TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Zu Gotthardt Günther

Auch wenn es hier und da oder demnächst immer mal wieder so scheinen mag – das Thema Mensch, Natur, Technik ist – philosophisch betrachtet – so neu oder alt wie die Philosophie selbst. Nur die Moden kommen und gehen: Manch einer mag sich heute das Wort “Kybernetik” an die Weste stecken wie einen Button, der, lange nicht getragen, jetzt wieder irgendwie cool aussieht. Oder auch flippig klingt, ein wenig nach Betriebs-Mess-Steuer-und-Regeltechnik, oder DATEV, oder auch nach Raumschiff Orion, nach dem Bügeleisen als Hebel für den Warpantrieb im Kampf um die intellektuelle Positionierung auf den Trendsinuswellen der Altneuigkeiten und Sprachspiele. Ungefähr so, wie man auch eine alte Schallplatte aus den Sixties gerne mal wieder auflegt.
Der Andere guckt mal eben bei den Griechen nach und findet da ganz plötzlich und überraschend etwas in der Nähe von Prometheus, dem Feuerbringer, der natürlich auch noch irgendeinen vergessenen Bruder hatte. Warum eigentlich. Prometheus selbst war schon der Techniker, Feuerwerker, ebenso wie dieser kleine freche Schmied namens Hephaistos. Und schließlich ist der Adam als talmudistischer Golem selbst ein technisches Erzeugnis, zusammengeworfen aus Lehm, angehaucht, unfertig und immer noch werdend. Heidegger war schon beim Thema. Günther Anders. Die Leipziger Schule um Hans Freyer aus den 30iger Jahren, Gehlen, Scheler, Plessner, Sohn Rethel; und alle hatten ihre Meinungen und auch wichtige Fragen und Erkenntnisse. Von der unüberschaubaren Menge besserer oder schlechterer SciFi-Autoren ganz zu schweigen.
Der Pole Stanislav Lem, der hier eine echte Sonderstellung einnimmt, als einer der ganz wenigen, wirklich gültigen Weltliteraten, Dichter der SCi Fi, der es fertig gebracht hat, in seiner Phantastik und Futurologie II, Phantastische Bibliothek Bd. 126, Frankfurt/M. 1980, 596 vor 30 Jahren auf die Jetztzeit so erschreckend treffende Voraussagen zu machen: Eine seiner lustigsten und zugleich unheimlichsten Voraussagen von Stanislav Lem lautet: “Stellen wir uns nun vor, daß ein auto-evolutionäres Programm bereits an der Schwelle des nächsten Jahrhunderts steht; angesichts einer solchen Bedrohung könnte der traditionelle Körper an Wert gewinnen, und da er zu einer Art Reliquie, zu einem Heiligtum wird, das man bis zum letzten Tropfen (des alten, animalischen) Blutes verteidigen muß, würde er ein Zentrum neuer Art schaffen: einer rein somatischen oder gar somatisch-genitalen Religion. Es ist nicht schwer, sich Kreuzzüge vorzustellen, die zur Verteidigung des Körpers ausziehen – in einigen Dutzend Jahren von heute.” Allerdings, das liest sich nicht nur lustig, sondern auch bedrohlich. Droht uns ein neues Retour-Katapult?
Wenn man so etwas liest, was einer vor 30 Jahren da vorausgesagt hat, dann hat man natürlich heute ein Problem. Weil: Wenn man heute auszieht, den traditionellen Körper zu retten, indem man also jetzt in eine Kirche der Feuchtgebiete eintritt, um vor dem Sakral-Altar der – gottseidank – immer noch echten Drüsen und Achselhaare ein Gebet zu sprechen, dann betet man immer noch unter dem Erkenntnisstand eines Stanislav Lem. Man kommt dann nicht umhin, einzusehen, dass man als eine Figur aus dem Zukunftslaboratorium von Stanislav Lem aus den 70iger Jahren agiert.
Das Seherische dieser Prophezeihung von Lem bestand ja gerade darin, dass er nicht nur die Infragestellung des traditionellen Körpers voraussagt, das allein wäre nur halb so sensationell, nein, er problematisiert damals, vor 30ig Jahren, schon das heutige Zucken, Hängen und Würgen, die sich ankündigenden Zurückwindungssympthome all der neuen Jakobswege und Entschleunigungssehnsüchte. Überhaupt muss man heutzutage verdammt früh aufstehen, wenn man irgendwo sein will, wo Stanislav Lem nicht schon war. Wirklich verdammt früh. 4 Uhr 30 reicht nicht. Man muss spätestens 2 Uhr 16 seinen ersten Morgenkaffee getrunken haben. Und hier ist nicht sein bekanntes Solaris-Buch gemeint, auch nicht seine wunderbaren Ion Tyche-Kinder-Bücher, die er im Nachmittagsschlaf für die AG Junge Raumfahrer schrieb, sondern vor allem seine Essays und essayistisch angelegten Romane. Alter Falter – möchte man da sagen. In Stanislav Lem steckt so ungefähr der halbe Diskursquatsch, den man heute in dem Gebiet so über sich ergehen lassen muss. Und die andere Hälfte ist noch nicht mal bei ihm angekommen.
So ist zum Beispiel gemessen an Stanislav Lem ein Peter Sloterdijk ein echter Spätaufsteher, oder ein Längerschläfer. Obwohl er, das sei ihm immerhin angeschrieben, einen Mann wie Gotthardt Günther irgendwo auch schon mal in ein paar Halbsätzen hat durchblitzen lassen.
Deshalb jetzt zu Gotthard Günther. Günther, der große Ungenannte oder Kaumgenannte des 20igsten Jahrhunderts, der die postfuturologischen Milchbärte, mich eingeschlossen, die sich heute alle irgendwie neuerdings, ganz überraschend, trendy, anders, verzückt, fasziniert mit dem Problem der Synthetik, der Technik, der Wechselwirkung konfrontiert sehen – dieser Gotthard Günther ist und war und bleibt einfach mal eine – um es anerkennend auf Neudeutsch zu sagen – verdammt coole Sau. Neben Stanislav Lem natürlich. Nein, nicht cool war er, er war leidenschaftlich mit einem Problem befasst.
Was man in den Lexikas über Günther findet, klingt zumeist verwirrend und auch kompliziert. So schlimm ist es aber gar nicht. Zugleich erstaunt es aber, wie sehr dieser Denker schon seit mindestens anderthalb Jahrzehnten gleichsam wie ein Phantom der Oper kaum genannt, halb genannt, oder ungenannt, durch die Diskurse geistert, in denen er dann meistens nur ganz selten oder beiläufig, meistens aber falsch verstanden oder gar nicht erwähnt wird, wie neulich wieder bei dem T-Shirt-Leninisten und Allzuschnellschreiber Diethmar Dath, der einen Schulaufsatz über Maschinen, Lenin, Winter und noch irgendwas beim Buchhandel abgeliefert hatte. Auch diese Schrift fiel vor allem dadurch auf, dass Gotthardt Günther weder genannt noch diskutiert, geschweige denn mitgedachte wurde, obwohl es ein passender Anlass hätte gewesen sein können. Aber vielleicht wäre da Abiturstufe gefragt gewesen. Oder das Heft gar leer bleiben müssen. Deshalb hier mal etwas ausführlicher zum Phantom der Oper Gotthardt Günther.

Die originäre Leistung des Güntherschen Werkes erzählt sich so:

Gotthardt Günther hat sich überlegt, wie es kommt, dass wir überhaupt “ja” oder “nein” sagen können, oder auch nur “vielleicht”.
Seine Antwort auf diese Frage war prickelnd, erstaunlich.
Günther hat darauf hingewiesen, das unsere “Ja’s”, “nein’s” und “vielleichts” alle
“ontologisch positiv” notiert sind.
Wie ist das nun gemeint?
Die einsichtigste Erklärung dazu stammt von dem Kybernetiker(!) Heinz von Foerster, der einmal Mitte der 50iger Jahre vom Biological Computer-Lab in Illinois nach Moskau zu einer Kybernetik-Konferenz reiste, kurz nachdem man auch dort einsehen musste, dass riesige Denkmäler für Stalin vielleicht doch etwas übertrieben sein könnten, man sie also nach dem Geheimparteitag von Chruschtschov beseitigt hatte.
Foerster fiel aber auf, dass die Sockel der Denkmäler stehen geblieben waren, aber nicht aus Faulheit, sondern systematisch. Extra stehen gelassen.
Eine Dolmetscherin, die er deshalb fragte, gab ihm dazu eine verblüffende Antwort. Sie sagte: Man müsse die Sockel stehen lassen, um “Nein” zu sagen, NEIN zu Stalin. Wenn man nämlich die Sockel der Denkmäler auch entferne, dann könne man dieses “Nein” zu Stalin nicht mehr sehen.
Zing.
Das trifft gut den Grundgedanken von Gotthardt Günther. Dass auch ein “Nein” noch auf etwas steht, auf einem Sockel. Ein “Nein” ist eben nicht das “Nein”, wofür wir es gerne halten, sondern auch ein “Nein” besetzt noch einen Platz, eine “ontologisch positive” Notierung, damit es überhaupt “gesagt” werden kann. Um mal ein Bild zu gebrauchen: Jedes NEIN und jedes JA bedarf eines Gehirns, und zwar ein und desselben Gehirns, dass diese Aussagen denkt, und Stimmbändern, die es aussprechen. Deshalb ist auch ein Nein immer noch “ontologisch positiv”.
Und der Witz, also die logische und scharfsinnige Pointe dieses Gedankens verweist darauf, dass dieser Sockel, auf dem unser “Nein” und unser “Ja’” steht, sozusagen immer stumm bleibt und in seiner Stummheit dafür sorgt, dass JA und NEIN gegeneinander austauschbar sind. Da beide “ontologisch positiv” gesockelt sind, sind sie gegeneinander austauschbar.
Im praktischen Leben mag das (scheinbar) nicht viel bedeuten, wir können uns im Alltag verständigen, aber bereits in jeder halbwegs engagierten philosophischen Lagebesprechung, in dem Moment, wenn also diskutiert wird über Materialismus contra Idealismus, Form contra Inhalt, Sein contra Bewusstsein, Phänomene contra Begriffe, also alle Diskussionen, die zu dem scholastischen Kreisverkehr der Philosophie (Searle) gehören, hat dieser Günthersche Gedanke eine ziemlich giftige Wirkung, weil aus ihm folgt, dass die allermeisten so genannten Kontra-Positionen, Kontradiktionen oder Gegenpositionen gegeneinander austauschbar sind. Jeder erhitzte Disput damit sich erledigt hat, weil er als absurd erkannt werden kann, überflüssig, eben austauschbar. Die Kontradiktionen eines Streitgesprächs lösen sich auf, weil sie logisch in der selben positiv-sprachlichen Domäne stehen und damit die Plätze tauschen können. Damit war Günther eigentlich noch radikaler als Wittgenstein, weil er auch alles positiv Sagbare in eine zumindest fragwürdige Position rückt.
Das ist der Grund, warum Gotthardt Günther nicht oder selten in den Diskursen auftaucht, oder nur als Phantom der Oper, weil er die Widerspruchswunschmaschine, von der sich immer noch ungefähr 70 Prozent unserer Diskussionen nähren, sofort auffliegen lassen würde. Ein Großteil der Philosophie wäre arbeitslos und 70 Prozent des Feuilletons und ungefähr 80 Prozent des Suhrkamp-Verlagsprogramms könnten sofort dichtmachen.
Aber als vielleicht interessanteste Konsequenz dieses Gedankens folgt, dass der dialektische Materialismus von Marx/Lenin und der dialektische Idealismus von Hegel aber auch der Kantische Idealismus genau deshalb gegeneinander tauschbar sind. Dass Marx den Hegel, wie er selbst stolz berichtete, “vom Kopf auf die Füße gestellt hat” muss nach Günther zu denn tragigkomischen Aktionen der Philosophiegeschichte gerechnet werden, eine Art Slapstick, wenn auch leider die negativ folgenreichste. Dieses Trauma aber, das stalinisierte Marx-Desaster, hat wiederum etwas mit diesem Slapstick zu tun.
Aber auch der ganze Adorno fällt mit diesem Gedanken sozusagen ins Wasser der Güntherschen Klarheit. Eine negative Dialektik kann es nicht geben, ist schlichtweg Unfug. Oder man heißt eben Gotthardt Günther. Wenn man Günther verstanden hat, was wirklich nicht so schwer ist, kann man Adorno ein für alle Mal beiseite legen. Aber leider auch beinahe den ganzen Habermas. Günther war Gift für eine Gesellschaft, die sich von Diskursen ernährt.
Etwas, das auch wichtig ist: Man kann Günther eben genau deshalb gerade nicht vorwerfen, er sei Hegelianer. Was ja so bequem wäre, um ihn einzutüten. Oder er sei einfach nur ein Dialektiker. Geht aber nicht, leider. Sondern Günther ist gerade derjenige, der auf die logische oder ontologische Austauschbarkeit von Materialismus und Idealismus hingewiesen hat und damit die allermeisten Diskussionen eigentlich tötet. Er ist ein Rationalist reinsten Wassers. Damit steht er über den Fronten und dazwischen. Er ist aber auch kein Derrida-Surrogat. Nichts hat ihm ferner gelegen, als ein Ausweichen vor der Entscheidung. Eine weitere Konsequenz des Güntherschen Gedankens ist die, dass er einer Hoffnung auf diskursive Regulierung unserer Probleme so ziemlich das Wasser abgräbt und sehr folgerichtig dann zu dem Ergebnis kam, dass es eigentlich die stumme techné ist, also das Machen, das stumme Tun, die Technik, welche die weitere Geschichte bestimmt. Das Mensch spricht sich in der Technik stumm handelnd – aus. Übergibt ihr peu a peu seinen seelischen Haushalt.
Und tatsächlich gibt ihm die Gegenwart zu einem großen Teil Recht: Aus Ideen werden Märkte, wird Technik. Und noch jeder Salon-Leninist wundert sich darüber, dass er heute nicht mehr sein kann als genau das – wenn er Gotthardt Günther nicht verstanden hat oder verstehen will.
Unbenommen davon bleibt, dass jeder Mensch an seinem Ort auch Gutes für andere Menschen tun kann. Nur eine Theorie dazu hat’s immer schwer. (Jedenfalls dann, wenn sie nicht thermodynamisch gedacht ist.)
Nun darf man mit diesem hochwirksamen Günther-Gedanken nicht übertreiben, oder ihn verabsolutieren, weil letztlich auch das Sprechen, Sagen und Denken zum Tun und damit zur Technik gehört. Deshalb ist heute in gewisser Weise jeder, der irgendwas will, sagt oder denkt oder tut, automatisch sein eigenes Label, dass ihn sozusagen im Selbstprodukt dem Meinungsmarkt anheimstellt.

Ein weiterer wichtiger Teil seines Lebenswerks widmete sich später dem Versuch, eine so genannte Negativsprache bzw. eine Kenogrammtik (Leerstellengrammatik) zu entwerfen. Damit meinte er ein logisches Notationssystem, eine Meta-Sprache, eine Programmiersprache für das Sein schlechthin – also eine Sprache, die noch vor jeder natürlichen oder künstlichen Sprache, eigentlich noch vor jedem Bewusstsein die Bedingungen von Bewusstsein abbilden kann. Die sozusagen erstmal die Sockel notiert für alle JA’s NEIN’s und VIELLEICHT’s und mit diesen Sockeln dann rechnet. Eine Art Programmiersprache vor jeder Sprache als Quelltext des Seins, der notierbar ist und auf Maschinen übertragbar. Hier möchte ich mich mit einer Bewertung zurückhalten, in wie weit dieser Versuch glücklich war. Soviel ich weiß, ist das praktisch nocht nicht umsetzbar. Günther hat das Wärmeproblem irgendwie nicht sehr ernst genommen. Auch nicht die Energie-Informations-Komplementarität. Eine solche Sprache müsste sich nämlich in den 2. Hauptsatz der Thermodynamik einschmiegen können, sie müsste synchron zur Dissipation sprechen oder diese simulieren können, es müsste eine Wärme-Sprache sein. Oder sie müsste als Zeichenensemble ein Fließgleichgewicht nachbilden. Ich halte mich zurück, das einzuschätzen. Vielleicht ist es möglich, auch eine notierbare Meta-Programmiersprache wie einen Konvektionswirbel zu organisieren, so dass sie mit der Thermodynamik synchron läuft oder diese Bewegung simuliert, wobei sie eigenständige Komplexitäten (Polykontexturen) schafft. Vielleicht funktioniert das aber auch nicht, weil eine solche Sprache in einen Konflikt mit Gödels Unvollständigkeitssatz kommt. Egal.
Günthers Leistung, dem Kreisverkehr der Kontradiktionen seine Absurdität aufgezeigt zu haben, bleibt ebenso gültig wie seine technikphilosophischen Beiträge, die zum größten Teil alle schon in den 30iger bis 50iger Jahren erarbeitet waren.
Gotthardt Günther lebte von 1900 bis 1984.
Seine Gedanken waren immer und bleiben ein AntiSerum gegen das Gift des postmodernen Schwachsinns.

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