TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Finger fertig.

Meine Freundin war ja damals erst drei Stunden weg. Da wusste ich schon, dass man sie entführt hatte.
Warum ich das so schnell wusste?

Na! Eingekauft war schon, und der VHS-Kurs war immer mittwochs. Also was hätte sie so lange außerhalb der Wohnung machen sollen?

Aber auf der Wache lachte man nur; der Wachtmann rief „Drei Stunden!“, und dann lachte er ein einsames „Ha!“

Genau so einsam ging ich schlafen, und ich schlief nur sehr wenig.

Am nächsten Morgen fand ich in meinem Briefkasten den ersten Drohbrief: „Wir haben Ihre Freundin entführt“ stand da.

„Da!“ hätte ich dem Wachtmann jetzt gerne gesagt. Aber das ging nicht.

„Deponieren Sie eine Lösegeldsumme in Höhe von… heute Abend im Gebüsch hinter dem Altglascontainer auf dem Neumarkt. Schalten Sie nicht die Polizei ein, denn sonst sehen Sie Ihre Freundin nie wieder. Und damit Sie sehen, dass dies unser blutiger Ernst ist, haben wir diesem Brief einen Finger Ihrer Freundin beigefügt.“

Es war wahr. Ich erkannte sofort ihren Ring mit dem herzförmigen Bernstein. Was sollte ich also tun außer zahlen? Außerdem entsprach die geforderte Summe bei weitem nicht der, die ich seit der letzten Leergutrückgabe noch im Hause hatte.

Also deponierte ich, und ich schlief sehr schlecht in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen fand ich den zweiten Brief – und den zweiten Finger. Und ich zahlte ein zweites Mal.

Am dritten Morgen fand ich den dritten Brief. Und den dritten Finger. Und ich zahlte ein drittes Mail.

Nach zwei Wochen beschlich mich ein erster Verdacht. Diesmal zahlte ich deutlich weniger. Und siehe da – der Tonfall des nächsten Briefes hatte sich merklich verändert:

„Bitte“, hieß es da, „der Finger lag doch anbei. Seinen Sie ein Mensch. Ihre Freundin leidet fürchterlich, und wir brauchen das Geld auch dringend.“

Ich weiß mittlerweile wirklich nicht mehr, was ich davon halten soll. Einmal schreiben sie mir, sie wollten sich von dem Geld ein warmes Essen kaufen, einmal heißt es, sie hätten ihr Portemonnaie verloren und bräuchten eine neue Rückfahrkarte. Ich weiß ja nicht.

Natürlich versuche ich immer, etwas zu geben. Man will ja helfen. Nur: ich hab auch keinen Dukatenesel im Keller! Es wäre dort ja auch gar kein Platz für das Tier. Es steht ja alles voller Finger!

Derzeit sind es Finger verschiedenster Couleur und Beschaffenheit, die mir geschickt werden: weiße Finger, braune Finger, gelbe Finger, große Finger, kleine Finger, behaarte Finger, glatte Finger, alte Finger, junge Finger – einmal lag sogar ein Zeh im Kuvert, dem man zur Tarnung einen Ehering, übergezogen hatte. Ich lagere sie in dem Holzverschlag, in dem ich normalerweise meine Kartoffeln einkellere. Und ich bestreue sie auch mit dem gleichen Puder, damit sie nicht keimen.

An das Alleinsein habe ich mich übrigens gewöhnt. Gar nicht so schlecht. Ich schlafe jetzt besser.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert