TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Fünfzehn Uhr fünfzehn

Es ist jetzt 18.41 Uhr. In 79 Minuten werde ich die Sicherheitstür meines in stilvoller Dezenz gestalteten Verkaufsraumes mit den vier Spezialbolzen sichern, mittels der Zahlenkombination den Testsieger unter den Alarmanlagen aktivieren und das spezialbeschichtete Außengitter herunterziehen.

Und bis dahin hoffe ich von ganzem Herzen, dass sich kein Kunde vor meinen Wurzelholz-Verkaufstresen verirrt.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Meine Kunden sind ein exquisites Klientel, und ich begegne ihnen stets mit dem ihnen gebührenden Respekt. Ich darf sagen: ich liebe die Dienstleistung, der ich mich verschrieben habe. Ich verkaufe keine Ware von der Stange. Das entspricht nicht den Anforderungen, die man an mich stellt. Und also hilft es mir nicht. Ich lebe davon, dass man mein exklusives Angebot in den Kreisen, in denen man sich High-Class-Produkte in ihrer entsprechendern Wertigkeit leisten kann, mündlich weiterempfiehlt. Meine Klientel erwartet persönlichen Zugewinn, keine Ware. Mein Point of Sale ist niemals der Preis, sondern schlichtweg die Individuation von Wunsch und Leistung.

Wer zu mir kommt, hat seine Entscheidung bereits getroffen. Er weiß, was er will. Ich kann das auch nur hoffen. Nein, anders: seit 15 Uhr 15 hoffe ich, dass er gar nicht kommt. Ich schwitze vor Angst bei dem Gedanken, in diesem Zustand einen Kunden empfangen zu müssen. Dabei ist diese Zeit des Nachmittags bis hin in die frühen Abendstunden die bevorzugte Zeit meiner Klientel. Aber ich bin seit 15.15 Uhr nicht mehr ich selbst.

Um 15 Uhr 14 erschien ein winziges, gerade handbreitgroßes, knorriges Weiblein aus dem Nichts auf der Chevreau-Ledereinlage meines Verkaufstresens. Es klettert mühelos und leise kichernd am handgenähten Revers meines farblich gedeckten Sakkos auf meine linke Schulter. Von dort bläst es mir einen unendlich feinen, goldfarbenen Staub in mein Gesicht und verschwindet.

Ab 15.15 Uhr weiß ich nicht mehr, was ich verkaufe. Ich schaue mich in dem beruhigend getäfelten Show-Room meines Ladenlokals um und erkenne nichts. Ich weiß zwar, dass ich hierhin gehöre, nicht aber, wie dieser Ort genannt wird. In den Vitrinen stehen hinter entspiegeltem Panzerglas raffiniert ausgeleuchtete, hochwertige Luxusprodukte, deren Sinn und Funktion sich mir nicht erschließt. Meine Kataloge aus handgeschöpftem Büttenpapier sind in einer mir nicht verständlichen Sprache geschrieben; die abgelichteten Objekte empfinde ich als ästhetisch, kenne aber weder ihren Sinn noch ihre Bezeichnung. Ich kann sie nicht einmal in Größe und Form beschreiben – mal erschienen sie mir mannsgroß und von beträchtlichen Umfang, mal eher klein und grazil. Auch jetzt verändern sie sich vor meinen Augen.

Wenn ich einen Kunden frage – und ich schwöre, dass ich das nie mehr tun werde – dann verwandelt sich meine Sprache in ein Grunzen und Lallen, das in gellendem Geschrei mündet. Die beiden Versuche der ersten Tage haben mich das ausreichend gelehrt. Ich werde die Gesichter, mit denen meine Interessenten vor mir flohen, nicht vergessen.

Auch andere Dinge sind mir seltsamerweise erinnerlich: ich weiß, dass das knorrige Weiblein seit genau einer Woche jeden Tag um exakt 15.14 Uhr erscheint. Ich weiß, dass ich jede Nacht unweigerlich einnicke, und ich, wenn ich frühmorgens aufwache, jede Erinnerung an sie verloren habe. Hinweise, die ich mir selber hinterlasse, sind verschwunden. Meine Erinnerung an sie setzt erst mit ihrem Erscheinen wieder ein.

Was ich auch nicht weiß, ist: was das knorrige Weiblein von mir will. Ich weiß nicht, warum ich von ihr bestraft werde und ob es sich überhaupt um eine Bestrafung handelt.

Aber ich spüre, dass diese Möglichkeit hier meine einzige sein wird, um Hilfe zu bitten. Bitte suchen Sie mich! Bitten kommen sie um kurz nach Drei am morgigen Nachmittag in meinen Laden. Bringen Sie eine Fliegenklatsche mit und befreien Sie mich von dem knorrigen Weiblein. Es wird keine Zeugen geben. Und ich habe allen Anlaß, zu schweigen.

Es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich werde Sie reichlich und mit einem auf Ihre Ansprüche abgestimmten Luxuserzeugnis belohnen, dessen Sinn und Funktion ich dann sicher auch am Nachmittag wieder erkennen werde. Also!

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