TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Laufen Lernen

Während ich auf den Fahrstuhl warte, schaue ich mir den Stand von Herrn Bürdel von der Firma Textilkunst Bürdel an. Die Schokolade sei immer schnell ausverkauft, erst später finden sich Käuferinnen für die weißblauen Topflappen in den Varianten Residenz, Pfauenauge und Paradiesvogel. Vor dem linken Fahrstuhl klappt eine alte und sehr weiße Frau zusammen und fällt mir in die Arme. Zu viert mit sechs Krücken und einem Rollstuhl schieben wir den Stuhl von der Telefonkabine zu ihr, wedeln mit dem Terminheft Luft und beruhigende Worte. Keiner kommt. Ich gerate in Panik, Krücke nach vorne. Die Frau an der Anmeldung telefoniert nach der Dienstschwester, die versucht, mich zu beruhigen: „Wenn sie pfeifen können, haben Sie keinen Schlaganfall.“ Achso. Nach ein paar Minuten kommen endlich zwei Krankenpfleger und tragen die weiße Frau weg. Am nächsten Tag ist wieder Molly Mode dran mit Wäsche und Textilien, übermorgen Floristik, Karten, Puppen und dann wieder Keramik – „für alles, was sie nicht brauchen“ wird später Klinikleiterin Frau Haase erklären.

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  Als ich zu meinem Zimmer an der Tür von Zimmer 206 vorbeigehe, fällt mir eine große grüne Pappsechs auf. Von der Schwester erfahre ich, dass der Patient sich immer verlaufen hat und deshalb die Sechs an der Tür klebt. Am nächsten Morgen wartet er vor seiner Tür und fragt: „Ist heute Mittwoch?“ Das fragt er mich jeden Morgen, fragt nach dem Mittwoch, noch vor dem Frühstück. Zwei Wochen später ist die grüne Pappsechs nicht mehr da. Mein Zimmer ist wie alle anderen schlicht und funktional eingerichtet. Ein schmales Bett, Tisch, Sessel und Fernseher; nur das Behagen der im Klinikprospekt angepriesenen „behaglichen“ Einzel- und Doppelzimmer bleibt draußen. Klinikspezifischen Komfort bieten zwei Metallhalterungen neben dem Bett für die UAGs – die Frau am Empfang hatte mich bereits aufgeklärt: wir sagen hier nicht Krücken, sondern Unterarmstützen, also UAGs. Auf Nachfrage bekomme ich noch einen Duschstuhl. Auch bin ich dankbar für den kleinen Wandvorsprung, der sich wunderbar eignet zum Aufstützen und zum Abstellen von Desinfektionsspray, Wasserflasche, Thrombosespritzen, Tabletten und Badesachen. Allerdings wird dort nicht geputzt, wenn Sachen draufliegen. Die Stationsschwester erklärt: „Ganz wie Sie wollen. Sie können das selbst entscheiden. Sachen ablegen und schmutzig oder keine Sachen und sauber. Auch ob Sie fernsehen wollen, können Sie jeden Tag neu entscheiden.“ Ich blicke auf ein grasbewachsenes Flachdach, dahinter liegt der kleine Klinikpark und eine Wiese mit Birken und links Kiefern. Ein Kiesweg schlängelt sich um weiße Parkbänke, vernachlässigte Kräuterbeete und verfrorene Apfelbäumchen. Sogar eine Ente fliegt vorbei. Auf dem Flur Schritte mit Krücken, also UAGs, auf weichem Bodenbelag. Klick, humpf, klick, humpf, klick, humpf. Patienten, die nur noch eine Krücke brauchen, sind die heimlichen Stars der Klinik.

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