Architekt.

Der Laden liegt nicht gerade in der Nähe deines Ateliers. Trotzdem gehst du immer mal wieder gerne da hin. Dein Entspannungseinkauf, meistens zum Ende der Mittagszeit. Du hast dir angewöhnt, es so zu nennen. Eigentlich musst du nichts einkaufen, aber die paar Schritte machst du ganz gern. Im Grunde könntest du auch einfach nur ein paar Runden um den Block gehen, aber es ist eben dieser Laden.
Wenn dich jemand fragte, würdest du sagen, du weißt, es klingt blöd, der Laden hat eine Tür mit einer Türklinke, die man herunterdrücken kann. Die Tür öffnet sich dann, man geht hinein.
Da liegen dann Rasierklingen neben Haribo neben Seifen neben Reis, neben Batterien, und daneben…
Du bist Architekt.
Du hast dich in die Selbstständigkeit geschuftet. Hineingeknüppelt. Hast sehr lange an Telefonhörern riechen müssen; und ja – du bist Architekt mit einem eigenen Atelier jetzt. Anders als deine Kommillitonen, die inzwischen – wenn sie Glück hatten – in irgendeiner städtischen Baubehörde bei Bremen im öffentlichen Dienst verschwunden sind. Wenn sie Glück hatten.

Der Ladeninhaber ist ein gedrungener Vietnamese. Was du von ihm weißt ist, dass er sich alles asiatische abgewöhnt zu haben scheint. Ihn umgibt nicht mehr die unauslotbare Diskretheit seiner Landsleute, wenn er hinter einem Haufen Socken aus Mischgewebe, zu 2 Euro das Paar, Bananen aufstapelt. 2 Euro. Der Laden ist nicht mal besonders günstig.
Es kam schon vor, dass der Ladeninhaber “unasiatisch” wurde, du nennst es so, obwohl es Blödsinn ist, “unasiatisch”, in dem er dich zurechtgewiesen hat an einem Regal: “Nicht von oben nehmen. Stehen lassen das Bier. Von unten nehmen. Nicht von oben nehmen. Ja, bitte schön.” “Wird’s bald” hat er noch nicht gesagt. Dabei kommst du öfter hier her. Ein vietnamesischer Blockwart, hast du manchmal gedacht. Ist es das – was du vielleicht sogar beinahe sympathisch findest?
Du gehst gerne in den Laden. Du spürst hier irgend eine Logik, zwischen den Regalen, die dich interessiert. Du könntest ja mal mit ihm plaudern.
Aber du kommst nicht her um zu plaudern. Du bist einfach nur gern hier.
Deshalb warst du einmal doch überrascht, als der Vietnamese seine Familie hier hatte. Sie war plötzlich da. Er muss sie irgendwann in den letzten 4 Wochen geholt haben.
Der Ladeninhaber lässt sich seitdem, manchmal, von seiner Frau vertreten. An der Kasse neuerdings auch, seit ein paar Monaten, von seiner kleinen Tochter, die du auf etwa fünf einhalb schätzt. Vielleicht vier. Eher doch fünf.
Sie selbst behauptet, dass sie sechs sei.
Es ist ein kleines Spiel. Sie nimmt dein Geld. Sie rechnet es nicht in die Kasse ein, noch nicht. Die Mutter hilft ihr. Aber bald wird auch sie all das können.

Heute nachmittag sitzt er nun wieder allein hinter dem Ladentisch. Hat einen kleinen Fernseher laufen und schlürft eine Nudelsuppe. Es klemmt auch wieder der große LKW-Spiegel über der Kasse, mit dem er die beiden Gänge zwischen den Haushaltswaren und den Lebensmitteln im Auge behalten kann.
Du könntest ja, denkst du dir, spaßeshalber, wieder an das Regal mit dem Bier gehen und ganz nach oben greifen.
Du biegst um die Gemüseecke, gehst an den Waschmitteln vorbei und triffst – auf das Mädchen.
Sie ist also doch hier. Sie sitzt auf einem Stapel Kartons und lässt die Beine baumeln. Sie sieht dich kurz an und widmet sich dann wieder einem Malheft. Sie scheint ihren Platz gefunden zu haben. Und sie kennt dich schon.
Ein lautes Geräusch dringt aus dem Fernseher von vorne an der Kasse. Mehr ein Schnarren als ein Ton. Es ist ein Applaussturm, Begeisterungsrufe aus irgendeiner Fernsehshow.
Da weißt du es.
Das Mädchen, dass dich eben kurz angesehen hat – du stehst gerade mitten in ihrer Kindheit.
Du bist der Mann, der manchmal, immer mal wieder in ihre Kindheit hineingelaufen kam zum Einkaufen. Erinnerst du dich? Der Laden. Und du bist – eine Erinnerung. Der Mann, der nie eine Tasche dabei hatte.
Das Mädchen sitzt auf dem Kartonstapel. Es beachtet dich nicht mehr. Es hat dich gesehen, das reicht.
Was jetzt von hier mitnehmen – Reiskörner?
Du läufst nach vorn, öffnest das Kühlfach und entnimmst ihm ein… du entnimmst nichts.
Du bist Architekt.
Du gehst zum Ladentisch, wo der Angestellte ihrer Erinnerung sitzt, stellst den leeren Korb neben die Kasse.
Dann drückst du die Türklinke herunter, du staunst, wie einfach das geht, die Tür öffnet sich, du trittst wieder auf die Straße. Wo du bald verblasst.

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