Ihr nehmt jetzt Rolltreppe, dann die S-Bahn und macht Euch auf den Heimweg. Denn ihr alle habt es bald hinter Euch. Einer der Polizisten schaut auf die Uhr. Vier, drei, zwo, eins… noch ein schüchterner Hitlergruß von dort mit Sprechgesang… gut für ein Foto mit der Digicam. Für die Akten? Für das Album? Ein letztes Bild zum Abschied einer Gattung, die mit sonnigem Rülpser im Kürbis des Oktobers verschwindet. Viele Türen öffnen und schließen sich heute ganz automatisch. Zurückbleiben bitte.

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