TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Sieben Treppen.

Irgend etwas hat dich an diesem frühen Nachmittag ans Fenster treten lassen.
War es ein Geräusch?
Du weißt es nicht. Aber du guckst hinaus, aus dem 7. Stock, nach unten, und siehst den Baum, das Straßenschild und einen Kleintransporter vor dem Haus am Straßenrand stehen. Dunkelblau, ohne Firmenlogos. Japanisch. Oder ist es vielleicht doch ein Volkswagen? Dicht bei der Fahrertür steht ein Mann, der wartet. Was dir auffällt: dass er nicht zu dir hoch schaut. Aber wieso sollte er zu dir hochschauen?
Was wolltest du gerade tun. Du wolltest eine DVD suchen, die du dir für einen Filmabend mit der Familie aus der Videothek geliehen hattest. Sie steckt noch im Player.
Warum denkst du, dass der Mann unten vor dem Transporter zu dir hochschauen sollte? Er ist beschäftigt. Er geht mit einem Werkzeug, du kannst nicht genau erkennen, was es ist, ein Seitenschneider oder eine Gartenschere, zur seitlichen Schiebetür, schiebt sie auf und hantiert im Innern des Laderraums herum. Holt eine graue Decke heraus, die er mit nach vorn zur Fahrerkabine nimmt. Dann stellt er sich wieder hin, an der Fahrerseite, legt einen Arm auf die geöffnete Tür und guckt – nicht zu dir hoch.
Warum erwartest du seinen Blick? Du glaubst ihn zu kennen. Hier von oben kannst du sein Gesicht nicht sehen.
Was wolltest du gerade tun?
Es war eigentlich immer schön hier oben, denkst du dann. Aber vielleicht ist der
7. Stock doch ein bisschen hoch.
Der Mann unten schaut auf seine Füße, auf seine Schuhe. Ist er verlegen?
Am gegenüberliegenden Haus, in gleicher Höhe, fällt dir auf, dass eine Gardine aus einem geöffneten Fenster nach außen geweht wird. Da hat jemand die Türen offen gelassen.
Als du Schritte auf deiner Treppe hörst, denkst du dir, das ist wahrscheinlich DHL. Die bringen was von Amazon.
Aber woher gerade dieser Gedanke, hast du bei Amazon bestellt? Ausserdem ist ja weit und breit kein gelbes Fahrzeug zu sehen.
Im Radio, das hinten im anderen Zimmer läuft, hörst du eine Stimme jetzt. Nicht die kultivierte sonore Stimme des Nachrichtensprechers, die du sofort erkennen würdest. Dafür eine kehlige Stimme, die Konsonanten verschleift, die irgendwas redet, was Du nicht verstehst.
Dann klopft es an deiner Wohnungstür. Es klopft. Obwohl du eine Klingel hast. Die Klingel funktioniert ja. Es pocht an die Tür. Vielleicht bei deiner Nachbarin? Laute Stimmen dabei und Lachen. Nichts konspiratives. Sie scherzen, unterhalten sich und pochen wieder. Du müsstest wohl mal aufmachen.
“Herr Reber – ? ”
“Ja – ?”
“Wir müssen Sie mal mitnehmen, Herr Reber.”
Sie sagen es so, wie Handwerker sagen: Wir müssen mal an ihre Wasserleitung. Es sind drei Leute. Einer von Ihnen sieht sogar aus wie ein Handwerker. Er trägt eine grünliche Latzhose. Es sind keine Handwerker. Wie Polizisten sehen sie nicht direkt aus.
“Suchen Sie sich bitte noch einmal was zum Wechseln raus?.”
Auch das sagt einer von ihnen, mit so einem nachdrücklichen aber auch fragenden Ton. Ungefähr so wie ein Sanitäter, der jemanden anspricht.
Du gehst an dem Flurschränkchen mit dem Telefon vorbei in dein Schlafzimmer und wunderst dich darüber, wie vertraut dir dieser Gang erscheint. Du bist ihn schon so oft gegangen. Du suchst ein Hemd raus und eine Hose und ein paar Socken. Vielleicht die etwas wärmeren? Aber vor dem Kleiderfach kommst du dir vor, wie in einer fremden Wohnung, in einem fremden Zimmer, an einem fremden Schrank. Aber alles hier gehört ja zu dir.
Der mit der Latzhose, der dir ins Zimmer gefolgt ist, nimmt dir die Sachen aus der Hand und steckt sie in eine Zellophantüte, die er von einer Rolle abgetrennt hat. Du freust dich. Du freust dich darüber, dass diese Tüte so neu ist. So unbenutzt. Und du freust dich jetzt auch über das kleine orangefarbene Preisschild, dass noch von dem Rossmann-Drogerie-Markt auf der Tüte klebt. Es wirkt so freundlich unordentlich.
“Ich nehm das schon mal solange” – sagt der Mann in der Latzhose dann. “Gehen Sie bitte vor.”
Auch das war wieder mehr gefragt als gesagt. Sie sagen sehr oft “bitte” – fällt dir auf.
Im Hausflur, die 7 Treppen hinunter, einer vor dir, die anderen beiden hinter dir, scherzen sie miteinander. Sie nehmen ihr Gespräch von vorhin offenbar wieder auf. Es geht um irgendeinen Platzwart von einem Tennisclub. Du bist nicht gemeint.
Unten dann weisst du gar nicht so genau, ob du allein zu dem Transporter gehst, oder ob sie dich zu ihm hinführen. Du weißt, wo es lang geht. Aber woher?
Dann, dort angekommen, siehst du den Mann, der gewartet hat. Der Mann von vorhin, der nicht zu dir hochgeschaut hat. Jetzt erkennst du ihn. Es ist ein guter Freund.
Er sieht dir kurz ins Gesicht und nickt mit dem Kopf, nur ganz leicht, als wolle er “ja” sagen. Einer schiebt die Tür auf. “Sie dürfen sich reinsetzen.” – sagt der.
Du setzt dich in den Laderaum des Transporters. Zwei von den – Handwerkern, setzen sich dazu. Dein Freund schließt die Tür, geht mit dem dritten Kollegen um das Auto herum, steigt in die Fahrerkabine und fährt los.

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