TEUTONIKA – Leben in Deutschland

HOFFENTLICH BIST DU NICHT MEHR SO SCHÖN WIE DAMALS.

„Ja.“
  Charlie ist erschrocken.
  „Ja“, wiederholt er noch einmal und legt seine Kamera fort und guckt aufmerksam um sich, bleibt mit dem Ohr fest am Handy. Um ihn herum geschieht nichts.
  „Nein…!“ Er steht auf und schlägt sich eine Hand gegen die Stirn. „Das kann nicht sein.“ Nicht weit von Charlie schwebt ein Airbus vorüber. „Ein Moment, einen kleinen Moment, es ist gerade so laut“, schreit er in das Handy und sieht wieder um sich. Zwei Rebhühner flattern in die Höhe und landen gleich wieder.
  Ein Lächeln, das erst nur um Charlies Mund spielte, beherrscht schnell sein gesamtes Gesicht, verlässt es nicht mehr.
  „Anabelle! – Doreen? – Françoise? – Maria!? – Tatsächlich Maria“, Charlie ist ernst geworden. „Wirklich Du, Maria“, Charlie beißt sich auf die Unterlippe, neigt den Kopf weit in den Nacken. „Wirklich? – Nein, das ist mindestens fünfzehn Jahre her!“
  Er hebt den Kopf wieder an, schüttelt ihn, und läuft auf den Zaun zu, lehnt sich in dessen Maschen. Plötzlich ist ihm, als erlebe er eine Welt, die viel weiter ist, als alle Flugzeuge hinter ihm jemals fliegen könnten; und nur durch das kleine Telefon in seinen Fingern. Fest presst er es gegen sein Ohr.
  „Doch… wo hast Du meine Nummer her?“
  Neben einem Betonbrocken, auf einem Hügel, aber weit von Charlie entfernt, zeigt sich ein großer Hund, ein verwilderter. Nur mit seinem Kopf, aber Charlie erkennt ihn, sah das scheue Tier schon oft, und manchmal auch schon näher.

„Jetzt angekommen, vor 15 Minuten. – Ach, Du wohnst hier gar nicht mehr!“
  Charlie drückt sich aus dem Zaun, wendet sich zum Flughafen, beobachtet das Rollfeld: eine Maschine setzt zur Landung an, und setzt auch schon auf.
  „Aus Neuseeland? – Und gerade hier angekommen!? Da hätte ich Dich ja sehen können, Deine Maschine.“
  Er blickt zum Himmel. Die Hummel ist wieder da.
  „Ja, am Flugplatz, aber außerhalb. Doch das ist… das ist eine ganz andere Sache…unwichtig im Moment, völlig unwichtig.“ Charlie schüttelt seinen Kopf, ruhig, aber immer wieder, als die Hummel seinem Gesicht sehr nahe kommt, schlägt er nach ihr, läuft dann auf seine alte Decke zu und setzt sich. Er greift nach der Kamera, schaltet sie ein und macht einen kurzen Schwenk. Schließlich hält er das Objektiv direkt auf sein Gesicht. „Ich kann’s nicht glauben! Da landest Du hier, und rufst mich an; gerade mich? Und jetzt.“
  Er legt die Kamera auf die Decke zurück. Er stiert in die Innenfläche der rechten Hand, als wolle er in ihr irgendetwas lesen, schließt die Hand dann leicht zur Faust und öffnet sie wieder, schüttelt mehrmals den Kopf. „Du scheinst überhaupt, wenn ich mich jetzt nicht täusche… und sei mir bitte nicht böse, aber Du scheinst überhaupt charmanter geworden zu sein“, murmelt Charlie und blickt wieder in den Himmel. Lange hört er dabei ins Handy. Und als er bald spürt, dass er wieder irgendetwas sagen müsste, schaut er zum Flugfeld, und von dort hastig zur alten Bunkerruine hinüber, als suche er eigentlich doch lieber den scheuen großen Hund.
  „Nein – nein! Sag bloß…! Johnny!?“
  Charlie geht langsam auf die Ruine zu. „Und einfach so das Leben genommen? Und obwohl er Familie hatte.“ Er wendet sich zu seiner Decke zurück, läuft jedoch weiter. „Aber früher… der war doch damals immer so… so… der war doch eigentlich immer ein richtiger kleiner Macho gewesen. – Aber wegen ihm bist Du doch nicht hier?“
  Charlie stoppt und schaut an sich herab; in sich gekehrt.
  Erste Wolken erscheinen am Himmel, wie gerade irgendwo vom Boden aufgestiegen.
  „Ach so. – Aber Du empfindest seinen Tod doch jetzt nicht etwa als Last, oder sogar Schuld! Bloß das nicht.“

Charlie steht auf der Bunkerruine, sein Blick schweift weit: über sanfte Hügel, über unheimliche Senken.
  Zwei Maschinen, sie fliegen übereinander, in verschiedenen Höhen, nähern sich dem Flughafen.
  Charlie setzt sich, fasst nach einigen Haaren von dem Hund, die sich im rauen Beton verfangen haben, riecht an den langen graugelben Borsten.
  „Ach so, das hört sich ja an: wie so eine Art „Letzter Wille“. – Aber wieso denn Du, wenn das so viele Jahre her ist? – Damals kannte ich ihn ja auch noch. Unvorstellbar…! – Und Gift? – Tatsächlich. Wie kommt man denn an so etwas überhaupt heran?“
  Charlie hat die Hundehaare in die Luft geworfen, klettert von den Betonbrocken und schaut unten in ein Loch. „Da kann ich mich selbst wenig zu äußeren. Und Du?“, spricht er in die tief verborgene Dunkelheit hinein.

Charlie sitzt auf der Decke. Als wäre es der Tod, rast der Schatten eines Jumbos über ihn hinweg, springt über die ausgetrocknete, völlig baumlose Landschaft.
  Charlie zieht eine Hand vom Ohr, lächelt: „Jetzt hör ich Dich besser. – Doch doch, aber ich muss Dir schon sagen, Du bist ja eine richtige Philosophin geworden. – Nein, nein, ich meine es ernst.“
  Er legt sich auf die Decke, flach auf den Rücken, zieht die Beine an, schlägt das linke über das rechte, spürt den warmen Stoff der Decke durch seine Kleidung hindurch, öffnet sich am Hemdkragen einen Knopf; und dann noch einen.
  „Mit mir?… Du machst Quatsch. – Ich glaub’ Dir das nicht! – Und die Beerdigung“, Charlie atmet tief ein, wartet, atmet vorsichtig aus.
  „Das ist gut. Ich könnte jetzt gleich auch gar nicht“, mit einem Finger zeichnet Charlie das Muster am Rande seiner Decke nach, immer nur ein paar Zentimeter vorwärts und dann wieder etwas zurück, um darauf schließlich wieder ein kleines Stückchen voran zu kommen. “Nein, Arbeit schon. Aber nicht mehr bei der Bahn. – Doch, aber selbstständig. Man versucht ´s so. Aber das kann ich Dir auch noch später erzählen. – Ja doch, ich lebe alleine…. schon drei Jahre; aber das ist kompliziert, ich meine, wie das kam…“
  Ein nahes Geräusch, oder war es ein Windstoß. Charlie reißt seinen Kopf herum und entdeckt den verwilderten Hund, sechs Meter vielleicht von ihm steht er; so nah war ihm das große Tier noch niemals gekommen.

„Na komm… komm…“.
  Der Hund flüchtet.
  „Nein nein, Du warst nicht gemeint. Sehen… natürlich sehen wir uns, das ist doch klar. Aber mir wäre es nach der Beerdigung lieber. – Und hoffentlich… aber hoffentlich, hoffentlich bist Du nicht mehr so schön wie damals… Ich hab Dich so, wie soll ich es sagen, als viel… als viel zu schön in Erinnerung… Damals, heut kann ich es Dir ja beichten, damals, war mir das immer eine richtige Last, hatte mich das regelrecht gelähmt.“

(Auszug aus „“Augen auf Penelope”)

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