TEUTONIKA – Leben in Deutschland

Der gepflegte gutbürgerliche Widerspruch – Nachschrift.

Tatsächlich kann man es ja einem öffentlichen Medium nicht verübeln, dass es den gepflegten gutbürgerlichen Widerspruch nach den gleichen Gesetzen organisiert, nach denen auch im unbeobachteten Alltag Aufmerksamkeitshaushalte gemanagt werden. Möglicherweise hat das ja mit einer uralten Konditionierung zu tun. Ich meine hier den Appetit.
So erwarte ich persönlich von einem gepflegten Frühstücksbrötchen, dass es eben innen nicht so fest, so knusprig, so unangreifbar „rüberkommt“, wie es sich seinem äußeren Anschein, seiner härteren Kruste nach, zeigt. Von einem gepflegten Brötchen erwarte ich den gutbürgerlichen Widerspruch. Den Kontrapunkt. Nämlich: Außen knusprig fest. (nicht zu fest) Innen schön weich. Anders herum ergäbe es mindestens eine Irritation. Auch der innen zarte Braten darf sich in seinen Randzonen keinesfalls als solcher zu erkennen geben. Im Gegenteil: Er soll die bekannte leckere Kruste zeigen.
Dem Hineinbeißen muss also immer ein leichter Gestus von Eroberung, von krachender und knuspriger Überwindung gegönnt und konstruiert sein.
Dem gegenüber scheint der zu leichtfertige Heißhungerbiss etwa in einen Pfirsich immer als etwas gewagt. Da muss man aufpassen. Von einem Pfirsich weiß man, dass auch er den gepflegten gutbürgerlichen Widerspruch liefert, nur eben umgekehrt: Außen weich und innen ein brutal harter Kern.
Es könnte also sein, dass ein bestimmter kommunikativer Habitus, den gutbürgerlichen Widerspruch als eine Zubereitungskunst der Mitteilung importiert hat aus einem viel älteren vorsprachlichen Zusammenhang. Dem der Ernährung.

„Verona ist eigentlich gar nicht so doof, wie sie sich und uns eine Zeit lang inszeniert hat, und wie wir es beinahe wirklich schon gedacht haben, sondern eben doch ganz anders – nämlich: eine erstaunlich kluge Frau.“

Es geht hier nicht um Verona, sondern um den Charakter der Mitteilung. Brötchen oder Pfirsich?

Andersherum: „Verona gibt zwar die luftige, verspielte Person, aber eigentlich, innen drinnen, ist sie eben ganz anders, eine knallharte und kühl kalkulierende Managerin ihres Images.“ Diese Mitteilung wäre ein Pfirsich.

„Mallorca ist eben nicht einfach nur Ballermann und Schinkenmeile, sondern es hat im Grunde, wenn man näher hinsieht, wenn man wirklich mal richtig hinein beißt, ein erstaunlich authentisches, romantisches, geradezu unberührtes, überraschend verträumtes Hinterland.“ Brötchen oder Pfirsich?

„Im netten Gärtner steckt der Mörder“ – Pfirsich.

„Der Böse ist nämlich eigentlich der Gute.“ – Brötchen.

„Männer – außen hart und innen ganz weich“ – Brötchen

„Das nette Gesicht täuscht.“ – Pfirsich.

U.s.w.

Im Grunde ist ja gegen den gepflegten gutbürgerlichen Widerspruch gar nichts einzuwenden. Ich denke mir, vor ein paar Jahren, sagen wir so vor ein paar 10 000 Jahren, war es überlebenswichtig, sich innerhalb der Umwelt unter dem Vorbehalt des Verdachts, also sensorisch und in der Sprache kontrapunktisch zu orientieren. Ein unbedachtes Ergreifen oder Hineinbeißen in etwas Vorgefundenes konnte Verletzung oder den Tod bringen. Deshalb war die Empfindung und die voraus schauende Konstruktion des Widerspruchs sehr wohl notwendig.
Dieser Pilz da sieht zwar appetitlich aus, bewirkt aber leider Atemlähmung. Der Fisch da, der sich so weich und geschmeidig, geradezu glitschig inszeniert, enthält sehr unangenehme widerständige Gräten, an denen man ersticken kann.
Andererseits dürfte die umgekehrte Erfahrung ein sehr erhabenes Gefühl bewirkthaben: Dieser stachlige Kaktus da, der so abweisend gestaltet dasteht, hat, weil ich ihn trotzdem angebohrt habe, weil ich mich von seinem Äußeren nicht habe einschüchtern lassen, hat mir also in der Wüste Wasser gespendet und mein Leben gerettet. Der scheinbar so abweisende unrasiert pieksige und dubios ungesellig dastehende Solitär und Wüstenbewohner hat sich mir als total netter Sukulentenkumpel geradezu geöffnet und mir sein Innerstes geschenkt. Das Leben spendende Wasser. Siehste, man muss ihn nur zu nehmen wissen. Wer hätte das gedacht. Solche Dinge waren einmal echte Neuigkeiten, Informationen und blieben im Gedächtnis. Haben sich dort eingebrannt und wurden weitergegeben.
Und weil sich irgendwann mal irgendjemand überwunden hat, dieses hässliche graubraune Ding da zu verzehren, muss ich nicht verhungern, sondern bekomme heute feist dampfenden goldgelben und butterweichen Kartoffelbrei. Man muss halt nur bissel schälen. Wer hätte das gedacht. Die Welt steckt voller Überraschungen.
In diesem Zusammenhang macht der Kontrapunkt, der gepflegte gutbürgerliche Widerspruch, absolut Sinn. Ich erkenne ihn als archaisches oder informell konditioniertes Modell, der Art und Weise, wie ich mir (und vielmehr noch meine Vorfahren) eine Wirklichkeit sensorisch und denkerisch zurüste, so dass ich in ihr überleben kann. Und darum geht es immer zuerst.
Die philosophische Diskussion, ob es denn überhaupt so etwas wie eine für alle verbindliche Wirklichkeitserfahrung gibt oder nicht gibt, erübrigt sich für den Diskutanten in dem Moment, in dem ein solcher Diskutant einen Pilz verspeist, den er eigentlich besser hätte stehen lassen sollen, auch wenn er noch so appetitlich aussieht. Wohlgemerkt: Die Diskussion hat sich für ihn erübrigt, aber nicht stellvertretend für alle erledigt.
Aber egal.
Da wir uns heute zum größten Teil nicht mehr in einer spontan vorgefundenen Umwelt bewegen, sondern in einer Kulturlandschaft, in der alles, fast alles, hergestellt und bereits künstlich zugerüstet sich darbietet, hat der ernährungsbedingte und überlebenswichtige Vorbehalt, dass ETWAS NICHT SO SONDERN EBEN GANZ ANDERS IST, seine sinnvolle Referenz verloren. Und damit seine informative Brisanz. Geblieben ist der Reflex, der etwas erhellen möchte, das nicht mehr da ist, eine Taschenlampe ohne Dunkelheit, oder ein loses Scharnier, an dem wir immer noch viele unserer Mitteilungen einhängen wie eine Tür in einen freistehenden Türrahmen, die zwar noch kontrapunktisch auf und zu klappt, der aber das Zimmer fehlt.
Und geblieben ist, oder geradezu in seiner Bedeutung verstärkt hat sich – der Genuss. Der kulinarische Reflex. Das Hochgefühl, dem im Grunde auch eine erotische Komponente anhaftet. Erst was ich mir aktiv zurüste und informell erobert habe, verdient mein volles Vertrauen, meine vitale Zuwendung. Wenn die Geste der Eroberung nicht gewährt wird, das Knuspern und Knabbern, das Anbohren und Schälen, wenn das Brötchen sich morgens ganz zuerst nicht leicht knusprig und haptisch widerständig am Zahn aufspielt, dann muss irgend etwas faul sein. Es schmeckt mir dann auch nicht. Dann lappert es vor sich hin, eben nur weich oder irgendwie misslungen und es macht keinen Spaß, da hinein zubeißen. Unknusprig. Unknackig. Kaum wahrzunehmen. Schließlich will man doch beißen! Schließlich hat man noch Zähne! Auch wenn das Brötchen einfach nichts weiter will und auch nichts weiter ist, als eben nur ein bisschen lappig, steht es unter Verdacht, trifft es die ganze Härte meiner Ignoranz. Und hat nichts ans limbische System zu melden. Anders ausgedrückt: Eine Mitteilung, die nicht auch gelogen sein kann, interessiert mich nicht. (Die Räder des Autos reichen bis auf die Straße…buahh.)
Und der Pfirsich? Diese immer noch allzu vordergründig unkompliziert weich, saftig und scheinbar schnell zu erobernde Fruchtfleischkugel? Da weiß man um die dentale Gefährdung, der man sich hier mit einem allzu unbedachten Hineinbeißen ausliefert. Nie kann man wissen, wie hart und groß der Kern ist. Freundliche Schale, brutaler Kern. Der typische Massenmörder der Jackettkronen. Bei einem guten Brötchen dagegen weiß man: Hat es geknuspert, ist der Widerstand gebrochen und ich stoße auf das Weiche, Nahrhafte, Gute. Die dünne Kruste war mir Genuss und kleine Lüge, die ich der inneren tiefer liegenden Wahrheit wegen gerne durchbissen habe. Knuspernd. Genießend. Den Biss bestätigend. Die Eitelkeit des Beißens.
Der intelligente Mensch wird natürlich immer für sich in Anspruch nehmen, dass er diese Mechanik durchschaut hat und – wie es so schön heißt – differenziert empfindet. Und der Volksmund weiß ja sowieso: Die Wirklichkeit ist nicht schwarz oder weiß, hart oder weich, sondern die Wahrheit liegt in der Mitte, den Medien darf man eh nicht trauen, und gerade die Presse hat vom Volksmund gelernt, in dem sie ganz aufgeklärt von der Komplexität der Vorgänge berichtet. Kaum ein Medium, dass heute noch der Bequemlichkeit des allzu simplen Kontrapunkts unreflektiert nachgibt. Medienkritik und Selbstbeobachtung, Vorstoß und Zurücknahme, Behauptung und Dementi gehören zum Kerngeschäft der Medien selbst. Deshalb ist es im Grunde völlig unangebracht, sie selbst wieder unter Verdacht zu stellen. Ereignis plus Medium plus Kritik plus Verschwörungstheorie gehören der selben Wirklichkeit an. Die Differenzen sind infinitesimal – schweres Wort – klein. Was sie nicht weniger real macht. Im Gegenteil. Selbstverständlich gehört diese Wirklichkeit im Zweifelsfall immer den Tempelrittern. Und hier verrate ich das eigentliche Geheimnis der Tempelritter: Wir alle gehören diesem Orden an. Die Tempelritter sind wir.
Hört man genau hin, was der Volksmund, die Buschtrommel, die Tempelritter, also wir, also ich, also die Medien, da wieder gesagt haben, dann vernimmt man folgendes: Die Wirklichkeit IST GARNICHT SO, eben schwarz oder weiß, hart oder weich, sondern die Wahrheit liegt EBEN GANZ ANDERS, in der Mitte , genau dazwischen also. Aber was ist die Mitte? Der gepflegte gutbürgerliche Widerspruch wird in der nächsten Magazinsendung, im nächsten „jetzt aber wirklich mal kritischen und investigativen Beitrag“ nur um eine Stufe weiter ausdifferenziert, verlässt aber die kontrapunktische Klipp-Klapp – Automatik nicht. Und so sitzt der nächste Widerspruch, das nächste Dementi bereits vorm Schlagbolzen wie bei einer halbautomatischen Gasdrucklader-Pistole. Der Abschuss der letzten Fakten-Patrone erzeugt einen kontrapunktischen Dementi-Rückstoß, der das nächste Fakten Projektil schon wieder scharf vor den Lauf hebt. Wer hätte das gedacht.

Aber wer will schon in ein Brötchen beißen, das weder hart noch weich ist und dessen Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt? Wo bleibt da der Genuss? Ich werde also noch eine Weile den gepflegten bürgerlichen Widerspruch gutheißen.
Es bleibt dabei: Verona ist gar nicht so doof. Sie ist aber auch nicht vordergründig intellektuell. Sie ist aber auch nicht einfach nur irgendwie verspielt. Da soll man sich mal nicht täuschen lassen. Eine nur kühle berechnende Strategin ist oder war sie aber auch nie. ES IST GARNICHT SO, SONDERN EBEN GANZ ANDERS. Die Lage im Libanon, im Irak, im Polarmeer, im Bundeskanzleramt, bei den Koalitionsverhandlungen, in meinem und deinem Bett etc. zeigt sich komplex, differenziert – sagen wir: Prozessual diffus. Geheimnisvoll. Ergo: Immer wieder gut für die nächste Meldung, die nächste Wende, den nächsten Widerspruch, den nächsten Kontrapunkt, den nächsten Verdacht, dass ALLES GAR NICHT SO, SONDERN…..
Es lebe der gepflegte gutbürgerliche Widerspruch als sich selbst ernährendes System. Es leben die Tempelritter. Es lebe die Wirklichkeit. Es lebe das Brötchen Es lebe der Pfirsich. Es lebe der Kaktus. Es lebe das Leben.

Aber davon darf man sich jetzt auch wieder nicht täuschen lassen. Nichts scheint verführerischer als ein alles vermengender Relativismus, der alles und jedes in eins setzt. Das ist kein Spiel. Alles was passiert, muss nach wie vor tot ernst genommen werden. Kann reelle Schmerzen oder Freude verursachen. Immer schön an die Zähne denken. Und im Zweifelsfall ein Messer nehmen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass alles ganz anders ist. Die Lage ist gar nicht so komplex, sondern viel einfacher, dramatisch einfacher als man immer denkt. Es fällt eben nur schwer, sich andauernd umzugewöhnen.

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