TEUTONIKA – Leben in Deutschland

ER BLICKT AUF PENELOPE HINAB.

  Nachdem er ihr die Arme und Beine losgebunden und sich ans Fußende gesetzt hatte, da, da hatte sie sich noch nicht bewegt. Gleich zu Anfang nur, als sie wieder frei war, hatte sie die eine Hand zaghaft an das Gelenk der anderen geführt, hatte es vorsichtig befühlt, aber nicht angesehen, hatte aufgestöhnt, hatte sich ihre zerfetzte Kleidung über die freie Brust gezogen, war mit den Augen dabei jedoch immer an der Decke geblieben.

„Lass mich Dir etwas erzählen, ja? – Und höre mir bitte erst nur zu, ja… bitte. – Ich hatte hier schon mehrere Monate gewohnt, hier, hinter diesen Fenstern, und eines Tages habe ich irgendwie bemerkt… aber eigentlich hatte ich es damals auch gleich sehr deutlich gespürt…“, sie wendet den Kopf ein wenig und blickt zu einem der Fenster, die Vorhänge waren von ihm zurückgezogen worden, noch bevor er sie losgebunden hatte; das Fenster war weit offen. „…Da hatte ich damals bemerkt, dass Du mich beobachtest und auch heimlich Aufnahmen von mir machst… Es war seltsam… ja seltsam, dieses Gefühl, an jenem ersten Tag, aber auch an den vielen anderen darauf; und es blieb immer so, wirklich seltsam. Ich kann ´s nicht anders formulieren“, sie blickt wieder an die weiße Decke. „Und dann, nicht viel später war es eigentlich schon, da wollte ich natürlich wissen, wer dieser Mensch… wer, wie sagt man, dieser „Spanner“ ist. – Und dann, ich konnte es erst nicht glauben, dann… dann erkannte ich Dich wieder: Egon Kalb, von allen nur Charlie genannt. – Du warst es… Du bist es.“

„Egon Kalb!?“
  Charlie hat sich erhoben, hat dazu viel Zeit gebraucht, ist neben Penelope, an das Kopfende des Bettes getreten.
  „Aber WIESO? – Wieso erkannten Sie mich“, Charlie dreht sich von Penelope fort und geht auf eines der offenen Fenster zu, schaut zu seiner Wohnung hinüber, einen Stock höher wohnt er, dort, zwanzig, fünfundzwanzig Meter sind es vielleicht nur bis zu ihm. Versteinert steht er da. „Aber was… mein Gott, aber was… was heißt das denn: SIE ERKANNTEN MICH WIEDER?“

Es klingelt an der Wohnungstür. Penelope und Charlie schrecken hoch.
  Sie schaut auf ihre zerrissene Kleidung, in Richtung Korridor, auf Charlie, zum offenen Fenster, wieder zur Tür und steht, als es abermals klingelt, vom Bett auf, taumelt.
  Sie streift sich einen langen Morgenmantel über und schwankt zur Wohnungstür.
  Charlie sieht ihr aus leeren Augen nach.
„Ja“, wird Penelope ruhig und gefasst fragen, samten und liebenswürdig, nachdem sie die Tür öffnete und vor ihr, im Treppenhaus, zwei uniformierte Polizeibeamte stehen, von denen der hintere einen auffällig müden Eindruck macht.

„Guten Morgen, Wachtmeister Braun“, wird der nicht so müde Polizist sagen, wird auf das Namensschild an Penelopes Tür blicken, sie irritiert ansehen und fragen: „Frau Braun?“
Und Penelope wird charmant lächeln und sofort spüren, dass sie mit dem Mann, vor ihr, umgehen kann, komme was denn kommen wolle. Aber was, was sollte es jetzt auch noch sein, wird sie sich denken. Sie wird auch den müden Beamten anlächeln, und dann wieder den, der sie fragte. „Ja, ich bin ´s“, wird sie zu ihm sagen. „Und in voller Größe. Sie heißen tatsächlich auch Braun?“
  „Dürfen wir mal einen Moment reinkommen?“ Der Müde wird plötzlich wacher werden und einen Schritt auf sie zu machen, so, als wolle er endlich etwas tun, seine Erschöpfung in einer Art geschäftigem Diensteifer überwinden. Und der andere wird sich an ihn hängen, nun dicht hinter ihm stehen und sie werden wachsam auf Penelope schauen. Und sie wird beide mit einer galanten Handbewegung zum Eintreten einladen, als gäbe es nichts Gewöhnlicheres als Polizisten zu empfangen. Und sie wird sagen: „Aber natürlich, kommen Sie. – So früh am Morgen sind sie schon unterwegs“, und es wird so klingen, als bemitleide sie die beiden Männer, die nun schon in ihrer Wohnung sind und interessiert um sich blicken werden.
„Guten Morgen“, Wachtmeister Braun hat Charlie bemerkt, steht plötzlich fast vor ihm, wogegen der andere, der anfangs Müde, zu einem der Fenster gegangen ist und mit außerge-wöhnlich ernster Mine hinaus und auch hinunterblickt. Und da Charlie Wachtmeister Brauns Gruß nicht erwidert hatte, wendet der sich schnell wieder an Penelope: „Frau Braun, es geht um Folgendes: Uns wurde mitgeteilt, dass aus dieser Wohnung…“, und der kleine dickliche Mann, der auch Braun zu heißen vorgibt, schaut um sich, bleibt wieder auf Charlie hängen, stutzt diesmal etwas, dreht sich aber weg von ihm, zu Penelope, da Charlie für ihn nicht fassbar war, von ihm nichts zurückkam, er schließlich nicht einmal ansatzweise, auch nur in irgendeinem Sinne, verdächtig war, ja es für ihn wohl nie sein könnte. „…Es wurde uns mitgeteilt, dass aus dieser Wohnung, ab genau dreiuhrzwölf, laute Schreie einer Frau zu vernehmen waren.“
  „Schreie?“ Penelope sieht Charlie an, aber immer noch ist sein Blick leer und nicht mal eine Spur fragend. „Das kann eigentlich nur der Augenblick gewesen sein…“, fährt Penelope fort. „…als mich mein Freund jagte. Da habe ich geschrieen, mehrmals sogar und laut, wirklich geschrieen. Aber mehr in… in Lust…“
  Penelope lächelt, sieht Wachtmeister Braun an. Der Müde ist inzwischen von den Fenstern neben seinen Kollegen getreten und pendelt mit dem Blick zwischen Charlie und Penelope hin und her, kann sich wohl nicht vorstellen, dass Charlie jemanden gejagt hätte, oder wie er es selbst machen würde, oder warum Penelope dabei schreien musste, und aus was für einer Lust eigentlich.
  „Ich weiß nicht, ob Sie mich richtig verstehen“, Penelope ist direkt vor den Müden getreten, lächelt ihn verführerisch an, sagt zu ihm, obwohl, sie doch weiß, das der andere Braun heißt: „Sie können das doch verstehen Wachtmeister Braun; ich sehe Ihnen das an.“
  „Na, wenn das so ist“, der falsche Wachtmeister Braun, senkt seinen Kopf und wendet sich von Penelope ab, geht an seinem Kollegen vorbei, auf die Tür zu. Wachtmeister Braun folgt ihm, ein wenig verunsichert.
  „Ja, so war es. Jedenfalls im Großen. – Brauchen Sie etwa noch Details“, fragt Penelope, indem sie den beiden Polizisten zur Wohnungstür folgt.
  Charlie steht, wo er die ganze Zeit gestanden hatte und sieht den dreien nach. Misstrauen prägt seinen Blick. Aber vielleicht ist Charlie auch immer noch einfach nur erschöpft.

Wachtmeister Braun war schon im Treppenhaus und blickte dort die Stufen hinauf, so als sei die Arbeit noch nicht beendet, als sein Kollege sich von Penelope verabschiedete und sie dabei sagte: „Und haben Sie noch Fragen, ist vielleicht noch etwas?“

Sie fühlt plötzlich Schmerzen in den Fesseln beider Beine, Müdigkeit, Durst, einen unendlichen, beißenden Durst, empfindet alles auf einmal.
  „Nein, nein, die Sache ist damit in Ordnung, Frau Braun. Aber wir mussten den Hinweis schon ernst nehmen“, und der Polizist wird leiser sagen, Spuren melancholisch sogar, ohne es selber wohl richtig zu bemerken: “Zwei Häuser weiter von hier, da wurde in der letzten Nacht eine Frau erwürgt.“
  Penelope blickt zu Charlie zurück, doch der schaut regungslos aus dem Fenster, und dann verfolgt sie wieder Wachtmeister Braun, der im Treppenhaus inzwischen mehrere Stufen weiter nach oben gegangen ist, nun regungslos dasteht und in die Höhe lauscht.
  „Das ist ja furchtbar. Und, haben Sie den Täter gefasst?“
  „Kurz darauf schon. Es war der Ehemann. Der hatte sich danach vor seinem Haus, in sein Auto gesetzt und sich die Abgase dahinein geführt. – Weg war er.“ Und der Müde lacht jetzt sogar ein wenig.
  „Heute in der Nacht?“
  „Ja heute.“
  Der Müde geht die Stufen zu seinem Kollegen hinauf. Penelope schließt langsam die Tür.

(Auszug aus “Augen auf Penelope”)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert