TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Die Ahnung

Warum ich so deutlich spürte, daß mich jemand ansah, weiß ich natürlich nicht, doch als ich meinen Kopf etwas wendete, wurde mein Gefühl bestätigt.
   Sogleich aber nahm jener Mann wieder seinen Blick von mir.
   In diesem Moment erinnerte ich mich, daß er mir schon aufgefallen war, als ich mich der Straßenbahnhaltestelle genähert hatte. Nur stand er da viel weiter von mir weg. Warum also befand er sich jetzt genau neben mir? Und vor allem: Warum hatte er mich längere Zeit eindringlichst betrachtet; es standen noch so viele andere Menschen um uns.
   Nachdem ich nun genau zu wissen glaubte, daß er mich bewußt beobachtet hatte, versuchte ich, es ihm gleichzutun.
   Meinen ersten spontanen Verdacht, es könne sich um einen Schwulen handeln, denn besonders im Bereich dieser Haltstelle und der nicht weit entfernten öffentlichen Toilette konzentrieren sie sich, den mußte ich bald fallenlassen, da der besagte Mann mich nie wieder ansah oder es auch nur versuchte und eigentlich auch nicht den entsprechenden Eindruck machte.
   Er tat jetzt vielmehr so, als würde es mich für ihn gar nicht geben, obgleich er meine Person immer in seinem Blickwinkel behielt. Dabei ging er mit einer unnatürlichen und mich deshalb beängstigenden äußeren Ruhe vor, obwohl er gefühlt haben mußte, daß ich ihn nun öfter betrachtete. Da seine Augen aber einen so durchdringenden Uncharakter hatten und es mir außerdem so vorkam, als beschäftigte er sich, wie fixiert, nur mit mir, dachte ich, er könne vielleicht ein Lustmörder oder ein durch posthypnotischen Befehl auf mich gerichteter Abgesandter irgendwelcher kosmischen Mächte sein. Oder er könne den unspektakulären Dienst eines Geheimpolizisten verrichten, der – warum auch immer, aber ich konnte es mir überhaupt nicht vorstellen – sich mit mir zu beschäftigen hatte.
   Inzwischen war die Straßenbahn angekommen und ich ging, extra um sicher zu sein, daß er nun doch nichts mit mir im Schilde führte, schnell einen Wagen weiter nach vorne: Er folgte mir nicht.
   Nachdem die Bahn einige Stationen gefahren war und ich mir sagte, daß der Vorfall von mir wohl überschätzt worden war, vergaß ich den Mann fast wieder und verließ etwas später die Straßenbahn, um in einen Autobus umzusteigen, der mich an mein Ziel bringen sollte.
   Jedoch, kurz nachdem ich den Wagen verlassen hatte, bemerkte ich – ich schaute mich noch einmal um -, daß mein Schatten ebenfalls die Fahrt beendet hatte. Ich redete mir aber schnell wie schon in der Bahn, ein, es könne nur ein Zufall sein, und der Mann würde mich gar nicht beachten. Ich lief weiter über die erste Fahrbahn, die ich überqueren mußte, als ich sofort feststellte, er nahm den selben Weg. Ich war an einer Kreuzung ausgestiegen und mußte, um zum Bus zu kommen, insgesamt über drei der vier Straßen, und es waren viele Menschen unterwegs, da Berufsverkehr herrschte.
   Nachdem ich die zweite Fahrbahn überquert hatte, war er immer noch hinter mir, worauf ich langsamer ging, denn ich konnte es nun nicht mehr ertragen, daß er sich ständig hinter mir befand.
   Jetzt mußte ich nur noch eine Straße überschreiten und in den schon bereitstehenden Bus einsteigen, ich mochte aber nicht einmal daran denken, daß der Mann es mir gleichtun könnte, zumal es eine Linie war, die aus der Stadt, ins freie Land, führte. Da sah ich, daß er endlich vor mir lief. Trottete in einer großen Gruppe von Menschen, wie diese und mit ihnen, nun schon im größeren Abstand zu mir, geradeaus weiter und hatte dabei, was mich besonders beruhigte, weder zu mir noch überhaupt hinter sich gesehen. Ich war nach rechts abgebogen.
   Wie befreit stieg ich dann in meinen Bus: hatte also doch recht gehabt, daß alles ein eigenartiger Zufall gewesen sein mußte. Plötzlich aber, ich war gerade dabei zu bezahlen, der Bus war gering besetzt, stand der Mann wieder neben mir. Ich verlor beinahe mein Gleichgewicht vor Schreck.
   Warum nur war er zurückgekommen?
   Ich fand jedoch relativ schnell einen inneren Zustand, der mir ermöglichte, einigermaßen über meine Lage nachzudenken. Was mich besonders verwirrte war, daß er den genau selben gespannten Ausdruck, dieselbe programmiert erscheinende Ruhe wie vorher an der Haltestelle erkennen ließ und seinerseits über das abermalige Treffen mit mir, denn er hätte mich nach dem genauen Betrachten sicher wieder erkennen müssen, auch nicht den kleinsten Ansatz, einen Hauch irgendeiner Reaktion zeigte.
   Unbedingt mußte ich, das drängte sich mir noch beim Bezahlen auf, einen Platz im hinteren Teil des Busses einnehmen. Vorn hatte ich bezahlt, und er sollte auf jeden Fall in meinem Blickfeld sitzen, denn von nun an wollte ich noch gründlicher als vorher verfolgen, was er in jedem Augenblick tat. Als ich mich setzte, wurde mir aber gleichzeitig klar, denn ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, wie entnervt ich sein mußte, denn ich hatte auf einem freien Doppelsitz Platz genommen: Wie sollte ich es aushalten, würde er sich direkt neben mich setzen. Trotzdem blieb ich wie angenäht auf meinem Platz haften. Und er, er ließ sich, es war wie eines der sonst niemals eintretenden Wunder, im vorderen Teil des Autobusses nieder.
   Das gab mir einigermaßen die Fassung wieder, erschien mir jedoch andererseits, denn ich war jetzt davon überzeugt, daß er irgend etwas von mir wollte, besonders verdächtig, weil durchtrieben, denn sicher sah er mich im Spiegelbild irgendeiner Glasscheibe.
   Viele Stationen später, der Mann saß immer noch regungslos im Bus, und die Gegend war nun schon ländlich einsam, mußte ich, konnte ich aussteigen. An jeder der hinter uns liegenden Haltestellen hatte ich durchgespielt, wie ich, wenn der Bus anfahren würde, diesen noch verlassen könnte, ohne das der Mann mir wahrscheinlich zu folgen in der Lage gewesen wäre. Aber er sah sich niemals um, wenn die Türen aufgingen oder wurde auf irgendeine Weise nervös: Also hätte ich es wohl schaffen können.
   Und dann war es bald soweit. Ich mußte ausstiegen. Machte es, stieg tatsächlich einfach aus.
   Und niemand tat es mir gleich. Und der Autobus fuhr weiter, rollte einfach weiter, was ich überhaupt nicht erfassen konnte. Bis heute nicht begreifen kann.

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