Katasterstrophe.

Es war einmal… ein kleiner Kastasteramtsbeamter aus Rheda-Wiedenbrück, der trug an manchen Tagen während der Arbeitszeiten Blue Jeans. Sicher war das mittlerweile möglich, und es gab immer mehr Katasteramtsbeamte – nicht nur in Rheda-Wiedenbrück – die davon schon mal Gebrauch machen. – Zugegebenermaßen waren es oft eher mäßig modische Modelle von Blue Jeans, die da die Katasteramtsbeamtenschenkel umhüllten. Aber trotzdem: es hat sich einiges geändert im Laufe der Jahre.

Der kleine Beamte läuft durch die Flure des Katasteramtes von Rheda-Wiedenbrück, und er trägt sein Blue Jeans zum ersten Mal, seit sie in der Wäsche war. Sie sitzt ein kleines bisschen zu eng, wie sie es nach d Wäsche immer tut, doch er ist trotzdem froh, dass sie wieder im Amt ist. Der Flur ist leer…er streicht sich mit beiden Händen freundschaftlich über das eigene Blue-Jeans-Gesäß. Plötzlich halten seine Hände inne. In de rechten Gesäßtasche seiner Blue Jeans steckt deutlich fühlbar etwas. Was auch immer es ist: es ist mitgewaschen worden. Der kleine Katasteramtsbeamte fischt einen Brief ohne Kuvert aus der Tasche, einen Brief, der einen zwar verwaschenen, aber noch deutlich erkennbar amtlichen Stempel trägt.

Haaaaaaah!“

Der Ausruf des Entsetzens hallt durch die Flure des Katasteramtes, und hinter den Türen halten die fleißigen Finger der anderen Katasteramtsbeamten einen Moment lang inne. Solche Töne ist man in der Regel nur auf den Fluren des Sozialamtes, das heute Jobcenter heißt, gewohnt.

Der kleine Beamte erinnert sich: es war ein Kollege des Straßenbauamtes gewesen, der ihn bei einer flüchtigen Begegnung in der Kantine gebeten hatte, diesen Brief dem Leitenden Beamten des Fuhrparks einzureichen. Die Bitte machte Sinn, liegt doch die Städtische Kantine von Rheda-Wiedenbrück in Stadthaus A, das Straßenbauamt in Stadthaus C, das Büro des Leitenden Fuhrparkangestellten – ebenso wie das Katasteramt – in Stadthaus D. Die Trennung von Straßenbauamt und Fuhrpark sollte im Rahmend des Umzugs vor vier Jahren eine provisorische sein, hat aber noch immer Bestand.

Da heißt es zusammenhalten

…hatte der kleine Beamte gedacht, genickt und den Brief in die rechte Gesäßtasche seiner Blue Jeans gesteckt. – Was ihn aber den Brief im Laufe der Mittagspause hatte vergessen lassen – daran konnte sich der kleine Beamte nicht mehr erinnern. Vielleicht war es das neue Gewürz in der Soße der Königsberger Klopse, die er danach gegessen hatte und die ein bisschen anders geschmeckt hatten als sonst. Nicht schlechter. Irgendwie würziger. Oder es war das Malheur mit dem Fleck: er hatte aus Überraschung über den neuen Geschmack einen kurzen Moment nicht aufgepasst und sich einen Klecks der Soße auf die neue Blue Jeans fallen lassen.

Ich darf nicht vergessen, sie gleich heute in die Wäsche zu geben,

hatte er auf dem Rückweg von Stadthaus A in Stadthaus D die ganze Zeit gedacht, und darüber hatte er den Brief wohl vergessen. Der kleine Beamte entfaltet den Brief. Ebenso verwaschen wie der amtliche Stempel, aber ebenso deutlich lesbar sind die Buchstaben. Das Datum liegt 11 Tage zurück.

An den Leitenden Beamten des Fuhrparks, Herrn Gehse. Sehr geehrter Herr Gehse, lieber Willi, wie Du ja weißt, arbeiten wir noch immer an der Mittelstreifenbegrünung an der Autobahn A2 vor den Toren unserer Stadt. Aus organisatorischen Gründen konnten wir unseren Bauarbeitern heute Morgen das Dienstfahrzeug nicht an der Baustelle stehen lassen. Bitte lass unsere Jungs also heute gegen Dienstschluss abholen. P.S. Grüß Margret von mir.

Hmmmmmmh…

Diesmal sucht sich das Entsetzen in einem fast tonlosen, gepressten Wimmern Laut – ein Ausdruck von solcher Verzweiflung, wie man ihn sogar auf den Fluren des Sozialamtes, das heute Jobcenter heißt, nur sehr selten hört. Der kleine Katasteramtsbeamte weiß: die A2 vor Rheada-Wiedenbrück ist vierspurig und eines der dichtbefahrendsten Teilstrecken des bundesdeutschen Autobahnnetzes. Der Verkehr fließt dicht an den Arbeitstagen, an den Feiertagen, in den Ferien, am Tag, in der Nacht…mit einem Worte: immer! Wenn irgendein Mensch durch irgendeinen saudummen Zufall auf dem Mittelsreifen ausgesetzt werden würde, dann hätte er zu keinem Zeitpunkt eine Chance, die Autobahn lebend zu überqueren.

Kann ein Mensch in elf Tagen verhungern oder verdursten? Wenn sie schlau sind, dann haben sie die Baustellenbegrenzungshütchen umgedreht und den Morgentau darin gesammelt, und es hat doch vor drei Tagen geregnet. Und bestimmt sind auch ein paar überfahrene Katzen oder Igel oder Kaninchen in die Baustelle geschleudert worden. Oder sie haben gelost, wen sie als erstes aufessen, oder wer als erster Hilfe holen muss, und bestimmt fehlen schon mindestens zwei oder drei, und die anderen sind schon fast bewusstlos vor Schwäche, und das ist alles meine Schuld!

Der kleine Katasteramtsbeamte lässt den Brief fallen, als sei er plötzlich glühend heiß geworden. Dann dreht er sich um, geht erst langsam, dann immer schneller die Flure des Katasteramtes entlang. Das Geräusch seiner laufenden Füße lässt alle fleißigen Finger der anderen Katasteramtsbeamten für längere Zeit innehalten, denn solche Töne ist man auf keinem der Flure irgendeines Amtes gewohnt.

Der kleine Katasteramtsbeamte stürmt hinaus, er verlässt in der regulären Amtszeit sein Büro – und ward nie mehr gesehen im Katasteramt von Rheda-Wiedenbrück. Er hinterlässt: seinen Schreibtisch in einem nicht ordnungsgemäßen Zustand.

Nachtrag:

In letzter Zeit berichten die Arbeiter von Baustellen auf Autobahn-Teilabschnitten in der gesamten Bundesrepublik – vermehrt vor allem aber auf der A2 – von einer immer wiederkehrenden, seltsamen Begebenheit: ein kleines Auto mit unkenntlich gemachten Kennzeichen hält am Ende der Baustelle, ein kleiner Mann steigt aus und wirft ein Paket in Richtung der Bauarbeiter. Bei den ersten malen befürchtete man noch Sprengstoff, nach einigen falschen Alarmen aber weiß man, dass diese Pakete immer Lebensmittel und Getränke enthalten, die einen durchschnittlichen Bauarbeitertrupp mindestens eine Woche lang versorgen können: Obwohl den kleinen Mann niemand erkennt, ist er mittlerweile sehr beliebt bei den Autobahnbauarbeitern. Wenn er wieder einmal an einer Baustelle hält, dann winken ihm die Arbeiter zu.

Er aber winkt nie zurück, sondern fährt sich nur nervös mit den Händen über die Gesäßtaschen seiner Blue Jeans, stürzt in seinen Wagen und fährt wieder davon.

Wohin? Das weiß niemand.

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