TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Das Duell

Es war genau neunzehn Tage her, daß ich mich in G. aufhielt. Die Menschen schienen mir fremd, und so beobachtete ich sie, wo ich nur konnte, um hinter die Ursache meines Eindrucks zu gelangen. An jenem bestimmten Tag entdeckte ich im Stadtpark von G. – ich saß auf einer Bank – ein junges Paar, welches mir durch eine noch eigenartigere Fremdheit besonders auffiel. Ich sah, daß die Frau weinte, und ich bemerkte dies bereits, als beide an mir vorübergingen, um sich nicht weit von mir auf einer Parkbank niederzusetzen. Sie bemühte sich zwanghaft, ihr Weinen zu unterdrücken. Gerade deshalb aber erschien sie mir noch hilfloser, zumal ihr Partner, ein großer, kräftiger, braungebrannter Mann, der an seinen Unterarmen reich tätowiert war, mit unbeirrtem, festem Gesichtsausdruck, welcher, weder besonders böse noch freundlich, nur Abgelöstheit ausdrückte, neben ihr herlief. Beide sahen nicht wie ein Paar aus, das zum Beispiel seinen Weg durch irgendeine Übereinkunft gemeinsam findet, nein: die Frau, obwohl neben dem Mann laufend, wirkte wie an ihn gekettet, und ich dachte, würde er spontan stehen bleiben, würde auch sie versteinern. Sie schien mir ohne Willen zu sein.
   Beide saßen auf einer weißen Bank mir schräg gegenüber. Die Frau blickte zu Boden, und der Mann sah mich plötzlich an, als hätte er mich die ganze Zeit schon wahrgenommen. Wenn das aber stimmte, so hätte ich ihn, und dann sicher auch sie, vorher falsch eingeschätzt.
   Sein überraschender Blick hielt nur sehr kurz an, war aber eben entschieden anders als der Ausdruck seiner Augen, als er mit der Frau an mir vorbeigelaufen war. Vorher noch ohne Bewußtheit, so blitzte jetzt deutlich wachste Beobachtung auf, und ich fühlte mich taxiert, ohne erfassen zu können, zu welchem Zweck und aus welcher augenblicklich in dem Mann aufkommenden Kraft heraus.
   Die Frau saß bisher etwa einen Meter neben ihm und schaute immer noch zu Boden, hatte aber aufgehört zu weinen. Plötzlich sah nun auch sie eigenartigerweise zu mir, als habe sie von dem Blick ihres Partners, den sie aber nicht bemerkt haben konnte, gewußt. Jetzt konnte ich auch in ihren Augen anderes als vorher erkennen: Während den Mann nun die präzise Wachheit auszeichnete, stand in ihren Augen vor allem eine gebrochene und, obwohl sie ganz sicher mich ansah, unpersönliche leere Trauer. Und so wie ich mich von ihrem Mann bewertet fühlte, so fühlte ich mich von ihr bedauert, obwohl dies, wie schon gesagt, durch mich hindurchzugehen schien.
   Es gab noch eine Veränderung: Der Mann legte seine rechte Hand kurz auf die Schulter der Frau, und ich muß gestehen, daß mich besonders verwunderte, mit wie viel Sanftheit er dies nun tat. Und als sie sich träge zu ihm wandte, lächelte er sie erleichtert und wie selbstzufrieden an, stand auf und ging, ohne etwas zu sagen, von ihr. An ihr veränderte sich nichts.
   Er war etwa zehn Minuten fort, als ich mich, da die Frau immer noch verlassen auf der Bank saß, zu ihr auf den Weg machte. Sie schien es erwartet zu haben, was mich erstaunte. Auch verwunderte mich: Sie besaß plötzlich Eigenleben, und das verweinte Gesicht wirkte nicht mehr gebrochen, aber hilfesuchend, wenngleich sie mir flüsternd sagte – was ich nicht begriff -, daß ich schnell wieder gehen sollte. Doch wollte ich sie jetzt gerade befragen, was mit ihr sei, vielleicht könnte man ihr helfen, und war ihr näher gerückt, als der Mann aus einem fernen Laubengang auftauchte und mich beschimpfte, ich müsse ihm das büßen, wann und mit welchen Waffen ich mich mit ihm duellieren würde.

Heute ist der zweite August. Das Duell mußte wegen Nebel von fünf Uhr auf den Vormittag verlegt werden. Mein Gegner hatte mir diese Entscheidung persönlich überbracht. Er sagte: “Wir verlegen den Kampf. Vielleicht würde es Ihnen sonst noch gelingen, mich wegen der schlechten Sicht eher zu treffen. Die Bedingungen sind irregulär, Ihre und meine Sekundanten haben sich darüber einstimmig verständigt, und so können sie noch einige Zeit die Gegend betrachten. Beobachten Sie, wie sich der Nebel auflöst: mit der Klarheit wird dann die Vergeltung kommen.”
   Er sagte dies so sachlich, daß es mir kalt wurde und ich nichts zu antworten in der Lage war. Ich dachte mir nur, warum haßt dieser Mann mich so; oder geht es nicht um mich. Ich kam mir benutzt vor und hätte fluchen wollen. Aber ich vermochte es nicht, hatte nur den starken Wunsch nach einem Wunder. Denn wie alles unbegreiflich entstanden war, dachte ich, würde ich auch irgendwie wieder erlöst werden. Und es wirkte in meiner Kehle.
   Ich hatte Pistolen gewählt. Nur damit rechnete ich mir überhaupt Chancen aus. Einmal oder zweimal erst hatte ich auf dem Gut meines Cousins mit einer Pistole geschossen, und dies auf seinen ausdrücklichen Befehl hin. Aber das war schon zwei Jahre her, und ich zielte damals in die freie Natur und nicht auf einen Menschen, der zu alledem noch bemüht ist, mich zu töten.
   Bekannte hatten mir zugeredet, wohl aus dem Sinn heraus, mir Mut machen zu wollen zur Männlichkeit; andere rieten, ich solle fliehen, niemals wäre ich Soldat gewesen, unkundig des Waffengeräts. Doch blieb ich G. und weiß nicht einmal, warum. Die Verschiebung des Duells aber macht mir das Dasein unerträglich.
   Dort sitzt eine Gruppe von Leuten, die Sekundanten und Kutscher meines Gegners, und hier sitzen Begleiter von mir; sie reden, ich weiß nicht, über was man jetzt reden kann, und der Nebel hüllt sie leicht ein. Wenn es wieder klar ist, vielleicht wird die Sonne scheinen, muß es passieren, aber niemand von ihnen wird es besonders berühren. Sie werden leben. Inzwischen ist es zehn Uhr, und ich schreibe dies hier alles auf, damit etwas von mir bleibt.
   Die Vögel beginnen zaghaft zu singen. Die Landschaft ist weit. Jetzt, indem der Nebel sich auflöst, sieht man kolossale Wiesen hinter den Baumgruppen, zwischen denen wir lagern. Noch weiter entfernt kommen wieder hohe Bäume, die man nur ahnt, denn sehr klar ist es noch nicht. Doch werden die Begleiter langsam geschäftig. Manche sehen gen Himmel, manche in die Ebene, einige zu mir, meinen Duellanten kann ich nicht ausmachen, und ich freue mich darüber. Jedoch springt er in diesem Moment aus einer Kutsche, federnd kommt er auf dem Boden auf, spricht kurz mit den Sekundanten, und läßt auch schon beginnen.

Nachtrag:
Nochmals, als wir Rücken an Rücken standen, empfand ich die gezügelte Kraft im Körper dieses Mannes, ich kam mir vor wie ein Kind und spürte außer meiner großen Angst nur noch, daß es wirklich sehr gut von mir war, Pistolen zu wählen. Bei ihnen läge meine einzige Chance, nur bei ihnen. Und dann schritten wir unsere Distanz ab. Fest zählte ich mit, klammerte mich an meine Worte: … acht, neun, zehn, drehte mich hellwach um, erhob den Arm und drückte ab. Und schloß ab mit dem Leben.
   Erschrocken darüber, daß ich noch stand, und das Dröhnen des Knalles in den Ohren, hetzte ich dann ich die Richtung, in die ich geschossen hatte, und sah den Mann am Boden. Er lag auf dem Rücken, und nirgendwo konnte ich einen Einschuß erkennen, nahm aber wahr, wie aus seinem Mund Blut floß, wie er es röchelnd ausstieß, zum Teil in Blasen ausstieß und dann schließlich völlig verstummte.
In seiner rechten Hand hielt er noch die Waffe. Und indem ich gerade unter seinem hochgerutschten Ärmel die Tätowierung betrachtete, die ich schon von unserer ersten Begegnung im Park kannte, stürmten unsere Begleiter zu uns heran.
   Dann erst erfuhr ich, daß er überhaupt nicht geschossen hatte. Nur den Arm soll er gehoben haben. Und indem die Gruppe sich erregt austauschte, sah ich – ich hatte mich schon fassungslos ein Stück zurückgezogen -, wie sich die Kutsche des nun Toten langsam noch mal öffnete und seine Frau feierlich gekleidet aus ihr heraustrat. Mit festen Schritten lief sie auf mich zu. Doch erkannte ich bald, daß ihr Gesicht entspannt wirkte, ernst zwar, aber auch mit einem seltsamen Hauch von Befriedigung.
   Bei mir angekommen, äußerte sie: “Ich bin nicht Herr der Situation, doch möchte ich Sie insofern aufklären: Er brauchte diese Zweikämpfe, suchte sie, wo er konnte – doch mußte ich ihnen stets zusehen. Niemals schoß er als erster, so sehr liebte er mich, was er mir leider nur mit dieser Art Mut beweisen konnte. Zwölf Männer sind so umgekommen.” – “Wie muß er mir verfallen gewesen sein…”, sagte sie als letztes, schon mehr zu sich, ging dann kopfschüttelnd auf die Gruppe beim Toten zu, bückte sich, und weiteres konnte ich nicht mehr sehen.
   Ich saß dort noch bis zum Abend, der mit einem prächtigen Sonnenuntergang endete.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert