TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Laufen Lernen

Immer donnerstags ist „Begrüßung“. Jeder bekommt von Klinikleiterin Frau Haase persönlich den Willkommensdrink (Multivitaminsaft im Plastiksektglas, aber mit Glitzerfähnchen) in die Hand gedrückt – die Zuspätkommenden etwas weniger freundlich. Die Stuhlreihen sind voll besetzt, unter den Stühlen liegen UAGs, Stoffbeutel, später Plastiksektgläser und Glitzerfähnchen. Im Gang sitzen die Patienten im Rollstuhl und wer gar nicht sitzen kann – Hüfte oder Bandscheibe – steht. Frau Haase beginnt gleich mit dem Wichtigsten, den Verboten. Erstens, zweitens und drittens. Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine privaten Bügeleisen auf den Zimmern. Außerdem gibt es im Fernsehraum 1 Erstes und im Fernsehraum 2 Zweites Deutsches Fernsehen. „Sie brauchen also keine Fernbedienung zu suchen und es kommt zu keinem Streit.“ Wir nicken, macht Sinn, ganz einfach. Auf die Frage nach weiteren Anregungen meldet sich ein großer kräftiger Mann und will mehr essen, also größere Portionen. Verlegen rascheln glitzernde Trainingsanzüge, einige schmunzeln, sein Sitznachbar weist ihn auf die Möglichkeit hin, sich einfach mehrmals am Büffet anzustellen.

  „So, Frau – äh, Sie legen sich mal in die sieben und machen sich obenrum frei. Ick komm gleich wieder.“ Es beginnt ein Leben im Zwanzigminutentakt und der Zivi dirigiert mit seinem Kugelschreiber. In den Wartezeiten dazwischen zeigen sich Patienten und Patientinnen gegenseitig ihr Terminheft und sammeln Unterschriftenkürzel. Jede Anwendung wird abgezeichnet, sonst zahlt der Kostenträger nicht. Die Schwarzmarktpreise für Wochenendausflüge, beziehungsweise vom Zivi gegengezeichnete Abwesenheiten, steigen über Ostern beträchtlich – man munkelt etwas von 20 Euro. Kleine surrende Motoren bewegen die schmerzenden Gelenke; über der Wasserdruck-Massageliege hängen Plakate für künstliche Hüftgelenke, Prothesen und Klimastrümpfe mit Mikrofaser. Mit der warmen Fango-Schlammpackung unter dem Rücken in eine Wolldecke eingerollt jetzt noch genau zehn Minuten entspannen. Antenne Brandenburg dudelt durch den blauen Plastikvorhang, seilt sich an der roten Notrufstrippe ab und singt die Oma in der Nebenkabine in den Schlaf. „Gleich nach der Werbung: alles über Fahrerflucht, und: Schüler aus Rheinsberg engagieren sich gegen Rechtsextremismus!“ Dann sind schon die nächsten Zwanzigminuten dran. In der Ergotherapie rührt ein Mann in einer Plastikschüssel mit Sand. „Sehr schön machen sie das, ja, und jetzt noch mal links rum“. Eine Frau webt mit den Knien, ich mit den Füßen und lerne: „Das ist Ergotherapie, dass Sie Mobilität und Kraft trainieren und dass am Ende was bei rauskommt.“

  Im H2O – man sagt hier nicht Schwimmbad, sondern H2O – läuft Mutmachmusik zum Aquajogging. Im Wasser fühle ich mich sicher, nachdem ich mit einem Personenkrahn ins Becken gelassen werde, die neuen Badelatschen brauche ich erst in der dritten Woche. Wir joggen im Kreis, ohne den Boden zu berühren. „I will survive!“ Dann andersrum und eine letzte schnelle Runde. „Give me hope, Joana! Hope, Joana!“ Es folgen Bauchmuskelübungen auf der Nudel, einer 1,5 Meter langen Schaumstoffrolle in rosa oder blau. „Baby, don’t hurt me. No more.“ Zum Abschluss setzen wir uns auf die Schaumstoffnudel, fahren mit den Beinen Fahrrad und machen gemeinsam eine letzte Runde Polonaise durchs Becken.

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