TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Aufräumtag

„UNPRÄTENTIÖS“

Seit Monaten schon liegt dieses Wort auf meinem Labortisch: Unprätentiös. Und seither überlege ich daran herum, was es wohl an sich hat. Ich komme nicht drauf. Sicher bin ich mir nur: Das Wort riecht nicht gut.
Von Anfang an. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Wenn ich nur wüsste, was.

Vielleicht ist es auch gar nicht das Wort. Vielleicht sind es die Kontexte in denen es erscheint, die es erzeugt, die es erzwingt…

Kontexte, die es dämpft?

Etwas klingt madig daran. Aber diese seine Madigkeit durchseucht sofort den gesamten Verhältnisraum.

Aber madig trifft es eben nicht genau. Unprätentiös. Wenn man dieses Wort in die Hand nimmt, fühlt es sich an wie ein Stück Styropor aus der Deckenverdämmung einer eingesunkenen Garage bei Oranienburg.

Dabei ist das Wort ja harmlos. So harmlos etwa wie eine halbvolle Dose Haarspray in hellgrün. Man findet sie hinten beim Aufräumen eines Badeschränkchens. Nichts Besonderes. Außen leicht klebrig, aber nicht gefährlich. Nichts, das Aufsehen erregt. Und trotzdem – etwas stimmt mit dem Wort nicht.

Sicher – es beschreibt eine Haltung, eine Mentalität, ein Ton. Aber wessen?

Unprätentiös. Ein Wort, als würde man in einer Wohnung beim Renovieren hinter einem Schrank, den man nie abgerückt hat, auf eine Tapetentür stoßen. Erst fühlt man kleine Huckel, Unebenheiten. Man kratzt an der alten Tapete herum, bis man winzige Scharniere entdeckt. Man weiß dann, dass die Wohnung seit Jahren diesen leicht geduckten zweiten Ausgang bereit hielt. Oder war es ein zweiter Eingang?

Soll man jetzt, nach so vielen Jahren, in der vertrauten Wohnung diese geduckte Tapetentür mit dem Wort öffnen, mit dem Zauberwort?
Die Schultern rund machen und hindurchschlüpfen.

Man tut es. Ganz kurz. Die Neugier. Und entdeckt: Eine kleine Abstellkammer, leer, fensterlos, sie riecht nach altem Putz, sonst nichts. Hat man doch glatt übersehen all die Jahre. Also gibt es nicht etwa zwei-einhalb Zimmer, wie man immer dachte, sondern zwei-sechsachtel Zimmer. Interessant.

Unprätentiös. Ein kleines Kabuff. Das Rätsel ist gelöst, könnte man denken. Und doch bleibt das Wort unaufgeklärt. Sein Hohlkörper, sein Abgrund, sein Resonanzraum ist mobil, begleitet es. Und trotzdem scheint es auch nicht wirklich hohl. Wenn man sich ihm nähert, verschwindet das, was man aus der Ferne für einen Resonanzraum hielt. Dann pocht man mit dem Finger daran, und es macht „tock“, wie bei einem ausgetrockneten Schwamm. Etwas an dem Wort bleibt falsch. Nichtig. Egal in welchem Kontext.

Oder schal oder….

Vielleicht ein Gift. Wenn es als Lob daherkommt.
Ein Nervengift. Ein Nervenlob. Wie Botolinum.
Ein Wort, das zum Denkstillstand führt.

Oder Mehltau. Der Mehltau des Unprätentiösen.

Wenn ich’s nur besser einkreisen könnte.

Oder sogar hochgefährlich. Ein Fingerhut voll Unprätentiösem ins Trinkwasser einer Großstadt…

Man darf nicht dran denken.

Vielleicht verliert auch, wer das Wort benutzt oder auch nur denkt, sein ganzes Karma.

Dann wird man in seinem nächsten Leben wiedergeboren als Lebensmittelmotte.

Unprätentiös steigt man dann aus einer Haferflockentüte auf.

Mir gefällt das Wort nicht. Mir gefällt nicht, was es mit Menschen macht, die es hören, lesen oder aussprechen.

Kann es Worte geben, die eine ganze Sprache, ein ganzes Denken befallen und schwächen wie ein Virus?

Unprätentiös – und plötzlich hat ein ganzer Kontext HIV.

Aber letztlich ist es doch wieder nichts von all dem. Nur ein Wort.

Die Frage lautet also nicht, was bedeutet ein Wort, sondern:
Was hat es zu bedeuten, dass ein Wort im Gebrauch ist?
Für den Zeitpunkt. Für den Raum. Für den Sprecher. Für den Hörer.

Das trifft den Punkt. Das Wort für sich ist ganz belanglos.

Erleichtert trete ich ins Pedal meines Mülleimers.

Man beachte die automatisch generierten Hinweise zur Schädlingsbekämpfung am rechten Seitenrand.

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