Weißt Du, warum ich dich gerne wiedersehen würde? Du warst ja damals immer so lieb. Heute wahrscheinlich immer noch. Aber darum würde ich Dich nicht gerne wiedersehen. Das kenne ich ja schon. Darum geht es nicht.
Damals hab ich doch auch schon gesagt: “Du bist ja schon wieder lieb. Sonders originell ist das wirklich nicht.” Und du musstest ja immer gleich fragen: „Ja, liebst du mich denn nicht mehr?“ Und dann habe ich geantwortet: „Och…ich sag mal so – hast Du schon mal versucht, in Honig zu schwimmen?“ Und dann hast Du geweint. So lieb geweint.
Hast du ja damals immer. Ich hatte mich schon richtig dran gewöhnt, dass du immer weinst. Habe ich gesagt: „Du siehst so hübsch aus, wenn du weinst. Möchtest du nicht ein paar Zwiebeln schneiden?“ Und dann hast du gesagt, ich hätte einen Beschützerkomplex. – Ich einen Beschützerkomplex? Ich würde dich NIE beschützen!
Und dann hast du wieder geweint. Haben wir die Zwiebeln gespart.
Um meinetwillen, hast du immer gesagt. Du hast um meinetwillen geweint. Du und dein doofes Mitleid! Wenn du wüsstest!
Ich hab dir doch damals erzählt, dass ich eine schwere Kindheit gehabt habe. Dass ich immer die Kleider meiner älteren Schwester auftragen müsste. Und da warst du ja wieder mit deinem doofen Mitleid.
Soll ich dir was sagen? Es hat mir großen Spaß gemacht, die Kleider meiner älteren Schwester zu tragen. Ich habe mich im Kleiderschrank meiner älteren Schwester einschließen lassen, um sie alle für mich zu haben.
Soll ich dir was sagen? Ich hatte überhaupt keine ältere Schwester. Ich habe mir die Kleider alle selbst gekauft. Ich habe meine Eltern um Geld angebettelt, ich habe gefleht, ich habe gewimmert… und sie haben immer nachgegeben, weil sie so lieb waren. So wie du. Mein Vater musste sogar einen zusätzlichen Job als Pförtner in einer Tiefgarage annehmen, weil er mich nicht betteln sehen konnte. Und weil er mich sonst regelmäßig von diversen Polizeistationen abholen musste, wenn ich mal wieder in Mädchenkleidern aus dem Kaufhaus stolziert war, an denen noch die Preisschilder lustig im Winde flatterten.
Und weil ich damals perfekt epileptische Anfälle simulieren konnte, wenn ich nicht bekam, was ich wollte.
Aber als ich dir das erzählt habe, als ich dir erzählt habe, dass meine epileptischen Anfälle damals alle gespielt waren, dann kam die Zeit, da hast Du mir ja gar nichts mehr geglaubt. Nichts hast du mir mehr geglaubt. Ich brauchte ja nur einmal „Guten Morgen“ zu sagen – dann bist du gleich Schlafen gegangen.
Und als ich dir dann gesagt habe, dass ich dir niemals epileptische Anfälle vorspielen würde – deutlicher kann man seine Liebe ja wohl nicht zeigen – da hast du gesagt: „ich kann dir nicht mehr glauben. Und ich kann auch nicht mehr um dich weinen.”
Und dann habe ich gerufen: „Kannst du nicht mal schweigen? Kannst du nicht nur einmal schweigen?“ – Und du dann: „…“ – Und ich: „Sag mal – weißt du es nicht? Oder schweigst du schon?“
Ich weiß es bis heute nicht. Darum.
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