TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Das Vokabelheft

Wenn ich den Zettel nicht gefunden hätte, würde ich Ihnen diese Geschichte gar nicht zumuten. Ein dauerhafter Verdacht ohne jeden Beweis zeugt eher von einer Paranoia als von bemerkenswerter Beobachtungsgabe. Ich hätte einfach gesagt: „Es mag so wirken, als würden die Nachbarn absichtlich laut vor meiner Tür reden und dabei immer öfter Wörter benutzen, die keinen Sinn ergeben. Aber das stimmt nicht.“ Auch wenn natürlich immer Frau van Boxen dabei ist, wenn diese Wörter fallen. Und ich habe weiß Gott genügend Gründe, dieser Frau skeptisch gegenüber zu stehen. Trotzdem.

Aber ich habe den Zettel gefunden. Ich sollte ihn auch finden, da bin ich nun sicher. Als ich den Containerdeckel öffnete, präsentierte er sich mir in einer derart obszönen und schamlos sichtbaren Weise, dass jeder, der klaren Geistes ist, erkennen musste: Diese Notizen wurden für mich drapiert. Kein achtlos gekippter Papierschnips legt sich zufällig mit der beschriebenen Seite nach oben und derart mittig auf die verklebte Gesamtheit des Mülls der hiesigen Mietparteien.

Aus ihrer Sicht hat die van Boxen strategisch richtig gehandelt. Sie will in ihrer Perfidie, dass ich von ihrem Plan gegen mich Kenntnis nehme. Also muß sie die Beweise dementsprechend platzieren. Selbst sie weiß natürlich, dass ich den Müll niemals nach ihnen durchsuchen würde. So sehr mir die Suche nach der Wahrheit auch am Herzen liegt – das ginge zu weit.

Sowieso ist das olfaktorisch dauerpräsente Containerviereck an der rückwärtigen Seite unseres Hinterhofes ein Ort, den ich in seiner sonnenlosen Zugigkeit möglichst meide. Trotz der kopfhohen Mauern pfeift der Wind das ganze Jahr mitten durch das Quartett der patinierten Müllbehälter. Ich habe meine Lektion nicht vergessen. Als ich im grauklammen Dämmern jenes Herbstabends meinen übervollen Ascheneimer leeren wollte, trieb mir eine plötzliche Bö das feine Rotgrau der verbrannten Heimatkohle in jede Öffnung meines Gesichtes und über meine Kleider. Wie oft hatte die van Boxen wohl schon zu ähnlicher Gelegenheit am Fenster gewartet? Nun bekam sie ihre Gelegenheit, und sie ließ mich ihr schadenfrohes Gelächter hören. Egal, was es zwischen uns vorher gegeben hatte: Das war unangemessen.

Dabei will ich gar nicht leugnen, dass es da ein Missverständnis zwischen mir, ihr und ihren Katzen gegeben haben mag. Aber wie lang ist das schon her? Und wie soll man im Nachhinein rekonstruieren, wer sich denn nun in den Terminen vertan hatte? Ich, der ich mich in einem selbstverständlichen Akt der Nachbarschaftshilfe bereiterklärt hatte, ihre beiden Katzen die ganzen vierzehn Tage zu versorgen, die Mutti – so nannte sich van Boxen tatsächlich selbst vor ihren Tieren – die Mutti also in der Kur war? Natürlich war ich der Aufgabe pflichtgemäß nachgekommen und hatte am Tage vor Muttis Rückkehr die Wohnungsschlüssel wie verabredet in van Boxens Briefkasten gleiten lassen und mich dann selbst auf eine Reise begeben. Erst nach meiner Rückkehr hatte ich erfahren, dass van Boxens tatsächlicher Kuraufenthalt vierzig Tage lang währte. Sie bestand darauf, mir die Dauer ihrer Absenz auch so mitgeteilt zu haben. Ich bestreite das noch heute. Jeder Mensch hat seine Wahrheit. Und die Katzen hatten sich zu helfen gewusst. Zumindest die stärkere.

Wie auch immer: Ich trug an jenem Abend Asche auf meinem Haupt. Das und ihr unangemessenes Gelächter hätte ihr reichen müssen. Aber Mutti van Boxen ist in der Rache eine gierige Person. Und der Zettel zeigt, dass meine Vermutungen also doch kein leerer Verdacht waren. Vokabeln einer neuen Sprache! Hatte ich den Braten also richtig gerochen, als ich im Hausflur Gesprächsfetzen zwischen van Boxen und den Nachbarn hören konnte: Die van Boxen entwickelt einen Geheimcode, der mich von der Hausgemeinschaft isolieren soll, wenn er denn erst einmal von ihr und allen anderen Mitgliedern gesprochen wird. Was die Nachbarn dazu veranlasst, diesem ihrem Spiel zu folgen, weiß ich nicht. Für die überdrehte Brünette aus dem Parterre ist das wahrscheinlich nur ein Spiel. Und bei dem verbitterten Pärchen aus dem Vierten war es sicher ein leichtes, sie gegen mich aufzubringen. Die anderen kenne ich nicht und würde sie auf der Straße kaum erkennen. Mutti hat sie wahrscheinlich alle schon zum Kuchen eingeladen und sie auf ihre Seite bewirtet. Wie lange arbeitet sie schon an diesem Plan? Aber bitte. Wenn sie alle meinen.

Ich habe mich nun gegen dieses Spiel gewappnet. Am Anfang, da hätte mich die van Boxen fast so weit gehabt. Als die ersten fremden Wörter immer öfter im Hausflur fielen. Da hatte sie mich auf dem falschen Fuß erwischt: Vielleicht werde ich ja wirklich verrückt und verstehe die eigene Muttersprache nicht mehr? Vielleicht war das ja wirklich meine Schuld mit den Katzen? Gerade auch, weil die van Boxen Leute beim Radio und vom Fernsehen kennt, die ebenfalls mitmachen bei der Sache mit den fremden Wörtern. Da hab ich sie unterschätzt.

Aber nun habe ich den Zettel gefunden. Und ich habe einen Plan. Die van Boxen wird weitere Fehler machen. Es wird weitere Zettel geben. Ich kann warten. Irgendwann habe ich genügend Vokabeln zusammen. Und dann werde ich vor Euch treten und Euch fließend in Eurer neuen Geheimsprache erzählen, wie das nämlich wirklich war. Mit dem Plan. Und dass das ungerecht ist. Auch wenn jeder Mensch seine Wahrheit hat.

Ich hoffe dann nur für Euch, dass Ihr in Eurer Sprache die richtigen Ausdrücke für eine angemessene Entschuldigung habt.

lava-029.JPG

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert