TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Wind machen.

Lass sie nicht mir gelten! Noch nicht! betet sie inbrünstig, als sie die Sirenen herannahen hört.

Sie ist fast oben. Ihr gedrungener Oberkörper streckt sich und drückt das geschulterte Gewicht ein weiteres Stückchen in die Höhe. Rechter Fuß auf die nächste Stufe. Hoch. Strecken. Atmen. Ausruhen. Nein, nicht Ausruhen. Die Sirenen. Linker Fuß hinterher.

Der Rücken strahlt längst einen durchgehenden, dumpfen Schmerz ab. Das ist besser als das heiße Ziehen gleich nach dem ersten Wegesdrittel, das sie dann eine böse Etappe lang bei jedem Schritt durchfuhr.

An dauernden Schmerz kann man sich gewöhnen. Man kann sich an alles gewöhnen, denkt sie und nimmt eine weitere Stufe. Sie hat sich ja selbst an die Sauerstoffmaske gewöhnt. Beim ersten Probieren kam ihr gleich alles hoch, als sie der Gummigeruch überwältigte. Damals wollte sie aufgeben. Wegen so einer Lappalie. Und jetzt ist sie fast am Ziel.

Ihr Körper wird langsam taub. Besser so, danke schön. Der richtige Schmerz wird später kommen. Das weiß sie. Wenn sie sich ausruhen wird.

Bald kann ich mich ausruhen.

Neue Stufe. Strecken. Neue Stufe. Atmen. Am Anfang hat sie die Stufen fließend genommen. Jetzt ist jede einzelne die nächste Herausforderung. Das hatte sie so erwartet. Der Aufzug war viel zu klein, das war ihr bei ihrer ersten Visite sofort aufgefallen. Also lief es von Anfang an auf das Treppenhaus hinaus. Sie hatte sich auf die Beugen und Strecken eingestellt. Nicht mehr weit. Du schaffst es, denkt sie und meint es auch so. Wo sind die Sirenen?

Fast da. Wenn sie nur wüsste, ob sie den Fahrstuhl wirklich lahmgelegt hat. Das fensterlose Treppenhaus ist angefüllt mit konzentriertem Lavendelduft; keiner fände so einfach den Atem, ihr auf diesem Wege zu folgen.

Sie könnte die Schulter noch einmal wechseln. Zuviel Aufwand. Alles ist taub. So ein langer Weg. Wie sie den Entschluss fasste. Wie sie sich selber auslachte. Wie sie begann, den Baum zu schaffen. Diese Unmengen an Rispen, Blüten und Öl. Der Dampf. Die Beschwerden der Nachbarn. Und da hatte der Baum nicht mal ein Zehntel seiner wahren Größe. Linker Fuß. Strecken.

Der alte Heuschober, den sie fand. Die tägliche Strecke zu ihm. Dann das Schlimmste: Als man sie wirklich in das Sicherheitspersonal des Fernsehturms aufnahm. Und ihr bewusst wurde: ich weiß nicht, ob ich es wirklich tun will.

Schön, daran zu denken. So denkt man nicht an die Stufe.

Sie weint. Sie legt ihre Stirn an das schmerzhaft kalte Metall der Außentür und weint. Der riesige Kunstbaum, ihre Last, steht neben ihr und überragt sie um ein Mehrfaches. Für seine Größe ist er erstaunlich leicht. Wenn man ihn zum ersten Mal hebt. Im ersten Moment. Vielleicht noch in der ersten Viertelstunde. Schluss mit Weinen. Wenn sie ihrem Körper zu lange Zeit lässt, die Taubheit zu verlieren, wird er ihr nicht mehr gehorchen. So schlecht, wie sie ihn behandelt hat.

Mit steifen, fremden Fingern stakst sie mit dem Schlüssel um das Sicherheitsschloss herum. Wieder kommen ihr Tränen. Das Schloss verschwimmt. Der Schlüssel fährt hinein. Danke. Sie lässt sich gegen die schwere Tür fallen und schwingt mit ihr auf. Der grimmig kalte Wind schneidet ihr ins Gesicht; selbst unter dem Gummi der Atemmaske wird ihr kalt. Sie war sich sicher, dass man sie herauswinken würde, als sie so am Steuer des Miet-LKWs saß. Jemand wird uns riechen, dachte sie vor jeder Ampel. Wie lange ist das her? Keine fünf Stunden.

Das ist die Plattform. Tief unten blinzeln die elektrischen Lichter der Stadt in der kalten Tintennacht. Die kleinen Lampen am Fuße der Antenne beleuchten ihre dünne, rot-weiße Höhe; weit oben an ihrer Spitze blinkt das weiße Warnlicht. Ihr Baum wirkt lachhaft klein im Vergleich. Trotzdem.

Sie geht gebückt und zieht den Baum flach und vorsichtig über den Boden. Wenn der Wind ihn herunterweht, kann sie ihm nur folgen. Hilf mir jetzt, Papa Valnet. Ihr Körper tut weh. Die Kälte tut weh. Sie ist hier so allein, dass sie sich vor Heulen fast übergeben muß.

Trotzdem. Sie tut es. Sie wird ihn jetzt an der Antenne befestigen. Sie wird den größten Duftbaum der Welt an dieser Antenne befestigen, und der Wind wird den heilenden Lavendelduft über die ganze Stadt verteilen. Der Lavendel wird uns reinigen. Er wird diese Stadt reinigen. Er wird sie heilen von ihrer nervösen Verspannung, von ihrer Schwermut und von ihrer Depression.

Sie löst das Schiffstau von ihrer Hüfte, führt es einmal um den Antennenfuß und fädelt es in die Metallöse an der Rückwand des Baumes. Mit festem Stand greift sie die Enden des Taus und zieht. Sie lächelt. Der Baum hebt sich vom Boden.

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