Sie und er sahen sich das erste Mal.
Er sitzt mit welchen, die er schon kennt, am Tisch, als sie mit welchen, die sie kennt, sich zu ihm und zu den anderen setzt, mit denen er gekommen ist.
Schon verarbeiten beide die Eindrücke des ersten Sehens. Jene Eindrücke, die noch nichts mit den manchmal so trügerischen Emotionen zu tun haben. Die vor allem nicht überschätzen oder sonst wie verfälschen, sondern spontan und ursprünglich da sind.
Beide sehen sich im Verlauf des allgemeinen Begrüßungszeremoniells nur noch einmal kurz in die Augen, und es steht gleich fest, dass es um Gleichgültigkeit oder Ablehnung hier keinesfalls gehen kann.
Wenn sie etwas sagt, sagt sie alles mit dem Gedanken daran, dass er da ist: sie neben ihm sitzt. Und obwohl sie ihn nur einmal kurz angesehen hat, weiß sie doch, dass er auf ihre Worte und auch auf jene Personen, an die sie gerichtet sind, lauernd achtet.
Er wiederum tut so, als spiele er vor allem mit seinen Händen und wäre mit seinen Gedanken woanders, merkt aber ganz genau und unter einer berauschenden Anziehung, dass er dann, wenn er den Kopf von ihr wendet, sie also nicht mehr beobachtet, von ihr plötzlich groß und aufsaugend angesehen wird. Sie schaut zu ihm hin und denkt dabei auch daran, dass sie, wenn sie den Blick von ihm läßt, von ihm angesehen werden möchte.
Er und sie sehen sich also an, ohne sich in die Augen zu blicken, denken vorsätzlich, dass sie es heimlich tun und erweitern den Reiz ihrer kurzen Beziehung dadurch, dass sie wissen, beide wissen, es überhaupt nicht heimlich zu tun; erleben also, auch wenn sie sich erst vom einmaligen Ansehen kennen, Verständnis und Erotik und Vertrauen in einem.
Sie spricht jetzt mit den anderen, und er spielt mit einem Faden in seinen Händen. Schon ist er lange nicht mehr bei seinen und sie nicht mehr bei ihren Begleitern.
Sie nimmt sich vor, weiter zu sprechen; sich von ihm dann, wenn sie es will, wenn sie ihm ein Zeichen gegeben hat, ansehen zu lassen und ihm auch im Verlauf der nächsten Zeit nicht in die Augen zu blicken, um Vertrauen und Verständnis nicht zu gefährden; wie sie es sich behutsam und vorbeugend denkt.
Und er sieht sie an, wird nun zeitweise offener und versucht, sich auf den Augenblick vorzubereiten, in dem sie ihm wieder in die Augen sehen will: obwohl er glaubt, dass sie ihn nicht ansehen wird, weil die länger werdende Zeit sie mißtrauisch machen könnte, oder weil sie nicht an die Kontinuität des Glücks glaubt, sie sich ihren Anfangsgenuß unbedingt bewahren will.
Die anderen, die von ihr und die von ihm, bemerken von alledem nichts; unterhalten sich, und als plötzlich einer der anderen etwas Angenehmes über ihr erst gerade kurz geschnittenes Haar sagt, wird sie, wahrscheinlich davon selbst überrascht rot; und der es sagte und sie gut kennt, fragt sich nun, warum sie plötzlich so rot wurde und kommt dabei auf ihn.
Schaut nun immer wieder zu ihm.
Aber dieser sitzt da, weiß jetzt natürlich, was der ihn Betrachtende denkt, sieht den mit einem müden und offen gelangweilten Blick an und spielt mit seinem Faden in den Händen, tut so, als hätte er das Erröten nicht wahrgenommen und sieht dann, in einer selbstvorwurfsvollen Art auf seine Uhr; worauf jener, der die Röte des Mädchens verdächtig fand und sie mit ihm in Zusammenhang brachte, wieder von ihm abläßt, da er nicht glauben kann, dass der andere, der ihn eben mit einem so müden Blick angesehen hatte, eine unbemerkte, also energiereiche Beziehung des Einverständnisses zu ihr haben könnte und dies auch gut so wäre. Denn er, obwohl er mit einem Mädchen da ist, wäre sehr gerne mit ihr, der mit den kurz geschnittenen Haaren, viel, viel näher und hätte es nicht verwinden können, dass einer, der erst kurze Zeit da ist, etwas aufgebaut haben könnte, wozu er in mehreren Jahren nicht fähig gewesen war.
Auch sie hat bemerkt, was der eine ihrer Leute für Gedanken haben musste. Und sie fühlt sich plötzlich wohl bei der Vorstellung, dass sich der Reiz der inzwischen langsam verbrauchenden Heimlichkeit auf die Ebene des erweiterten Bekanntwerdens und, wie sie sich denkt, damit auch auf einen festeren Stand gesteigert hat.
Sie benutzt also bewußt einen der mit ihr Gekommenen, um sich mit dem anderen auf eine sie erregende Art und Weise, die sich nach und nach der Öffentlichkeit preisgibt, näher zu kommen; ärgert sich aber trotzdem darüber, dass sie rot, vor allem zu lange und zu rot wurde, weil die Stille zwischen ihr und ihm, die noch so zerbrechlich ist, durch dieses zu auffällige Signal in ihrer Sinnlichkeit zerstört werden könnte.
Inzwischen kommen zu ihm und seinen Bekannten noch mehr Leute hinzu, die eigentlich schon da sein sollten. Weil es nun aber zu viele werden, setzt er sich mit einigen an einen zweiten Tisch. Er und sie sitzen jetzt also weiter auseinander als vorher und keiner kann nunmehr die ihn umgebenden Begleiter, so wie bisher, dazu verwenden, um über sie dem anderen näher zu kommen.
Wollen sie also das Begonnene nicht durch die neue Lage hilflos enden lassen, so müssen sie sich jetzt doch wenigstens kurz und direkt-klärend in die Augen sehen. Aber dies geht wahrscheinlich gerade wegen der neuen größeren Entfernung nun besser. Und sie tun es dann im Verlaufe des Abends einige male kurz, eindringlich und geradezu unterschwellig narkotisierend.
Aber es kommt dann so, dass sich im Laufe des Abends die Gruppen teilweise mischen und das Alkohol getrunken wird; er aber noch immer bei den mit ihm Gekommenen sitzt und sie bei den mit ihr Gekommenen und sich beide durch die Wirkung des Alkohols und einer sich durch ihn verringernden Konzentration etwas aus den Augen verlieren. Wenn sie jetzt zu ihm sieht, so merkt sie, dass da nicht mehr, wie am Anfang, die volle Übereinkunft des Sehens und sich bewußten Sehenlassens vorhanden ist. Jetzt sind doch oft er und umgekehrt auch sie, einerseits durch den Alkohol und andererseits auch durch das Sich-Einstellen auf ein Gespräch mit einem Dritten, in ihrer Hingabe zum anderen leicht gestört worden. Sie haben sich aber in der vergangenen Zeit so gut begriffen und auch die sie umgebenden Menschen in ihre Verbindung mit einbezogen, dass heißt jeder auf seine Art die anderen abgetastet, ob da einer oder eine ihren Pakt gefährden könnte, dass sie sich jetzt, da sie wissen, durch nichts Äußeres gefährdet zu sein, in einer neuen Sicherheit nun schon wieder blind aufeinander verlassen können.
Der Abend verlief dann auch in dem Sinne weiter. Sie sprach viel mit anderen; er sprach mit anderen; manchmal sahen sie sich wieder kurz an, als wollte sie ihm und er ihr dabei sagen, dass einer dem anderen diese Unterhaltungen ja gönne, ja es sich jetzt sogar ein wenig wünsche, um selber nichts Fortsetzendes und Neues machen zu müssen und in diesem vor allem nichts falsch machen zu können.
Zu fortgeschrittener Stunde, als sie sich auf den Heimweg begaben, war es draußen schon hell, und da sie alle den Abend und die ganze Nacht in einem Raum gewesen waren, der keine Fenster hatte, befremdete sie der Morgen.
Sie gingen also alle, noch vom Licht des neuen Tages gefangen, spazieren und dabei gleichzeitig nach Hause. Er lief alleine, und sie lief mit einem ihrer Bekannten.
Dann fing es an zu regnen.
Alle liefen dichter zusammen und blieben dann schließlich bald stehen, um sich zu trennen. Und als sich jetzt beide wieder in einem richtigen Moment etwas enger gegenüberstanden, führte sich seine Hand wie von selbst in ihre frisch geschnittenen kurzen Haare, in denen vom Regen viele große Tropfen standen. Und er strich ihr mit einer behutsamen Bewegung über den Kopf.
Sie stand da und wußte wohl, was das für ihn bedeutete, sah ihn diesmal wieder nicht an, sah an ihm vorbei. Und es schien, als könne sie, trotz aller äußeren Gefaßtheit, die sich in ihr plötzlich steigernde Freude und Erregung nicht bewältigen.
Er hatte sich schon umgedreht und ging mit seinen Bekannten, von einer tiefen, in sich geschlossenen Befriedigung erfüllt, ohne bei ihr einen etwa gleichartigen Zustand erkennen zu wollen, denn das wäre ihm jetzt zu viel gewesen, in eine Richtung, in die sie mit den sie begleitenden Leuten nicht ging.
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