Die Geschichte von der Frau, die ihr Nein sehen wollte.
Es war am Abend ihres 5. Geburtstages, als sie zum ersten Mal bemerkte, dass sie ihr Nein nicht sehen konnte.
„Willst Du noch ein Stück von dem Kuchen?“ – hatte ihre Mutter gefragt, während sie mit dem Finger auf das Tablett zeigte, auf dem noch ein einziges Stück lag, das von dem bunten Nachmittag mit den anderen kleinen Gästen aus der Vorschulgruppe übrig geblieben war.
Das Mädchen fühlte sich satt und zufrieden und antwortete: „Nein. Kein Stück Kuchen.“
Aber nachdem Sie das ausgesprochen hatte, lauschte sie ihren Worten noch eine Sekunde hinterher und bemerkte dabei, dass sie kein Stück Kuchen nicht sehen konnte.
Sie sah das letzte Stück Kuchen, aber das Stück mit dem Nein sah sie nicht.
Ein kleiner Schreck durchfuhr sie, deshalb sagte sie noch einmal: „Kein Stück Kuchen.“ Und sah noch einmal auf das Tablett und dann mit fragenden Augen die Mutter an. Die Mutter wickelte das Tablett in eine Tüte, stellte es in den Kühlschrank und sagte:
„Gut, dann heben wir es auf.“
Dann klingelte das Telefon.
Als die Mutter aus der Küche zum Apparat gegangen war, öffnete das Mädchen noch einmal den Kühlschrank, hob die Tüte von dem Tablett etwas an und sah: Ein Stück Kuchen. Also flüsterte sie noch einmal in den Kühlschrank:
„Kein Stück Kuchen.“
Aber kein Stück Kuchen zeigte sich nicht.
Auch nicht, als sie es mit dem Lichtknopf der Kühlschranktür kurz dunkel und wieder hell werden lies, um dem Stück mit dem Nein eine Gelegenheit zu geben.
Nach dem Zähneputzen, als sie im Bett lag, vermutete sie, dass sie kein Stück Kuchen womöglich schon vorher gegessen hatte, oder jemand ihrer Gäste. Oder sie würde es morgen finden. Lies es dabei bewenden und schlief ein.
Am nächsten Tag am Frühstückstisch fragte die Mutter sie: „Willst du vielleicht ein Stück Kuchen? Und Lina, das Mädchen, beantwortete die Frage mit einem deutlichen: „Ja. Ein Stück Kuchen.“
Die Mutter ging an den Kühlschrank, holte das Tablett hervor, nahm die Tüte ab und sagte überrascht: „Da ist kein Kuchen.“
Und hielt das Tablett, auf dem kein Stück Kuchen lag, dann dem Vater, der auch mit am Tisch saß, dicht unter die Nase.
Der Vater sagte: „Ja, ich hab’s gegessen. Abends noch.“ Lina wiederholte, was die Mutter sagte: „Da ist kein Kuchen.“ Und konnte es wieder nicht sehen, das Stück, das nicht da war.
Der Vater sagte: „Ich hab’s gegessen, geb’s ja zu.“
Lina schaute das leere runde Tablett und dann den Vater an und wiederholte, diesmal aber in fragendem Ton: „Ist da kein Kuchen?“ „Nein,– sagte der Vater kleinlaut – „ich hatte gestern plötzlich einen Mords Appetit, entschuldige Liebes.“ – und zeigte verlegen auf seinen Bauch.
„Na, eine Entschuldigung ist ja wohl das Mindeste.“ – sagte die Mutter.
Lina war es zufrieden. Ihre Frage war damit vorerst beantwortet.
Obwohl sie an dem Vormittag noch etwas grübelte. Wahrscheinlich konnte man das Stück mit dem Nein erst sehen, wenn man erwachsen war.
Der Nachmittag kam, der Abend, und dann ein paar Jahre. Und immer wenn sie ein Tablett sah, auf dem kein Kuchen lag, ein Baum, an dem keine Äpfel hingen, oder ein Fensterbrett, auf dem kein Flamingo saß, freute sie sich auf ihren 18. Geburtstag, an dem sie, das hatte sie herausgefunden, offiziell erwachsen sein würde und eine riesige Vase geschenkt bekäme, in der Keine Blumen standen.
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