Laufen Lernen

Einmal die Woche ist Chefarztvisite. Wer zum angegebenen Zeitraum nicht im Zimmer ist, hat Pech gehabt und muss aussetzen. Ein kurzes Händeschütteln, Röntgenbilder, aha, knappe Anweisungen zur weiteren Behandlung, die Stationsärztin notiert. Auch wer sich gewissenhaft mit einem Fragezettel vorbereitet, ist nach spätestens drei Minuten fertig. Nach einer Woche darf ich rechts auftreten, nach einer weiteren Woche zur Röntgenkontrolle und mir wird gleich eine Verlängerung für weitere drei Wochen angeboten, wofür ich von vielen beneidet werde.

  Manche sind gerne hier, andere wollen so schnell wie möglich wieder weg: Der Mann neben mir fährt mit dem Trimmfahrrad schon nach Hause, weil „sind ja nur zehn Kilometer und acht hab ick schon…“, aber das Ergometer bleibt im Geräteraum. Für nicht wenige Patienten öffnet sich die Automatiktür am Foyer nur zur Ab- und Anreise. Schon die wenigen Meter über den Parkplatz zum Kliniktor (und wieder zurück!) sind einfach zu weit – der Ausflug „Blumen-kaufen-und-Kaffeetrinken-beim-Pflanzenkölle“ bleibt unerreichbar. Nach zwei Wochen darf ich auch mit meinem linken Fuß den Boden berühren. Die Physiotherapeutin gibt die Devise Knäckebrot aus: „Das musst du dir so vorstellen, als würdest du auf Knäckebrot laufen. Ganz vorsichtig aufsetzen und behutsam abrollen, nicht zu langsam, sonst kippste um.“ Ich versuche, nicht zu bröseln, aber auch ohne Krümel piekt jeder Schritt.

  „Ja, Hand und Fuß sind selten hier, da müssen wir zusammenhalten“, findet ein Mann mit rotblondem Haar. Er ist Anwalt beim Amtsgericht und kann wegen der gebrochenen Hand keine Akten abzeichnen. Am Wasserabfüllhahn bietet das Mischverhältnis zwischen still und sprudelnd einen willkommenen Anlass für zufällige Gespräche. Denn normalerweise wird unter Patienten nicht gegrüßt, manchmal zurückgegrüßt, ein kurzes Nicken und Lächeln beim Aneinandervorbeikrücken, als wäre nix geschehen. Menschen mit täglichen Schmerzen, die nur gekrümmt mit Krücken laufen und Schmerztabletten brauchen, um den eigenen Körper kurzzeitig vergessen können, sind nicht freundlich. Und dass wir hier in der Klinik nicht darauf angewiesen sind, das dauernd zu erklären, ist eine große Erleichterung. Das ist schön hier in Hoppegarten, dass alle diese Bedürftigkeit kennen. Wenn wieder die Krücke umfällt oder die Angst vor dem nächsten Schritt dich lähmt. Die wenigen männlichen Patienten machen gerne einen blöden Spruch: „Langsamer jeht’s wohl nisch, wa?“ Ist nett gemeint. „Na, nu, Sie müssn hier ooch no’rinn, wa?“ und so finden sich Ost und West wiedervereinigt im Fahrstuhl der Reha-Klinik in Brandenburg – und vom Putzwagen grüßt der Staubwedel in schwarz-rosa-gelb.

  Während der Freizeit im H2O weichen fast nur Männer für eine Stunde im warmen Wasser, reden über die Bundesliga, das Mittagessen, Politiker, alles Gauner, die sich nur bereichern und ihre Diäten erhöhen. Während ich am Beckenrand Gymnastikübungen mache, erfahre ich, dass man immer zu kurz kommt, dass alles Betrug ist und zu wenig, Hartz IV und Rente, dass ehrliche Arbeit sich nicht lohnt. Dass immer mehr Ausländer nach Deutschland kommen, Zigeuner und Straßenmusikanten, Schmarotzer und Bettler. „Denen geht’s gut, aber unsereiner geht arbeiten und verdient nischt. Ick habe gerade wieder von so’ner Zigeunerfamilie gehört, 500 Euro hamm die verdient am Tag. Ick sach ja, dett Geld liegt auf der Straße!“ Gemeinsam im warmen Wasser genießen sie den Gedanken an all die Gauner und Schurken dieser Welt. Und der Türke ist wieder der Erste am Buffet.

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