TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Einen Charakter einrichten.

Vor kurzem durch die Kinoverfilmung wieder aufgeblendet: Patrick Süskinds Das Parfüm.
Es ist wahrscheinlich, dass sehr viele Menschen dieses Buch gelesen haben. Ich will auch gar nichts zu dem Film sagen, sondern nur eine, vielleicht die wesentliche Idee des Romans noch einmal hervorkramen, eine Idee, die – wie es so schön heißt – zum Nachdenken anregt. Hier ist sie:
Wer den absoluten Geruchssinn beansprucht, darf selbst absolut keinen Geruch an sich haben.
Neben allen anderen Pfaden, auf denen Süsskinds Plot wandelt, scheint mir dieser immer noch einer der interessantesten.
Gut, der Schuster muss selbstverständlich die schlechtesten Schuhe tragen, der Weinprüfer darf nur mit gereinigtem Gaumen kosten, und jeder Spion weiß, dass er nur dann gut hören kann, wenn er selbst geräuschlos bleibt. Insofern alles noch nicht sehr originell. Aber jemanden den eigenen Geruch zu nehmen, ist eine subtile Grausamkeit und stellt ihn in ein radikales sinnliches Abseits.
Könnte das nun, übertragen auf das Problem des Charakters, bedeuten: Ein Mensch ist um so sensibler, aufmerksamer, weitläufiger, feinnerviger, offener, je weniger ihn selbst so etwas wie ein eigener Charakter einschließt, ihm anhaftet, sich als spürbar behauptet – je weniger an ihm selbst Aufmerksamkeit erregt? Erreicht er umso entlegenere Punkte der Zuordnung, je entfernter er selbst von jeder Zuordnung sich aufhält?
Immerhin ermöglicht es die eigene Geruchlosigkeit dem Helden in Süskinds Roman sich seinen Mitmenschen und späteren Opfern unbemerkt bis auf wenige Millimeter zu nähern. Bis auf Nackenhaarlänge. Wenige Millimeter bis kurz vor der Liebe.
Die eigene Geruchlosigkeit dehnte seine Reichweite bis in unermessliche Nähe. Aber trotz seines Vordringens in die Nähe blieb er der einsamste Mensch der Welt. Wer keinen eigenen Geruch hat, existiert nicht. Dass Süskind seinem Helden aber doch eine Existenz gab, war eine bösartige und denkwürdige Überschreitung. Sein Held Grenouille war ein Geruchsmilliardär, aber kein einziger Geruch gehörte ihm. Oder noch einmal anders: Die Nase von Grenouille war maximal ausdifferenziert, allerdings um den Preis, dass diese Fähigkeit ihn selbst dazu verdammte, im geruchlosen blinden Fleck aller Düfte zu stehen, ein schwarzes Loch im Zentrum seiner Galaxie, dem selbst nichts entweicht und von dem aus er im 360 Grad-Radius sein olfaktorisches Universum beroch, regierte, komponierte und antrieb.
Und schließlich zum Mörder wurde, in dem er seinen Opfern die Gerüche – „abnahm“. Schwer zu sagen, ob Süsskind so theoretisch gedacht hat. Wahrscheinlich nicht, aber wer weiß es. Ich selbst neige hier dazu, ihm das zu unterstellen. Wer jetzt noch nicht eingeschlafen ist, wird sich inzwischen gefragt haben, worauf ich eigentlich hinauswill. Ich werde mich bemühen, auf den Punkt zu kommen.
Wenn man so ein bisschen herumriecht, dann bemerkt man, dass unsere Gegenwart um ein geruchloses Zentrum herum organisiert ist und dies bei sehr feiner Ausdifferenzierung aller nur möglichen Gerüche. Als säße im Zentrum unserer gesellschaftlichen Praxis dieser Parfümeur und Komponist, dieser unheimliche Grenouille, der selbst keinen Geruch verströmt aber dafür alle feinen Einzeldüfte identifiziert, ihren originären Trägern „abnimmt “ und sie dann wieder feinzerstäubt, molekular und diskret in die nahe oder fernere Peripherie speist.
Irgendwo in Deutschland sitzt heute eine geruchlose Regierung, aber in den Straßen gibt es die ausdifferenziertesten Duft-, Geruchs – Charakter- und Schicksalsinseln. Läden, die ganz scharf nur Senf verkaufen und sonst nichts. Leute, die nur Hemden von 1962 tragen und sich stark von denen unterscheiden, die 75iger Pollunder bevorzugen. Oder Restaurants, die darauf bestehen, nicht einfach als Inder angesprochen zu werden, sondern als Südsüdwestbangalore-Inder.
(Bevor mir jemand eine allzu parfümierte Realitätswahrnehmung unterstellt, mache ich es lieber selbst: Ja, meine Realitätswahrnehmung ist parfümiert. Wobei es dem mündigen Leser nach Belieben freisteht, noch andere Diffenzierungen und Schicksalsinseln herauszuriechen, wie zum Beispiel auch solche, die bei Schlecker lange nach einem bestimmten Abflussreiniger suchen, um ihn dann dem Kind zu trinken zu geben u.s.w.)
Die hässlichen Schlagwörter hierfür wären Partikularisierung bei komplementärer Tendenz zur Mischung und Globalisierung.
Darüber ist nun schon einiges gesagt worden und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Trotzdem interessiert mich die Idee, dass jede Dynamik der Ausdifferenzierung um ein maximal indifferentes Zentrum sich ereignet.
Während der sogenannte Alltag auf geruchlosem Spannteppich geht, haben sich Duft, Geruch, Charakter und Persönlichkeit zu wahren Sensationen gemausert, Sehnsuchtfluide, die abgelöst von ihren originären Trägern gemixt, konstruiert und gehandelt werden. Der mentale Geruch eines Menschen, eines Charakters oder eines ganzen Lebens wird bereits sehr vollständig synthetisiert. Das „Echte“ wandert über abgezogene Dielen, findet sich auf Hosen mit gekauften Löchern oder in Geschäften und Flohmärkten, auf denen man glucksend viel Geld für Merkwürdigkeiten hinblättert, weil man Kitsch plötzlich niedlich findet. Schließlich spürt man, dass so ein Plastikwecker mit Blinkleuchte und Muezingekrächze irgendwie echter riecht als man selbst. Die Nachfrage ist enorm gestiegen, denn natürliche „Authentizität“ kann kaum noch jemand bezahlen. Die Grundnoten werden im Kino gehandelt. Jack Nicholson ist so schön authentisch. Wer noch? Selbsverständlich kennt jeder in seiner Umgebung noch irgendein Original, dass er gern dem anekdotischen Genuss preisgibt. Aber indem er dies tut, offenbart er bereits eine empfindliche Nase und eine verdächtige Sammlerleidenschaft für Seltengewordenes. Im Normalfall aber handelt man untereinander mit Wechselscheinen, sogenannte Geruchspapieren.
„Sei Du Selbst“ wäre so ein hoch im Kurs stehendes Geruchspapier mit tausendprozentiger Wertentwicklung.
Viel Phantasie steckt auch in dem übersaisonalen Klassiker „Lebe Dein Leben.“, ein Geruchspapier, das wir an den Feiertagen unserer Existenz aus dem Safe holen. Ganz ähnlich unterliegt auch „Sei einfach Mensch.“ einer Börsendynamik. Dass insbesondere die Aktie „Mensch“ so hoch im Kurs steht, zeigt an, dass die Nachfrage gewaltig ist. Verweist auf Seltenheit. Sie wird dem Anbieter aus der Hand gerissen. Darüber hinaus gilt für alle diese Papiere vor allem eines: Sie werden immer wertvoller. Der Autor rät dem Leser deshalb, sich frühzeitig mit folgenden Geruchspapieren einzudecken. Hier sind besonders rasante Kursentwicklungen zu erwarten:
„Finde Deine Mitte.“ (Ausgabewert 7 Euro 50.)
„Sei ganz natürlich.“ (Vorzugsaktie 10 Euro)
„Sei einfach ehrlich.“ (Ausgabewert 8 Euro)
„Sei einfach wie du bist“ (Stammaktie, 9 Euro 60)
„Lebe Dein Leben.“ (4 Euro 70)
„Mach Dich locker.“ (10 Euro 70)
„Sei einfach echt.“ (14 Euro 80)
„Mach einfach dein Ding.“ (8 Euro)
„Lache oder weine, wenn Dir danach ist.“ (16 Euro)
„Sei spontan.“ (Emissionswert 13 Euro)
„Liebe es.“ (11 Euro)
„Lebe Wärme und Gemeinschaft.“ (Vorzugsaktie 7 Euro)
„Mach mal was Unkonventionelles.“ (12 Euro)
„Sei ein origineller Typ.“ (Ausgabewert 6 Euro)
„Denke sozial.“ (12 Euro.)
„Sei einfach Mann.“ (Basiswert 9 Euro 40)
„Sei einfach Frau.“ ( Basiswert 9 Euro 40)
„Sei mal richtig leidenschaftlich.“ (12 Euro 60)
„Machs Dir mal wieder gemütlich.“ (Ausgabewert 7 Euro 50)
„Sei einfach genau wie die anderen.“ (noch nicht aufgelegt, kommt aber.)

Wer nimmt uns unsere Gerüche ab?
Es gilt inzwischen als gesicherte Erkenntnis: Im Zentrum der allermeisten Spiralgalaxien sitzt ein supermassives schwarzes Loch.

4 Antworten zu „Einen Charakter einrichten.“

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