TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Schauschau

Die Eltern nahmen keinerlei Notiz, dass er ihr Kind so anstarrte. Sie hatten den Kinderwagen direkt vor sein Fenster gestellt. Jetzt saßen sie draußen unter der Kaffeehaus-Markise und nippten sporadisch an ihren Tees, die bereits aufgehört hatten, zu dampfen. Für das Trinken blieb wenig Zeit: Die beiden hatten sich viel vorzuwerfen. Ihre Stimmen waren kontrolliert; zumindest drangen sie nicht durch die Scheibe. Gestik und Mimik waren umso deutlicher. Bei so viel Hitze bräuchte es die Wolldecken über ihren Knien eigentlich nicht, dachte er.

Er saß drinnen. Vom Draußen war er noch von neulich bedient: Einer dieser Heizpilze musste ja direkt über seinem Platz bollern. Wie nassgeschwitzt sein Nacken war, hatte er erst auf dem Heimweg gemerkt, als ihm die erste Bö kalt über den Feuchtfilm auf den Schultern fuhr. Abends dann wieder Schluckbeschwerden.

Erstaunlich, dass das Kind so tief schlafen konnte. Der leichte Kinderwagen ließ nur sitzende Haltung zu. Beneidenswert. Das war die Haltung, in der er auf Bahnreisen kein Auge zubekam. Richtig warm eingemummelt war die Kleine auch nicht. Aus ihrer eigenen Decke hatte sie sich bereits zur Hälfte herausgewunden. Sie träumte. Er sah das. Ihr Körper versteifte und entspannte sich wieder; ihre Pupillen wanderten unter den geschlossenen Lidern. Hier sitze ich hinter einem Schaufenster und schaue einem kleinen, dicken Mädchen beim Träumen zu. Wenn das Glas nicht wäre, könnte ich ihr über den unruhigen Kopf streicheln. Das wäre sicher unangemessen. Dann würden die Eltern Notiz nehmen – und keine gute. Ihr Disput war unvermindert leidenschaftlich. Vielleicht treffen sie sich nur für diese Aussprache. Waren sie zusammen gekommen? Er hatte nicht darauf geachtet und auch die Tochter erst dann bemerkt, als sie schon vor seiner Scheibe schlief.

Der wiederkehrende Ausdruck in ihrem Gesicht. Der hielt ihn. Am linken Handgriff des Kinderwagens hing eine reichlich bespielte, abgewetzte Stoffgiraffe und schaukelte unter den Bewegungen der angespannten Schläferin. Das Kind träumte sorgenvoll. So sah es aus. Es hatte im Schlaf etwas durchzustehen. Es weinte nicht, es wachte nicht auf, es stellte sich. Sein Körper versteifte sich erneut. Seltsam unkindisch. Ein Kind sollte nicht so aussehen. Im Schlaf nicht und sonst auch nicht. Verantwortung und Ernst liegen Dir schon noch früh genug auf den Schultern. Jetzt noch nicht. Wenn er jetzt an die Scheibe klopfen und die Eltern auf den Gemütszustand ihres Kindes hinweisen würde, dann würde sie verstehen. Ein Blick in das Gesicht des Kindes, und es gäbe Wichtigeres als ihre Streitigkeiten. Es geht um das Kind!

Die Eltern küssen sich zärtlich. Ohne seinen Hinweis. Wie konnte es dazu kommen? Das hat er nicht mitbekommen. Und ein seltsames Geräusch. An seinem Tisch. Ein elektronisches Signal, das er zum ersten Mal hört. Sein Mobiltelefon. Aber nicht die Klingel, die er sich ausgesucht hat. Noch einmal. So klingt das also, wenn man eine Videobotschaft erhält. Als Startbild: sein eigenes Gesicht auf dem kleinen Bildschirm. Abspielen. Die Kamera fährt noch näher auf sein Gesicht. Er sieht sich im Profil nach draußen schauen. Kalter Schweiß, und ihm wird übel. Ein Video über ihn, von seinem Tisch aus gedreht, gerade eben. Der, der das gedreht hat, muß ihm fast im Gesicht gestanden haben. Er räuspert sich aus Angst und duckt sich über der Tischplatte, als befürchte er eine Kopfnuss von hinten. Sein Kragen hängt fast in seiner Tasse. Natürlich dreht er sich auch um, aber das ist unnütz, weil er auf das  schaut, was er sowieso weiß und was man auch ohne Umdrehen sehen kann: Diese Ecke des Cafès ist leer. Da sitzt niemand und niemand und niemand, die ganze Zeit schon, die er an seinem Käse-Schmand gemümmelt und zuviel schweißtreibenden Milchkaffee getrunken hat. Er spürt den nassen Stoff unter den Achseln. Gleich wird er aufwachen. Nein. Er ist an diesem Tisch im Café. Er hat eine Videobotschaft bekommen, die es nicht geben kann, weil nur er sie filmen konnte oder niemand.

Die Botschaft ist abgelaufen; jetzt ist wieder sein Gesicht als Anfangsbild zu sehen. Blick nach draußen. Das Kind mit seinen Eltern ist fort. Das ging ja schnell. Er trinkt den Rest Wasser gegen die Übelkeit. Das Telefon zittert ein wenig, als er es wieder hochnimmt. Zwei schnelle Atmer, dann noch einmal: Abspielen. Noch einmal die Fahrt auf sein Gesicht, mit allem, was er nicht mag: das schwächliche Kinn, die fleischigen Wangen, die Pusteln von der Nassrasur. Viel zu nah. Das abgebildete Ich schaut nach draußen, spiegelt sich im Schaufensterglas wider und schaut herein. Kein Kind, keine Eltern, keine anderen zu sehen. Das Mitleid auf beiden Selbstgesichtern, sonst nichts. Der Film ist vorbei. Gleich wird er ihn löschen. Nie mehr so schauen. Ein Schwur.

Seine Gabel kratzt über den Teller. Das letzte bisschen Kuchenschmiere schmeckt, als hätte das Ganze einen Stich gehabt. Oder der Nachgeschmack liegt an den Schluckbeschwerden. Wegen des Heizpilzes, immer noch.

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