Die Kur

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Das Gefühl jener Tage, als ich damals ans Meer kam, läßt sich kaum wiedergeben.
  Fest steht, dass es im Mai war. Gleichermaßen sicher ist mir, ich war trotz meines Herzleidens glücklich gewesen und hatte bis zum achtzehnten Tag ausgedehnte Spaziergänge unternommen, bei denen mir die weite dunkle Kraft des Meeres nach und nach einging und mich bald bis zum Schwindel hin erfüllte.
  Niemals traf ich dabei andere Kuranten. Wodurch sich in mir schnell – da ich zur Abhängigkeit neige – eine Sucht zur Endlosigkeit ausbildete:
  Erst erfaßte sie mich ganz still. Dann aber brach sie offen aus. Und meine Ausflüge wurden weiter und immer weiter. Dies bemerkte ich erst, als ich, nach fast drei Wochen, eines Tages in völliger Erschöpfung am Ufer ins kalte, seichte Wasser des Meeres hinein zusammenbrach. Sofort dachte ich damals an das Sanatorium. Da aber ein schöner, klarer Tag war und ich meine angenehmen Gefühle wiedererlangen wollte, legte ich mich in die nahen Dünen. Ihr Sand war von der schwachen Sonne schon beträchtlich erwärmt. Und so zog ich mir meine nassen Kleider aus und lag dann da, ohne an etwas zu denken.
  Heute kann ich nicht mehr sagen, ob ich es hörte oder gleich sah, dass nicht weit von mir aus dem glatten Meereswasser, in großer Anmut langsam der Kopf einer Frau auftauchte. Ihre langen Haare glitzerten, und sicher vergingen viele Minuten, in denen wir uns, und ohne das etwas anderes passierte, nur ansahen: Sie zwar scheu, aber auch mit dem vagen Ausdruck fraulicher Verhaltenheit in den Augen. Doch dann öffnete sie plötzlich ihren Blick und versank im Wasser. Mein Herz krampfte, bis sie wieder auftauchte. Nur, diesmal war sie sogar etwas näher als vorher und schüttelte vor unbändiger Lebenskraft ihre schier endlosen Haare. Und sie lächelte. Aber das Lächeln war von einer Intensität, die ich oft bei Taubstummen erlebt hatte und dem gegenüber man nur im Schuldgefühl verbleibt, da man es keinesfalls angemessen erwidern kann.
  Also wagte ich nicht, mich zu erheben, obwohl auch ich sie irgendwie anzulächeln versucht hatte.
  Erst als sie sacht winkte, ging ich zögernd auf sie zu, bis ich erregt vor ihr stand. Jetzt erkannte ich im klaren und so stillen Wasser deutlich einen kräftigen schuppigen Unterkörper, welcher in einer riesigen Flosse endete.
  Einen Augenblick fühlte ich mich ratlos, nicht erschrocken.
  Und da reichte sie mir auch schon ruhig ihre rechte Hand und zog mich an sich. Doch der Druck ihres Griffes war so erheblich, dass ich einen Aufschrei nur schwer unterdrücken konnte: Aber ihr Gesicht war freundlich, sah nichts als fragend aus und kam mir noch näher, bis sie meinen Kopf berührte und sich gegen ihn lehnte. Dabei allerdings wurde ihre Zärtlichkeit schnell so heftig, dass ich, als wäre ich aus Papier, vollends ins Wasser fiel.
  Ihr Schreck war wohl noch größer als der meine, denn sie stürzte rücklings mit dem Kopf voran unter Wasser. Wobei kurz die gewaltige Schwanzflosse durch den Schwung ihres Körpers voll aus dem Meer trat und dann als das letzte, was von ihr zu sehen war, peitschend wieder im Wasser verschwand.
  Bestimmt saß ich noch einige Stunden wartend am Strand. Ich hatte mich wieder angezogen und schaute flehend auf das Wasser, und schämte mich meiner körperlichen Schwäche, die sie wahrscheinlich als Abweisung empfunden hatte.
  Bald aber wurde es dunkel, und ich ging, ich gebe es zu, ohne Lebensmut ins Sanatorium zurück.
  Meine Kur wurde abgebrochen.
  Dies alles ist jetzt viele Jahre her, und ich lebe seit damals direkt an der Küste.

Gelesen von Sandra Hüller linkhausklein.png

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